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Nostalgia

Der Titel des Prosabandes enthält schon das volle Programm: "Nostalgia". Die Gegenwart ist ein neurolgischer Ort. Naßkalte Straßen, Häuser, lepröse Backsteinmauern, rostiger Kram mit Menschen dazwischen. Leere Wolkenhimmel, sinnlose Plätze, die man in der kürzesten Geraden schneidet, und dann schnell in die Proustsche Horizontale! Schnell das rote Traumlämpchen angeknipst und die alten Bilder heraufkomplimentiert: Bilder von purpurnen Kindheitsnachmittagen, Plötzen im Abendlicht zwischen Häusern mit rosarot bröckelndem ‘calcio vecchio’. Hochherzigen Spielen in alten Backsteingemäuern, im Unkraut rostiger Geleise, auf Feuerleitern, die geradewegs in den Himmel führten. "Ich will nur meine Vergangenheit zurückrufen, oder sie formen, eventuell auch erfinden - oder alles zusammen ..." Der Autor scheint ganz und gar besessen von diesen Dingen, und wenn er stets durch einen Stellvertreter, einen Schriftsteller oder eine Gelegenheitserzählerin erzählen läßt, dann, weil die Nostalgie ein Imperium ist, das einer alleine ohne Angestellte gar nicht bewältigen kann.

Gabriele Killert |
    Ein alter Schriftsteller, den der Tod schon mit "feuchten Augen" erwartet, will ihm gern aus seiner Matratzengruft folgen, aber vorher möchte er schnell noch ein kleines "Unsterblichkeitsprojekt" beenden, nämlich die Geschichte über einen "Roulettspieler", will sagen- einen, der Russisch Roulett, also mit höchstem Einsatz spielte, dem aber keine Kugel etwas zuleide tun wollte. Dessen Glück phantastisch war, und der am Ende doch ganz läppisch durch den Revolver umkam: eine ungeladene Räuberpistole, die ihn erschreckte.

    Ein anderer Erzähler, der über seine Liebe zu einem siebzehnjährigen "Ungeheuer" mit gelben Augen und dem "Gebiß einer boshaften Fledermaus" schon viele heiße Tränen geweint hat, will "das Unsagbare festhalten", nämlich daß die Schönheit abscheulich ist, und daß der Aufruhr der Liebe erst ein Ende hat, wenn beide eins geworden, das heißt, wenn einer den anderen verzehrt, parasitär überwuchert, ausgelöscht hat.

    Daß die Liebe schwierig sei und am Ende nur trockene Hülsen übrigbleiben, dafür sorgt in einer anderen Geschichte ein kleiner "durchscheinender" Dämon mit Klauen, "aus denen das Gift tropft". Gierig hockt er zwischen obskuren Büchern im Regal und hofft, daß das Gift die beiden Liebenden endlich gesprächig macht und sie sich gegenseitig ihre Geschichten erzählen. Denn vom süßen "Traubengeschmack" ihrer Träume ernährt sich der kleine Vampir: der Erzähler.

    Und die beiden hier bewirten ihn wirklich fürstlich. Mit tollen Kindheitsmärchen von genialen kleinen Spielern, die nach Schamanenart zu Knochen zerfallen und wieder auferstehen können. Von einem kindlichen Guru namens Jegor, (der Name klingt schon ein bißchen nach Borges) der den Gespielinnen jenen heiligen Ort zeigt, wo jedes Ding eine Unendlichkeit von Dingen ist, wo man alles sehen, in einem leuchtenden Punkt des Raums den ganzen unendlichen Kosmos, Millionen Vorgänge simultan erleben kann: das REM, die verborgene Gottheit. Die Mädchen betreten einen morschen Schuppen und siehe da, dort sitzt die verborgene Gottheit- der Autor vor seiner alten "Erika", in der just die Geschichte steckt, die wir soeben lesen. Jeder Traum ist Traum in einem Traum, das ganze Universum ist Traum. Und ein Buch mit sieben Siegeln. Und jedes Buch eine unendliche Bibliothek. Und in dieser hier sirrt die Luft von den Klagen der unerlösten Seelen: Proust, Poe, Nerval, Hoffmann, Huysmans, Kafka, Rimbaud, Rilke, Céline, Borges ...

    Alle, alle drängeln sich hier, und wer weiß, wenn dies eine Reise zu den Jakuten geworden wäre (wie bei Cartarescus Landsmann, dem Schamanenforscher Mircea Eliade), wäre ihr Wunsch sicher in Erfüllung gegangen. Doch Mircea Cartarescu hat ein Traumschiff ins Fantasialand filmreifer Vorabend-Literatur gechartert. Und so werden die teuren Toten nicht wieder lebendig.

    Mit Mircea Cartarescus preisgekrönter Prosa hat die Postmoderne mit ihrem glamourösen Aufgebot an erzählerischen Illusions- und Pyrotechniken mächtig Einzug gehalten in Rumänien. Jedes Land, das in geschichtlicher Zeit sich schwertut, aus dem Elend herauszukommen und den Anschluß an die Moderne zu vollziehen, muß sich glücklich schätzen über einen solchen Ehrenretter (in der Türkei gebührt Orhan Pamuk dieses Verdienst), der den inneren Reichtum, die schöne mythische Seele eines Volkes einmal so fleißig herausarbeitet.

    Für den Außenstehenden mag da vieles wundersam unverständlich und einfach erstaunlich bleiben an diesem buntscheckigen Bukarester Traumbaedeker. Er kneift die Augen zu vor soviel Abendsonne, soviel Rot, soviel bröckelndem Putz und Geisterspuk, oder wenigstens ein Auge angesichts der märchenhaften Unbeholfenheiten, Scharlatanerien und metafiktionalen Trivialitäten. Ist aber auch betört von konkreten Schilderungen vor allem der kindlichen "Ungeheuer" und ihren rührenden Phantastereien. Wie ernst gemeint ist das Ganze? Möchte der Autor seine Prosa vielleicht als ein ironisches Spiel, eine satirische "Abrechnung" mit der Nostalgie und Huldigung zugleich an ein volkseigenes Laster verstanden wissen? Woher, wieso, warum diese extreme Nostalgomania? Einen noblen Hinweis gibt uns Borges: weil "nur eine verlorene Sache einen Gentleman interessieren kann."