Dienstag, 16. April 2024

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Nostalgiefahrt auf dem Mississippi

Auf der siebentägigen Fahrt auf dem Mississippi werden Vorträge über das Schiff und Unterhaltungsprogramm geboten. Auf einem Schaufelraddampfer bleibt aber auch Zeit für Müßiggang, um in weißen Schaukelstühlen den Blick auf das Wasser zu genießen.

Von Marion Trutter | 08.07.2012
    Ach ja. Jetzt sind wir also die, denen Tom Sawyer und Huckleberry Finn sehnsüchtig zugewinkt hätten. Hoch oben auf Deck vier stehen wir an der Reling der American Queen, dem größten Schaufelraddampfer, der je gebaut wurde: 127 Meter lang, 27 Meter breit – und mit Platz für gut 400 Passagiere, die wie wir nur eines wollen: Mississippi-Luft schnuppern.

    Wie zu Zeiten Mark Twains stehen auch an diesem Morgen Trauben von Menschen am Landesteg – angelockt wie damals durch das drehleierartige Gedudel, das vom Schiff übers Land schallt. An einem unscheinbaren Kasten auf dem Achterdeck sitzt Phil Westbrook, der Bordpianist, und haut in die Tasten.

    "Das hier ist eine Kalliope, ein Dampf- und Eisenpiano. Erfunden wurde es 1855 – ursprünglich, um die Leute in die Kirche zu rufen. Damals hat man Holz und Öl verbrannt, um Dampf für die Pfeifen zu erzeugen. Das Instrument hatte kleine Messingtasten und Kupferdrähte. Heute haben wir eine elektronische Tastatur, die schickt ein elektrisches Signal hoch zu den Pfeifen und die werden dann mit Wasserdampf betrieben – der gleiche Dampf, der auch das große Schaufelrad da hinter uns antreibt. Ich schlage eine Taste an oder mehrere und der Dampf betätigt die entsprechende Pfeife – ganz ähnlich wie die Pfeifen, die der Käpten vorne hat, sodass die Leute wissen, wir sind da. Ein sehr amerikanisches Boot und ein sehr amerikanisches Instrument – diese Tradition haben wir bereits seit fast 200 Jahren."

    So alt ist in etwa auch die Tradition der Schaufelraddampfer. Die American Queen allerdings wurde erst 1995 gebaut – ganz im Stil der alten Dampfschiffe. Und sie ist wirklich eine Schönheit – mit ihren beiden schwarzen Kaminen in Form von Kronen, den weißen Balkonen und verschnörkelten Säulen – und natürlich mit dem leuchtend roten Schaufelrad. Auch in den Salons und Kabinen schwebt der Flair des alten Südens: üppige Teppiche und dunkle Möbel, Tapeten mit Blümchen und Bordüren, Kronleuchter und goldgerahmte Spiegel.

    Sieben Tage sind wir unterwegs zwischen Cincinnati und Memphis. 600 Meilen auf dem Ohio River und dem Unterlauf des Mississippi. Wir wiegen uns stundenlang in weißen Schaukelstühlen, schauen aufs Wasser oder genießen Drinks und Musik in der Engine Bar.

    Von der Engine Bar führt eine Treppe direkt hinunter in den Maschinenraum. Besucher sind willkommen. Unten dampft und zischt es, zwei gigantische Kolben bewegen sich im Wechsel hin und her, das Schaufelrad schnauft und wirft mit Wasser. Dienst hat an diesem Tag Robin Jimenez. Die 25-jährige Schiffsingenieurin steht im Blaumann vor einer Wand mit jeder Menge Schaltern und Hebeln:

    "Mit diesen Hebeln hier steure ich die Maschinen. Der hier ist so was wie mein Gaspedal. Damit steure ich, wie viel Dampf ich in die Maschinen gebe und damit auch wie schnell sich das Schaufelrad dort hinten dreht. Der Kapitän auf der Brücke hat darauf keinen Zugriff, ich alleine habe die Kontrolle über die Maschinen. Der Käpten läutet diese Glocke hier und sagt mir, welche Geschwindigkeit er will. Und ich reagiere, indem ich mit diesen Hebeln die Umdrehungen des Rads steure. Wenn wir also mal wenig Dampf haben und er Höchstgeschwindigkeit anordnet, dann geht das einfach nicht. Also muss ich ihn anrufen und ihm das sagen. Wir kommunizieren sehr viel – und in 99,9 Prozent aller Fälle bekommt er, was er will."

    Wo der Herr des Schaufelraddampfers sitzt, erfahren wir bei einer Exkursion auf die Kommandobrücke. Gemeinsam mit einer Handvoll weiterer Passagiere kraxeln wir um die Mittagszeit hoch auf die Brücke. Oben erwartet uns Jerry Hay, der sogenannte "Riverlorian", also gleichzeitig Experte in Sachen Fluss – und begeisterter Geschichtenerzähler.

