Donnerstag, 02. Mai 2024

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Norbert und Stephan Lebert: Denn Du trägst meinen Namen. Das schwere Erbe der prominenten Nazi-Kinder.

Dass die Vergangenheit nicht mit denen stirbt, die sie durch ihr Handeln prägten, dafür ist die nächste Neuerscheinung in unserer Sendung ein beeindruckendes Beispiel. - ein Buch, mit dem der Kisch-Preisträger Stephan Lebert ein Projekt fortführt, das sein Vater, ebenfalls Journalist, in den fünfziger Jahren begonnen hatte. Norbert Lebert hatte sich damals auf die Suche nach den Kindern prominenter Nationalsozialisten gemacht, um durch Gespräche mit ihnen ihren Lebensweg zu dokumentieren - und die psychischen Deformationen, unter denen die Nachkommen von Heß, Bormann, Frank oder Himmler oftmals litten. Ergänzt durch aktuelle - manchmal arg psychologisierende Texte - Stephan Leberts, ist diese Sammlung aus Reportagen von einst und jetzt in Buchform erschienen. Brigitte Beatz rezensiert.

Brigitte Baetz | 15.01.2001
    "Er hätte immer noch so viele Fragen. An ihn. Das wäre sein größter Wunsch: ihm diese Fragen stellen zu können. Für ihn wäre das so, wie wenn man ein Orakel befragen könnte, ja, fast einen allwissenden Gott, der alle Fragen aus dem Weg räumt. Denn mehr kann man einen toten Vater nicht lieben, verehren, bewundern, als er es tut."

    Wolf-Rüdiger Heß, der Sohn des Stellvertreters des 'Führers', kommt von seinem Vater nicht los, einem Vater, den er nur aus Besuchen im Militärgefängnis der Alliierten in Spandau kennt. Nie konnte er mit seinem Vater allein sein, jeglicher Körperkontakt, auch ein Händeschütteln, war verboten, ebenso Gespräche über Politik, also auch über die Vergangenheit des Vaters. Rudolf Heß ist in den Augen seines Sohnes ein Held, alle anderen, die dies bestreiten, Verschwörer oder Dummköpfe. So wie Wolf-Rüdiger Heß sein halbes Leben lang dafür kämpfte, seinen Vater aus dem Gefängnis zu holen, so sehr bemüht er sich heute, nachzuweisen, dass der Selbstmord des damals 93jährigen in Wirklichkeit ein Mord war. Wolf-Rüdiger Heß ist kein Einzelfall, kein sonderbarer Einzelgänger, der einen Kampf gegen Windmühlen führt. Kaum ein Kind aus der Clique der ehemaligen Nazigrößen konnte sich von seinen Eltern lösen, konnte gleichgültig bleiben gegenüber ihrem Schicksal - im Guten wie im Bösen.

    "Von Euch werden die meisten wissen, was es heißt, wenn 100 Leichen beisammen liegen, wenn 500 daliegen oder wenn 1000 daliegen. Dies durchgehalten zu haben und dabei - abgesehen von Ausnahmen menschlicher Schwächen - anständig geblieben zu sein, das hat uns hart gemacht. Dies ist ein niemals geschriebenes und niemals zu schreibendes Ruhmesblatt unserer Geschichte."

    Heinrich Himmler am 4. Oktober 1943 vor SS-Gruppenführern in Posen. Der sogenannte Reichsführer SS gilt als einer der größten Massenmörder in der Geschichte der Menschheit. Seine Tochter Gudrun glaubt bis heute an seine Unschuld. Als der Journalist Norbert Lebert sie 1959 traf, war sie fest entschlossen ein Buch über ihren Vater zu schreiben, das ihn rehabilitieren sollte. Dieses Buch ist nie erschienen, aber bis heute ist Gudrun Burwitz, wie sie seit ihrer Heirat heißt, in der "Stillen Hilfe" aktiv, einer Organisation, die unter anderem alte KZ-Aufseher finanziell unterstützt. Norbert Lebert hatte 14 Jahre nach Kriegsende über den Lebensweg der Kinder ehemaliger Nazifunktionäre berichtet. Sein Sohn Stephan, ebenfalls wie sein Vater Journalist, suchte weitere 40 Jahre später die gleichen Menschen noch einmal auf, nachdem er die Manuskripte seines Vaters gelesen hatte:

    "Ich bin 1961 geboren und erinnere mich, dass in meiner Familie häufig von dieser Serie geredet wurde. Um den Inhalt ging es dabei nur vage. Mein Vater hat von all den Gesprächen nur über das mit Gudrun Himmler gesprochen, der Tochter von Heinrich Himmler, die ihren Vater so abgöttisch geliebt hat. Er sagte, er habe lange gebraucht, bis dieses äußerst misstrauische Mädchen ein wenig Vertrauen zu ihm gefasst hatte. Sie habe ihm Leid getan, wie sie so schmal und durchsichtig während ihrer Gespräche vor ihm saß. Und mein Vater sagte dann immer: "Ich hätte sie damals so leicht in die Pfanne hauen können. Aber ich wollte das nicht."

