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Nord- und Ostsee
Tickende Zeitbomben auf dem Meeresgrund

Wird irgendwo in der Stadt eine Fliegerbombe aus dem 2. Weltkrieg entdeckt, ist die Aufregung groß, müssen Tausende ihre Häuser verlassen. Was auf dem Meeresgrund vor sich hin rostet, ist aber ebenso brisant: 1,6 Millionen Tonnen Kriegsmunition. Experten warnen: Immer mehr Bomben und Granaten könnten Inhalte wie hochgiftiges TNT freigeben.

Von Silke Hasselmann | 16.05.2017
    Spezialisten der Marine sprengen am 09.03.2010 auf der Ostsee vor Eckernförde eine Mine.
    Munition aus dem Zweiten Weltkrieg ist am Meeresgrund eine tödliche Gefahr. Hier wurde von der Marine auf der Ostsee vor Eckernförde eine Mine gesprengt. (picture alliance / dpa - Carsten Rehder)
    Die Ostsee ist das kleinste Weltmeer. Doch nirgends lagern mehr konventionelle, also explosionsfähige Kampfmittel als dort, berichtet Uwe Wichert aus Kiel. Schon als Marinesoldat war er Mitglied der schleswig-holsteinischen Arbeitsgruppe "Munition im Meer". Nun pensioniert, recherchiert Uwe Wichert weiter in internationalen Archiven, um herauszufinden, wo genau in der Ostsee wie viel Altlastenmunition liegt. Recht klar sei das Bild bei den Minen:
    "Wenn man das alles zusammennimmt von Skagerrak bis St. Petersburg, dann sind dort über 179.000 Tonnen Minen aus den beiden Weltkriegen und auch schon aus dem Krim-Krieg. Alles andere - wie viel Bomben, wie viel Torpedos, wie viel Munition auch nach, den Kriegen ins Wasser gebracht worden ist -, das ist mit mehreren Fragezeichen versehen."
    1,6 Millionen Tonnen Kriegsmunition in der Ostsee
    Immerhin kommen auch in diesem Bereich immer mehr Erkenntnisse zusammen. Das wurde auf der Konferenz im Institut für Ostseeforschung Warnemünde deutlich, die von mindestens 1,6 Millionen Tonnen ausgeht.
    So gibt es endlich eine Geo-Datenbank, die alle Munitionsfunde und die bereits bekannten Lagerplätze auflistet - von der Lübecker Bucht bis zum Salzhaff vor Mecklenburg-Vorpommerns Küste. Extrem viel Altmunition lagert in Sperrgebieten, wo diverse Armeen über 150 Jahre lang Schießübungen, Manöver, Kriege durchgeführt hatten, oder wo - wie nach dem 2. Weltkrieg - Munition in großem Stil vor den Deutschen sichergestellt werden sollte.
    Forscher: "Viel Munition liegt auch außerhalb jener Speergebiete"
    Das Problem, so Jens Greinert vom Helmholtz-Zentrum GEOMAR in Kiel: Viel Munition liegt noch immer auch außerhalb jener Speergebiete, die in den Seekarten eingezeichnet ist. Denn damals seien Fischer angeheuert worden, Bomben und Granaten im Meer zu verklappen.
    "Das war nach 1945. Da haben die Alliierten gesagt: Ok, es gibt wohl fünf Sperrgebiete in Ost- und Nordsee, wo die Munition verklappt werden sollte. Und da hat man den Fischern gesagt: `Ihr fahrt da von hier aus hin. ´ Das war aber vor GPS. Das heißt, der Fischer konnte immer gar nicht so genau da hinfahren, wo er hinfahren sollte."
    TNT lagert sich in der Leber von Meerestieren ab
    Alles rostet auf dem Meeresgrund vor sich her, und die davon ausgehende Gefahr für Mensch und Umwelt könnte größer sein als bisher angenommen. Denn mit der Zeit trete das im Schießpulver enthaltene TNT aus, sagt Prof. Greinert.
