Der Terror der Jihādisten-Miliz Islamischer Staat - kurz IS - und deren Vorrücken auf kurdisches Gebiet im Nordirak haben nicht nur die dortigen Kurden in Panik versetzt. Sie haben auch der Frage nach staatlicher Unabhängigkeit des auf vier Länder verteilten Volkes neue Brisanz verliehen. Im Irak und in Syrien haben die dortigen Kurden aufgrund herrschender Kriege und staatlichen Zerfalls Fakten geschaffen und eine gewisse Autonomie erreicht.
Masoud Barzani, seit 2005 Präsident der Autonomen Region Kurdistan im Nordirak, hat kürzlich gegenüber dem Satellitenkanal CNN nicht ausgeschlossen, dass diese Autonomie zur staatlichen Unabhängigkeit führen könnte.
"Vor ein paar Jahren hatten wir ein inoffizielles Referendum über die Frage der Unabhängigkeit Kurdistans. Mehr als 90 Prozent haben sich für Unabhängigkeit ausgesprochen."
Würde der kurdische Nordirak unabhängig, wäre dies das Ende der staatlichen Einheit Iraks. Auch Barzani räumt das ein aber...
"Nach dem Zusammenbruch des Regimes im Jahre 2003 haben die Kurden die Einheit Iraks geschützt. Das haben wir in den mehr als zehn Jahren getan. Der Irak fällt offensichtlich auseinander. Die Zentralregierung hat die Kontrolle über alles verloren. Alles bricht zusammen."
Unabhängiger Staat Kurdistan
Im Norden Syriens - Rojava genannt - kontrolliert die Partiya Yeketiya Demokrat - kurz PYD - das Grenzgebiet zur Türkei und liefert sich Gefechte sowohl mit der Terrormiliz IS also auch mit dem al-Qaida-Ableger Jabhat an-Nusra. Von staatlicher Unabhängigkeit spricht die PYD nicht. Auch nicht von einem vereinten Staat Großkurdistan.
"Ein solches Groß-Kurdistan könne er sich nur es nur als lockere Födration nach dem Vorbild Deutschlands vorstellen, erklärt der PYD-Führer Salih Muslim."
In der Türkei leben Schätzungen zufolge 15-18 Millionen Kurden. Bei der Präsidentenwahl am 10. August ist mit Selahettin Demirtaş ein prominenter kurdischer Menschenrechtler angetreten und hat landesweit fast zehn Prozent der Stimmen bekommen. Demirtaş spricht nicht von einem unabhängigen Staat Kurdistan. Die Zukunft der türkischen Kurden sieht er in der Türkei.
"Ja, wir wollen zusammenleben. Meine Kandidatur ist ein Aufruf dazu. Meine Kandidatur ist das konkrete Zeichen der Kurden nach einer gemeinsamen Zukunft, nach einem Zusammensein. Unser ganzes Streben gilt einem Zusammenleben ohne die Teilung des Landes."
Friedensverhandlungen mit der PKK
1984 hat die Partiya Karkerên Kurdistan - kurz PKK - den bewaffneten Kampf für mehr Rechte der Kurden in der Türkei aufgenommen. Mehr als 40.000 Menschen sind seitdem umgekommen. Mittlerweile verhandelt Ankara mit der PKK über Frieden. Recep Tayyip Erdoğan verspricht den kurdischen Bürgern seines Landes:
"In der Regierungszeit der AKP wurde der Verleugnungspolitik ein Ende gesetzt. Auf unserer Agenda steht nicht Assimilation."
Der Kurs Ankaras in Sachen Kurdenpolitik sei nach wie vor gekennzeichnet von zahlreichen Widersprüchen, urteilt der Publizist Fehim Taştekin.
"Die Türkei erkennt de facto die Rechte der Kurden im Nordirak an. Aber das Überleben eines unabhängigen Kurdistans würde ganz stark davon abhängen, wie dieses Land seine Beziehungen zur Türkei gestaltet."
Keine Liebesheirat, sondern ein Zweckbündnis
Ohne enge Bindungen an die Türkei wäre die Autonome Region Kurdistan im Nordirak in den vergangenen Jahren nicht überlebensfähig gewesen, stellt Fehim Taştekin fest. Ankara ist zum wichtigsten Handelspartner für die Kurden Iraks geworden. Erst kürzlich hat die Türkei eine Pipeline eingeweiht, über die täglich 100.000 Fass Öl aus dem irakischen Kurdengebiet in die Türkei fließen. Die kurdische Regierung in Erbil kommt durch den Verkauf von Öl zu dringend benötigten Devisen.
"Was wäre passiert, wenn aus dem südirakischen Basra Öl in der von Ankara gewünschten Menge und Geschwindigkeit in die Türkei geflossen wäre", fragt Taştekin.
"Wahrscheinlich hätte die Türkei dann keine engen Beziehungen zu Kurdistan aufgenommen und irgendwelche Ölabkommen unterzeichnet."
Dem Irak droht der Zerfall
Die normativen Kräfte des Faktischen bestimmen Ankaras Kurdenpolitik. Der Krieg im Osten der Türkei hat jahrzehntelang jede sinnvolle wirtschaftliche Entwicklung verhindert. Die Beziehungen zu den Kurden im Nordirak sind keine Liebesheirat, sondern ein Zweckbündnis, das sich positiv auf die eigene Kurdenfrage auswirken kann. In vier Ländern leben kurdischen Minderheiten. Einig waren sich Iran, Irak, Syrien und die Türkei in der Kurdenfrage bislang vor allem in einem: es soll und darf keinen unabhängigen Kurdenstaat geben. Die jeweiligen Regierungen dieser vier Länder gingen immer davon aus, dass Abspaltungstendenzen der Kurden auch andere Bevölkerungsgruppen ermutigen und staatlichen Zerfall nach sich ziehen könnte. Dem Irak droht der Zerfall, aber die Hauptschuld daran kommt sicher nicht den Kurden zu.