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"Norma" in Wiesbaden
Rachefantasien einer verlassenen Frau

Dirigent Will Humburg und Regisseurin Gabriele Rech deuten Vincenzo Bellinis "Norma" am Hessischen Staatstheater Wiesbaden auf interessante Weise neu. Bellinis politische Geschichte eines Aufstands interpretiert Rech psychologisch als Innenleben der Titelheldin. Fantasien einer verletzten Frau, die ihrem Leben mit einer Überdosis Medikamenten ein Ende macht.

Von Christoph Schmitz | 20.01.2015
    Natürlich hat Bellinis Oper über die Wut der Gallier gegenüber den römischen Besatzern nichts mit Gallien und Rom zu tun. Da können Bellinis Urfranzosen und ihre keltische Priesterin Norma noch so heftig die Göttin Irminsul anflehen um ein Zeichen zum Aufstand gegen die verhassten Herrscher. Bellinis Oper erzählt im Gewand einer fiktiven Historie vielmehr vom Italien des Risorgimento, als sich ein liberal-demokratisches Bürgertum von der kleinstaatlichen Adelsherrschaft zwischen Palermo und Mailand befreien wollte. Das freiheitliche Aufbegehren hatte der Vatikanstaat zu Beginn noch mit Hilfe österreichischer Truppen niederschlagen können. Verpackt hat Bellini seine politische Stoßrichtung zusätzlich in der Liebes- und Eifersuchtsgeschichte zwischen Norma und dem römischen Prokonsul Pollione. Dieser Pollione will sich von Norma trennen und sich mit dem Tempelmädchen Adalgisa nach Rom davonmachen. Die private, vor allem aber die politische Krise markiert der Dirigent der Premiere, Will Humburg, klanglich auf zupackende Weise. Höchst nervös, extrem angespannt und explosiv beginnt die Ouvertüre.
    Will Humburg am Pult peitscht das Hessische Staatsorchester förmlich auf. Wenn Norma den Verrat ihres Geliebten entdeckt, ihre Leute zum Aufstand ruft und die kriegerischen Massen die Bühne stürmen, dann klingt das Kriegsgeschrei nach Gemetzel. Humburg und seine Musiker kennen aber auch die stillen und zögerlichen Momente der Partitur, ihre Scheu vor Gewalt, ihre Sehnsucht nach Frieden. Diesen changierenden Charakter des Werks, das den patriotischen Elan immer wieder reflektiert und pazifistisch einzudämmen versucht, gestalten die Wiesbadener sehr genau und malen die lyrischen Passagen zudem in weiten Bögen aus, etwa wenn Norma ihr Friedensgebet intoniert. In der Titelrolle die schwedische Sopranistin Erika Sunnegardh.
    "Keusche Göttin, die du mit Silberglanz diese heiligen alten Bäume schmückst, (…) besänftige die glühenden Herzen, besänftige auch ihren wilden Eifer, breite über die Erde den Frieden."
    Erika Sunnegardh trumpft hier nicht groß emotional auf, sie sucht eher eine Innerlichkeit, was aber leider nicht überzeugen kann. Ihr etwas schattierter Sopran ist für diesen letztlich doch vehementen Frauencharakter zu leise, zu wenig dramatisch und zu ungenau, wenn es darum geht, die höchst anspruchsvollen Koloraturlinien zu ziselieren. Auch der Amerikaner Scott Piper ist für die Rolle des Römerchefs Pollione keine glückliche Besetzung. Sein Tenor kommt nicht zum Strahlen, fahl klingt er im Piano. Polliones Geliebte dagegen, Adalgisa, gesungen von der aus Weißrussland stammenden Anna Lapkovskaja, ist der sängerische Lichtblick der Premiere. Farbenreich ist ihr Mezzo. Bis in die letzten Reihen greift er schmeichelnd aus.
    "Beschütze mich, Gott, ich bin verloren."
    Ihre Gefühle angesichts der Erfahrungen mit dem Verführer Pollione spielen Anna Lapkovskaja und Erika Sunnegardh sehr subtil. Und genau darauf, auf ihr Schicksal als missbrauchte Frauen hat es die Inszenierung von Gabriele Rech abgesehen. Rech zeigt mit ihrer "Norma" die uralte und sich immer wiederholende Geschichte von der verkümmerten erotischen Liebe, wenn der Rausch der frühen Jahre vorbei ist, die Kinder großgezogen wurden, der lange Lauf in der Ebene zur Last geworden ist und der Mann sich aus Überdrusjunges Frischfleisch sucht und es findet. In Wiesbaden sehen wir die verlassene Mutter Norma in ihrem schicken modernen Schlafzimmer mit dem viel zu großen, leeren Ehebett. Sie heult und säuft und hängt ihren Gedanken nach, traurigen und hass- und racheerfüllten. Bellinis politische Geschichte eines Aufstands deutet Regisseurin Rech psychologisch klug als Innenleben der Titelheldin. Hinter der durchsichtigen Leinwand eines Riesengemäldes neben dem Bett wird der innere Aufruhr sichtbar. Hinter der Gazebespannung des Gemäldes treten Bellinis Soldaten auf, verkünden den Krieg - alles nur Fantasien der verletzten Frau, die ihrem Leben mit einer Überdosis an Medikamenten ein Ende macht. So vergegenwärtigt und fokussiert die Regie auf interessante Weise eine alte Oper.