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Normale Leben

Die Wortschöpfung "Zweiheimisch" klingt etwas seltsam, aber schnell merkt der Leser eines ebenso betitelten Buches, dass sie passt. Was es bedeutet, in Deutschland mit kurdischen, russischen oder kubanischen Wurzeln aufzuwachsen, davon erzählen die im Buch Porträtierten ganz offen. Bettina Lendzian hat es gelesen.

    "Als ich von der Autorin interviewt wurde, ist es aus mir herausgesprudelt, weil ich es noch nie jemandem erzählt habe. Ich hatte soviel zu erzählen, was ich gar nicht kannte von mir. Ich wusste gar nicht, dass das alles in meinem Unterbewusstsein gespeichert ist und das raus will."

    Nazli Mahjoubi ist eine quirlige 23-Jährige. Sie ist jetzt seit 15 Jahren in Deutschland. Im Iran gehörten ihre Eltern zum harten Kern der Widerstandskämpfer gegen das Khomeini-Regime. Die Familie lebte im Untergrund, musste ständig die Wohnung wechseln. Irgendwann wurden die Angst und die Sorge um die Kinder zu groß. Als Nazli sieben war, kamen sie als politische Flüchtlinge nach Deutschland.

    Nazli lernte hier schnell und kam in der Schule gut mit - und sie wollte sich unbedingt anpassen, erzählt sie im Buch.

    "Wenn ich wieder zu iranisch bin, kann mich wieder keiner mehr leiden. So habe ich damals gedacht. Heute weiß ich natürlich, dass das Quatsch war. Aber es war Quatsch, der meinem mangelnden Selbstbewusstsein entsprang. Was mir allerdings nie etwas ausgemacht hat - ich war sogar fast stolz darauf - war der Vorwurf der anderen Migrantenkinder, ich sei zu deutsch. Weil ich freiwillig zum katholischen Religionsunterricht gegangen bin, haben mich vor allem türkische Mitschüler angemacht."

    Was aber nicht heißt, dass sie sich mit allem Deutschen arrangieren wollte.

    "Ich war nachmittags bei einer Mitschülerin eingeladen. Gegen 18.00 Uhr rief ihre Mutter sie zum Abendessen - nur sie, nicht uns beide. [...] Das heißt, sie hat mich nicht eingeladen mitzuessen. Ich war fassungslos und entsetzt. So etwas wäre unter Iranern undenkbar."

    So ähnlich geht es allen, die in dem Buch ihre Geschichte erzählen. Es fehlt ihnen hier an Gastfreundschaft und Herzlichkeit. Trotzdem sind sie glücklich, in Deutschland zu leben und wissen die Möglichkeiten und Freiheiten, die das Land bietet, sehr wohl zu schätzen. Der 17-jährige Mehmed formuliert es poetisch:

    "Wenn Kurdistan meine Wurzel ist, ist Deutschland meine Sonne."

    Für Amra Rovcanin, deren Familie vor den Serben aus Montenegro fliehen musste, sind es die Bildungschancen, die Deutschland auszeichnen.

    "In Ex-Jugoslawien könnte ich noch eine bessere Schülerin sein als hier, ich könnte in jedem Fach eine Eins plus haben, und ich würde es wahrscheinlich nicht schaffen, aus eigener Kraft Karriere zu machen. Ohne dass man die Professoren und alle möglichen anderen Leute besticht, kommt man dort nicht weiter. [...] Hier ist das ganz anders, und dafür bin ich dankbar."

    Amra hat erlebt, wie Verwandte ermordet wurden. Ihre Flucht war abenteuerlich, wochenlang sind sie in den Wäldern umhergeirrt. Manchmal haben die Schlepper sie einfach stehen lassen, und sie hatten 24 Stunden lang nichts zu essen und zu trinken. Auch jetzt ist die Familie arm, die Eltern sprechen kaum Deutsch, und so lastet alles Organisatorische auf den Schultern der 17-jährigen Amra. Trotzdem ist sie alles andere als verzagt.