    Norbert Lebert, Jahrgang 1929 und begeisterter Hitlerjungenführer, erinnerte sich nur zu gut, dass er das Jahr 1945 nicht als Befreiung, sondern als Niederlage erlebt hatte. Für ihn gab es keinen Zweifel, dass er, wäre der Krieg anders ausgegangen, als Nazi Karriere gemacht hätte. Für seinen Sohn Stephan ist allein der Gedanke daran schrecklich, vor allem, nachdem er nicht nur Wolf-Rüdiger Heß, sondern auch Niklas Frank, Martin Bormann und Klaus von Schirach kennen gelernt hat. Der Sohn des Generalgouverneuers von Polen Niklas Frank beispielsweise ist den entgegengesetzten Weg wie die Kinder von Heß und Himmler gegangen. Er hasst seinen Vater - und kommt auch gerade deswegen nicht von ihm los. In einer aufsehenerregenden Artikelserie hatte er in den 80er Jahren mit ihm abgerechnet, aber befreit hat ihn diese Seelenbeichte nicht.

    "Niklas Frank erzählt die Geschichte seiner Schwester Brigitte, die mit 46 starb. Die Familie geht davon aus, dass es Selbstmord war. Immer hatte sie gesagt, sie möchte nicht älter werden als der Vater, davon war sie besessen. Der Vater wurde mit 46 gehenkt. Er erzählt die Geschichte seines Bruders Michael. Er starb im Alter von 53 Jahren. "Er war mal ein so hübscher Junge", sagt Niklas Frank und lacht, ‚ein richtiger Adonis‘ Politisch war er rechts, ganz rechts, er wollte nichts von der Kritik am Vater wissen. Im Gegenteil: Er engagierte sich sogar bei der NPD. Doch dann fing er an zu saufen. Nein, keinen Alkohol - es war Milch. Mehr als zehn Liter am Tag.(...) Er starb am völligen Versagen sämtlicher Organe."

    Für Niklas Frank sind seine Geschwister am Vater zugrunde gegangen, den sie nicht loswurden und den er und sein überlebender Bruder nicht loswerden. Auch Martin Bormann, ältester Sohn des berüchtigten Reichsleiters mit gleichem Namen, ist seinem Schicksal nicht entkommen, auch wenn er ganz anders damit umgegangen ist. Er wurde katholischer Missionar, später Religionslehrer und hält jetzt, als Rentner, in Schulen Vorträge über die Gefahren des Nationalsozialismus. Für ihn bietet der christliche Glaube die Möglichkeit, seinen Vater weiterhin zu lieben, obwohl er seine Taten zur Kenntnis genommen hat und sie verabscheut.

    " Wie geht es ihm eigentlich, wenn in fast sämtlichen Dokumentationen oder Büchern der Vater immer als die pure Ausgeburt des Bösen geschildert wird, als charakterlos, brutal, intrigant, zu jeder Schandtat bereit? Ich frage ihn das und bin von seiner Reaktion überrascht. Zu kontrolliert wirkte er die ganze Zeit über, zu gefestigt, zu souverän. Jetzt ist er berührt, kurz sieht es so aus, als würde er die Fassung verlieren. Seine Hände greifen ineinander. Er zieht den Geldbeutel aus der Hosentasche. Nimmt eine alte, vergilbte Postkarte heraus, ein paar Worte drauf, vom Vater geschrieben, im Jahr 1943. Schauen Sie, sagt er. Er hat jetzt Tränen in den Augen. ‚Mein Herzensjunge‘, steht da geschrieben. ‚Hoffentlich kann ich dich bald wieder sehen. Dein Vati.‘ Verstehen Sie, sagt Bormann, das ist das Bild, was ich habe, als sein Kind, das lasse ich mir nicht nehmen."

    Deutsche Geschichte als Familientragödie – diesmal die der Familien der Täter. Natürlich gibt es auch Ausnahmen. Die Söhne des Reichsjugendführers Baldur von Schirach beispielsweise vermochten sich sehr gut in der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft zu etablieren und auch von Edda Göring, die sich keinem neuen Interview stellen mochte, mag man sich kaum das Bild einer sich selbst zerfleischenden, geplagten Seele machen. Dennoch: die Geschichte des Dritten Reiches wirkt in den Nachkommen weiter, auch wenn sich nur die Träger der einst einflussreichen Namen ihrer Vergangenheit wirklich stellen mussten. Denn diese Auseinandersetzung wurde ihnen von ihrer Umwelt abverlangt. Doch was ist mit denen, die sich nie der Vergangenheit ihrer Familien stellen mussten? Und was sagt es über eine Gesellschaft aus, wenn die Generation der Täter und der Mitläufer von ihren Kindern nicht zur Rechenschaft gezogen wurden? Wer seine Vergangenheit nicht kennt, ist gezwungen, sie zu wiederholen, heißt es in der Psychologie. Das vorliegende Buch über Väter und Söhne, über Väter und Töchter, wirft das Problem der unbewältigten deutschen Vergangenheit einmal mehr auf, ohne sie beantworten zu können oder zu wollen. Leider gleitet die Sprache des ‚jungen‘ Stephan Lebert im Vergleich zu den Artikeln seines Vater Norbert Lebert manchmal etwas zu sehr in journalistische Effekthascherei ab, wird ein wenig zu oft von Düsternis und Abgrund – fast möchte man sagen – schwadroniert. Doch das ändert nichts daran, dass der Leser anhand der Lebensläufe von Kindern und Eltern ein Bild von der auch selbst-zerstörerischen Kraft des Nationalsozialismus gewinnt, das er aus diesem Blickwinkel noch nicht kannte.

    Brigitte Baetz über : Norbert und Stephan Lebert : Denn Du trägst meinen Namen. Das schwere Erbe der prominenten Nazi-Kinder. Blessing-Verlag München, 223 Seiten, Preis 42,- Mark.