    Jerry erklärt jedes einzelne Knöpfchen und Lämpchen, die Funktion der Instrumente, Antrieb und Steuerung, den Radar und die Sicherheitssysteme. Etwa zwei Drittel seiner Kraft holt das 1995 gebaute Schiff aus den Dampfmaschinen und dem Schaufelrad, zum Manövrieren in Häfen und schwierigen Gefilden gibt’s auch noch zwei Propellerschrauben. Der Clou der technischen Raffinessen aber ist hier oben zu finden:

    "Dieses Steuerhaus duckt sich unter Brücken. Wenn wir zu einer sehr niedrigen Brücke kommen, senkt sich das gesamte Ruderhaus ab wie ein Aufzug. Die Frage ist dann natürlich: Wenn die Brücke absinkt, wie kann der Kapitän dann etwas sehen? – Ganz einfach: Er verlässt die Brücke und steht da draußen auf dieser freischwebenden Plattform. Das, was aussieht wie eine Grillstation, ist ein Kommandostand. Dort hat der Käpten alle Instrumente. Und alles, was er hier drinnen machen kann, geht auch dort draußen."

    Auch die beiden Schornsteine verschwinden während der Fahrt immer wieder aus dem Sichtfeld. Sobald eine Brücke naht, senken sich die schwarzen Schlote nach vorne ab, bis riesige Gegengewichte sie wieder aufrichten.

    Wenn zwischendurch weder Vorträge noch Unterhaltungsprogramm die Aufmerksamkeit fesseln, bleibt herrlich viel Zeit für Müßiggang. Stundenlang sitzen wir einfach vor unserer Kabine, schauen durch die Reling aufs Wasser und lassen uns einlullen von Ol' Man River. Ab und zu kreuzt ein Lastenkahn das Bild, Kinder winken vom Ufer herüber. Und immer mal wieder versammelt sich eine komplette Frachtschiff-Besatzung an Deck ihres Kahns, um die "Königin Amerikas" zu grüßen.

    Nördlich von Memphis passieren wir die landschaftlich wohl reizvollste Strecke auf unserer Fahrt. Hier windet sich der Mississippi in tausend Biegungen und Schleifen südwärts wie eine dicke träge Schlange – rechts und links gesäumt von dichten Wäldern. Ende des 19. Jahrhunderts war das noch anders: In der Boomzeit der Dampfschifffahrt hatte man einen Großteil der Bäume als Brennstoff abgeholzt. In den vergangenen Jahrzehnten aber wurde der Wald wieder aufgeforstet – sehr zur Freude auch von Jerry Hay, dem Flussexperten:

    "Wenn Sie jetzt hier auf den Fluss schauen, sieht er aus wie vor 200 Jahren: Wir sehen Bäume am Ufer, viele Wildtiere – und häufig sieht man sogar Hirsche durch den Fluss schwimmen. Das ist ziemlich unglaublich: Sie schwimmen wirklich über diesen breiten Fluss. Außerdem sehen wir immer wieder Adler und Graureiher. Es heißt, die Graureiher seien wiedergeborene Dampfschiffkapitäne. Sie fliegen oft vor uns her. Dann landen Sie vor dem Schiff und zeigen uns, wo die Untiefen sind. So geleiten diese Graureiher unsere Kapitäne die Flüsse rauf und runter."

    Zwischen ruhigen Stunden an Bord und Landausflügen wartet auf dem Schiff natürlich immer auch irgendwo ein gedeckter Tisch oder ein Büffet. Es gibt alles von Hotdogs bis Hummer, von einfachen Snacks rund um die Uhr bis zum gehobenen Südstaaten-Dinner. Und nach dem Abendessen geht’s direkt ins Bordtheater. Das Programm im Grand Saloon ist erste Sahne – von der Hollywood-Show über Rock und Comedy bis zum Elvis-Imitator.

    Nach der Show zieht auf der American Queen schnell Stille ein. Tanzen könnte man noch im Ballroom, doch die meisten Gäste ziehen sich in ihre Kabinen zurück. Uns aber zieht es noch mal in die Engine Bar, wo wieder Phil am Piano sitzt. Durch die Bullaugen hinter der kleinen Bühne fällt der Blick auf das Schaufelrad. Es dreht sich und dreht sich, stundenlang, immer gleich, so richtig hypnotisierend. Auf dem Balkon gönnen wir uns einen letzten Tennessee Whiskey, sehen schemenhaft das Ufer vorbeiziehen im Licht des Mondes – und genießen jeden Tropfen Wasser, den das Schaufelrad uns herüberschickt.
    Über den Ohio-River pendelt die American Queen zwischen Cincinnati und Memphis
    Reisen wie zu Zeiten Mark Twains: Über den Ohio-River pendelt die American Queen zwischen Cincinnati und Memphis. (Marion Trutter)