    Der Experte für marine Biologie koordiniert das Projekt UDEMM, das sich seit einem Jahr mit dem Umweltmonitoring während der Zersetzung von Altlastenmunition in der Ostsee befasst.
    "Das TNT ist eben auch giftig und besonders die Umsetzprodukte, die Metaboliten. Die stehen auch im Verdacht, dass sie karzinogen sind, und wir wissen - das haben unsere Experimente gezeigt -, dass sie zum Beispiel durch Muscheln aufgenommen werden. Wenn man das durch Muscheln aufnimmt, dann gibt es auch Fische, die die Muscheln fressen und Menschen, die die Fische essen. Und so kann das eigentlich die Nahrungskette hochwandern."
    Wobei sich das TNT nicht im Fleisch der Meerestiere ablagere, sondern in der Leber. Das Hamburger Thünen-Institut für Fischereiökologie berichtete nun auf der Konferenz, dass man eine Plattfisch-Art in einem besonders munitionsbelasteten Bereich der Kieler Außenförde untersucht habe. Ergebnis: 25 Prozent der Fische wiesen Lebertumore auf. In drei Vergleichsgebieten in der Ostsee habe die Tumorrate bei unter fünf Prozent gelegen.
    Forscher: "Die Munition löst sich immer weiter auf, indem die Metallhülle einfach wegrostet"
    Für viele seiner Kollegen sei es noch zu früh, einen direkten Zusammenhang zwischen Krebs und TNT aus den rostenden Bomben herzustellen, sagt Jens Greinert, der vor allem im Sperrgebiet Kolberger Heide forscht. Außerdem sei richtig, dass die Konzentration von TNT im Pikogramm-Bereich liege. Schließlich löse sich der giftige Stoff in der riesigen Ostsee auf.
    "Es sind homöopathische Konzentrationen. Dennoch sind sie da."
    Das Problem: Es gibt keine Schwellenwerte als Handreichung dafür, ab welcher Konzentration TNT und seine Abbauprodukte gesundheitsschädlich wirken. Und so gilt aus seiner Sicht zwar weiterhin:
    "Jeder kann weiter in der Ostsee schwimmen. Ein Schluck Ostseewasser hat, glaube ich, noch keinem geschadet. Die letzten 70 Jahre sind ja nun die Leute nicht mit ´ner TNT-Vergiftung an Land gekommen und haben gesagt: 'Ich weiß gar nicht, was mit mir los ist!' Das Problem ist aber, dass wir sehen, dass sich die Munition immer weiter auflöst, indem die Metallhülle einfach wegrostet. Und irgendwann werden alle aufgelöst sein. Vielleicht nicht in fünf oder zehn Jahren, aber in zwanzig, dreißig, fünfzig Jahren. Das Problem geht nicht weg. Und wir müssen wissenschaftlich fundierte Grundlagen haben, auf deren Basis wir sagen können: Ok, die Konzentration wird dann wahrscheinlich so und so hoch sein. Das können wir errechnen mit Modellen und nach bestem Wissen und Gewissen. Dann muss man es aber auch kontrollieren. Und dann kann man eigentlich erst sagen: Gibt es eine Gefahr?"
    "Abbaustoffe, die noch giftiger sind als das TNT"
    Denn hinzukomme, dass auch Vögel Muscheln fressen und dass sich das TNT an Mikroplastik-Partikel anlagert, die ihrerseits ein zunehmendes Problem in den Meeren darstellen. Algen wiederum, so eine weitere Erkenntnis, könnten das TNT durchaus verstoffwechseln. Doch dabei entstünden Abbaustoffe, die noch giftiger sind, als das TNT selbst. Die gute Nachricht: Die Forschung geht weiter, und zwar in einem großen Verbund vieler Institute in den deutschen Küstenländern.