    "Das klingt jetzt vielleicht nach einem schweren, traurigen Leben. Aber so empfinde ich es gar nicht. Ich denke immer: Das alles [...] macht dich irgendwann stark. Die Verfolgung in Jugoslawien, die Flucht, die Fremde hier, die Eltern, die mehr meine Hilfe brauchen als ich ihre, und unsere Armut. [...] Manchmal denke ich, vielleicht wäre es sogar ein Nachteil, wenn ich diese harte Zeit nicht kennengelernt hätte. Vielleicht wäre ich dann jetzt eine verwöhnte Göre, eine gelangweilte Zicke, die gar nicht weiß, was sie machen muss, um weiterzukommen."

    Die jungen Einwanderer schildern aber auch offen die Probleme, die ihre besondere Herkunft mit sich bringt. Sie berichten von Diskriminierung durch Mitschüler, Lehrer oder Professoren und dass sie manchmal daran verzweifeln. Oliver Sanchez ist der Sohn eines Kubaners und einer Deutschen und lebt in Leipzig:

    "Manchmal [...] überkommt mich ein Gefühl, das mir sagt, ich sollte Deutschland verlassen. Die Menschen hierzulande sind engstirnig. Ich erinnere mich zum Beispiel an die Diskussion über die Berliner Rütli-Schule. Da hat man ein ursprünglich soziales Problem zum Ausländerproblem hochstilisiert. Am Ende hat man über die ethnische Zusammensetzung des Landes diskutiert und nicht darüber, wie man Schwierigkeiten an Schulen klärt. In solchen Momenten spüre ich die Ressentiments der Deutschen gegen die Einwanderer. Vielleicht ist das der Grund dafür, dass ich mich nicht als Deutscher fühlen kann, obwohl ich hier geboren wurde."

    15,3 Millionen Menschen in Deutschland haben irgendeinen so genannten Migrationshintergrund, Menschen also, die noch andere kulturelle Wurzeln haben als deutsche und in Deutschland leben. Dazu gehören auch die drei Autoren des Buchs, die die Porträts verfasst haben. Sie haben die jungen Leute besucht, sie näher kennen gelernt und interviewt. In den Texten lassen sie in erster Linie die Porträtierten zu Wort kommen, schildern aber auch eigene Eindrücke und liefern nötige Zusatzinformationen zu den Geschichten.

    Eine der selbst bikulturellen Autorinnen ist die kurdisch-stämmige Journalistin Mely Kiyak.

    "Bevor wir dieses Buch angefangen haben und ich sozusagen wusste, dass ich vier Leute in dem Buch porträtiere, dachte ich als Journalistin mit Migrationshintergrund, ich werde mich unendlich langweilen, weil ich doch eh alles schon weiß. Was ich bei der Arbeit festgestellt habe, war, dass es überhaupt nicht so ist, dass ich alles wusste, sondern im Gegenteil: Ich hatte das Gefühl, nachdem ich die Interviews geführt habe und mich also rangesetzt habe ans Schreiben, dass ich überhaupt nichts weiß. Jede Geschichte ist so anders und so individuell und von so vielen Komponenten abhängig. Und das würde ich mir wünschen, also diese positive Irritation, dass der Leser, der das liest, denkt: Mensch, es ist doch alles ganz anders, viel vielfältiger als ich dachte."

    Die, die ihre Geschichten erzählt haben, fanden es angenehm, mit Nicht-Nur-Deutschen zu reden, so wie der Deutsch-Italiener Thomas Hennemann.

    "Es ist wahrscheinlich so ein geteilter Erfahrungsschatz, der das ausgemacht hat, dieses persönliche Gespräch mit den Autoren, die im Grunde einen ähnlichen Hintergrund einfach mitbringen. Die haben für mich die richtigen Fragen als Türöffner gestellt."

    Vor dem Hintergrund von Einbürgerungstests, Ehrenmord-Debatten und Rütli-Schule ist der Körber-Stiftung als Herausgeberin daran gelegen, eher unauffällige bikulturelle Leben zu zeigen. Geschichten, die nicht spektakulär oder skandalös sind, erklärt Kerstin Schulz:

    "Das, was wir ja zeigen wollten, ist eben, dass es neben all den vielen negativen Schlagzeilen, die über Migrantenkinder entstehen, einfach auch positive Gegenbeispiele gibt, dass wir aber nicht nur ganz eindimensional nur diejenigen zeigen, die ganz Außergewöhnliches schaffen, sondern dass es einfach auch normale Leben sind, die geschildert werden."

