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Notfall in Halifax

In der zweiten und dritten Septemberwoche regnete es fast jeden Tag. - Die Sheehogue, die die Schnauze voll hatten von den nassen Wiesen im Norden Vancouvers, verbrachten ihre Tage in dem musikberieselten Einkaufszentrum und verübten dort allerlei kleine Bosheiten.

Siggi Seuss |
    Selten waren irische Elfen so sanft wie in James Heneghans Roman "Im Schutz des Kleinen Volkes". Eigentlich könnten die Sheehogues - so werden sie genannt - Diskettenlaufwerke schreddern, Drehtüren verklemmen, Kreditkarten und Socken verschwinden lassen. Aber, was tun sie im Fall des elfjährigen Andy? Sie retten ihn vor dem Ertrinken und beschützen ihn bis zu dem Tag, an dem seine verletzte Seele wieder geheilt ist.

    Das Erste, was die schlummernden Sheehogue mitbekamen, war der ohrenbetäubende Schlag, der sie von ihren Lauben ins Gras stürzen ließ. Danach folgte eine Flut aus Wasser und Schlamm, die die Sheehogue auf einer unerwarteten natürlichen Rutsche rasant über die Wiese mitriss. Sie sahen, wie die Häuser der Menschen in den Bach stürzten. "Rettet ihre Kinder!", befahlen die Alten.

    Mag sein, dass die Elfen, die während der großen Hungersnot 1845 bis 1849 das Land verließen, in Kanada ein besonders fürsorgliches Feingefühl entwickelten. Die kleinen Flatterwesen der Elfendiaspora von Vancouver jedenfalls haben alle Hände voll zu tun, wenigstens die Kinder zu retten, als nach starken Regenfällen Häuser in den Fluten versinken. Andys irischstämmige Mutter und der Stiefvater sterben. Der Junge wird verletzt geborgen und fliegt - halbwegs genesen - mit der Schwester seiner Mutter ans andere Ende Kanadas, nach Halifax, wo er bei Tante, Onkel und Oma leben soll. Ein fünfköpfiges Elfenteam unter Führung eines weisen Alten fliegt mit.

    "Wie werden wir reisen?", fragten sie den Alten. - "Wo immer der Wind bläst, da reisen wir", antwortete der Alte. - "Aber das ist der Flughafen!" protestierte einer der Jungen. - "Und das ist ein Flugzeug", sagte ein anderer und wies auf das Rollfeld. - "Ja" - "Was soll dann der ganze Kram von wegen ‚Wo der Wind bläst, da reisen wir‘?" - "Air Canada geht schneller", seufzte der Alte.

    Dumm ist nur - und hier beginnt die eigentliche Geschichte -, dass Andy seiner Tante alles andere als wohlgesonnen ist. Er vermutet, sie wolle ihn nur des Geldes wegen bei sich aufnehmen. Als er zudem erfährt, sein totgeglaubter leiblicher Vater Vinny lebe in Halifax, flüchtet Andy und findet seinen Dad - einen Kleinkriminellen - in einer von Kakerlaken verseuchten Absteige. Der Junge wohnt mit Vinny fünf Wochen unter primitivsten Verhältnissen zusammen. Immer in der Hoffnung, der Erwachsene möge nun sein Leben in die Hand nehmen - bis ein Zwischenfall Andy in eine neue Bahn wirft: Vater gesteht sein Unvermögen ein, den Jungen zu erziehen und liefert ihn - so sieht es Andy - seiner verhassten Tante aus.

    "Aber ein Junge braucht jemanden, der sich richtig um ihn kümmert. Und das schaff ich nicht. Es überfordert mich. Hörst du? Ich bin einfach nicht der Richtige, um dich großzuziehen." - "Du brauchst mich nicht großzuziehen. Ich kann mich selber großziehen." - "Das kannst du nicht. Du bist ein Kind. Du brauchst ein richtiges Zuhause, Andy." - "Ich bin dein Sohn, Vinny! Du bist mein Vater! Du hast für mich zu sorgen, nicht - nicht sie!"

    Das klingt nach einem unrühmlichen Schluss. Anderseits darf man in einem Jugendbuch ein veritables Happy End vermuten, hier also etwa eine reumütige Rückkehr des Vaters auf den Pfad der Tugend. Heneghan vermeidet beide Lösungen und erfindet eine für seinen Helden optimistisch stimmende dritte Möglichkeit - die glaubwürdigste. Wer allerdings meint, der Autor würde seine Elfen massiv in die Selbsterfahrung der Akteure eingreifen lassen - wie das in vielen Fantasyromanen üblich ist -, der wird angenehm enttäuscht. Die unternehmungslustigen Sheehogues bilden nur so etwas wie einen Bereitschaftsdienst für lebensbedrohliche Notfälle (deshalb tauchen sie nur in kurzen Passagen auf).

    Der Alte lächelte: "Genauso wie Geduld müssen wir auch lernen, dass alle Geschöpfe gleich sind: Jedes hat das Recht, sein Leben zu leben.

    Das meiste Überlebensnotwendige müssen die Menschenwesen also selbst auf die Reihe bringen. Das tun sie denn auch mit Hängen und Würgen. Manches verändert sich, manches bleibt wie es ist.

    Unabhängig von charakterlichen Verkrustungen zeichnet Heneghan seine Figuren als ernstzunehmende Individuen. Selbst der Taugenichts von irischem Vater hat seine liebenswürdigen Seiten: Er ist ein begnadeter Geschichtenerzähler. Wenn man ihm zuhört, glaubt man wirklich daran, es gebe in einer Parallelwelt ein Land der ewigen Jugend, in dem Menschen und Götter friedlich zusammenlebten. Später dann im Bett, nach einem Abend voller Erzählungen, könnte man - wie Andy - in einem Augenblick zwischen Wachen und Träumen ganz Ungewöhnliches beobachten.

    Als er aufwachte, war das Zimmer dunkel bis auf die silbernen Mondstrahlen, die schräg durchs Fenster fielen. Er sah die Sheehogue im hellen Mondlicht auf der Fensterbank sitzen, jedenfalls vier von ihnen, die die Beine in die Luft warfen und lachten und in der Sprache des Kleinen Volkes diskutierten. sie trugen kleine Mossehead-Eishockey-Shirts und die Haare standen senkrecht auf ihren kleinen Köpfen wie ungemähtes Gras.
    Gut zu wissen, dass sie da sind, auch wenn man sich nicht unbedingt auf sie verlassen sollte. Denn eigentlich wollen Elfen, statt Katastrophenbereitschaftsdienst schieben, lieber Diskettenlaufwerke schreddern, Drehtüren verklemmen, Kreditkarten verschwinden lassen oder auf saftigen grünen Wiesen tanzen.

    James Heneghan
    Im Schutz des Kleinen Volkes
    Cecilie Dressler Verlag, 256 Se., EUR 12,90