    So sind es auch, aber nicht nur akademische Karrieren, von denen erzählt wird. Die Einwanderer sind Handwerker, Sportler oder Künstler. Duman zum Beispiel lebt als Tochter jesidischer Kurden in Gladbeck. Ihre Eltern würden es gerne sehen, wenn sie studierte. Aber Duman macht eine Ausbildung zur Altenpflegerin.

    Als Leser kommt man den Porträtierten sehr nah, was bestimmt auch daran liegt, dass jede Geschichte mit Fotos illustriert ist. Man schaut den Menschen, von denen man liest, immer wieder ins Gesicht. Die Auswahl der Fälle ist nicht repräsentativ. Das Buch ist keine Studie, es will einfach nur ein Beitrag zur Meinungsbildung sein. Aber wen kann so eine Sammlung wirklich erreichen? Kerstin Schulz von der Körber Stiftung:

    "Es müssten eigentlich alle die lesen, die rumlaufen und sagen: Ich kann das nicht sehen: immer diese ganzen türkischen Frauen mit ihren Kopftüchern; ich will das nicht sehen: die Jungs, die mit ihrem Macho-Gehabe irgendwo stehen; ich will nicht, dass in der Straßenbahn um mich rum lauter fremde Sprachen erklingen. Eigentlich sind das die Leute, von denen wir möchten, dass sie es lesen. Und wir hoffen eben, dass wir auf die Weise, indem man Lebensgeschichten erzählt und indem man es ein bisschen unterhaltsamer macht dass wir auf die Weise auch mehr Menschen erreichen können."

    Und keine Frage, es ist unterhaltsam, mit jedem Porträt auch eine Reise in eine fremde Kultur zu machen und zu lesen, wie dort Deutschland und die Deutschen wahrgenommen werden. Fast fühlt man sich ermahnt, auch als Mensch mit nur einer Heimat, den Blick über den Tellerrand bloß nicht zu verlieren.

    "Zweiheimisch" zeigt Menschen, bei denen unsere oft stereotypen Vorstellungen von Ausländern nicht greifen. Diese manchmal sogar als "verlorene Generation" bezeichneten jungen Einwanderer zerbrechen nicht an den scheinbar unauflösbaren Widersprüchen in ihrer Biografie. Im Gegenteil: Sie geben Bildungsidealen wie Selbstbestimmung, Weltoffenheit und Aufgeschlossenheit ein Gesicht. Sie leben uns in ihrem bikulturellen Alltag vor, wie man mit vielfältigen Kultureinflüssen kreativ umgeht.

    Gut zusammengefasst ist das in dem Aufsatz des gebürtigen Palästinensers und Erziehungswissenschaftlers Tarek Badawia, der das Buch abschließt. Er sieht die Porträtierten nicht hilflos zwischen zwei Stühlen, sondern auf einem dritten Stuhl.

    "Der 'dritte Stuhl' ist eine Metapher. [...] Sie beschreibt die Bemühungen im Leben von Jugendlichen, die eine mehrfache kulturelle Zugehörigkeit haben und darauf nicht verzichten wollen. Außerdem illustriert sie eine positive Denkweise, und sie gibt ein schönes Bild dafür, wie sich Jugendliche neue Lebensformen erschließen - von einer neuen Kultur aus, die mehr als die Summe zweier Kulturen ist."

    Und die, wie sich Autorin Mely Kiyak wünscht, vielleicht bald auch die deutsche viel mehr mitbestimmt.

    "Ich kann mir nur wünschen, dass in 20 Jahren dass so ein Buch sich nicht verkaufen würde, weil es einfach schon so normal ist, dass eben nicht jeder zwei deutsche Eltern hat, die auch noch in Deutschland zur Welt gekommen sind."



    Cornelia Spohn: Zweiheimisch. Bikulturell leben in Deutschland
    edition Körber Stiftung, Hamburg 2006
    200 Seiten, 14 Euro