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Notizen zu Lebensläufen

Das Kennzeichen der Lebensläufe, zu denen Ida Fink sich "Notizen" gemacht hat, sind Flucht, Deportation und ein früher, gewaltsamer Tod. Ida Fink berichtet in ihrem Buch fast ausnahmslos vom Leben und Sterben junger jüdischer Frauen im besetzten Ostpolen. "Notizen" heißen ihre Texte aus gutem Grund, denn sie erfinden nichts, schmücken nichts aus, interpretieren nichts, sondern schreiben einfach und eindringlich mit, was diesen Frauen, die sie kannte, und ihren Familien widerfahren ist. Zum Beispiel ihrer Tante Eugenia, Sekretärin in einem Kohlekombinat in Oberschlesien, "voll mit Qualm und Deutschen". An einen heißen Sommertag des Jahres 1937 bemerkt Eugenia unvermittelt, sie würde gern "an einem schönen, sonnigen Tag, auf einer kurvenreichen Straße in den Bergen" bei einem Autounfall sterben. "Was für ein weiser Wunsch", bemerkt dazu die Erzählerin, denn es bleiben Eugenia nur noch fünf Jahre zu leben. Auf der Flucht vor den Deutschen zieht sie ins Haus ihrer Schwester im ebenfalls schon "unsicheren Gniezna". "Die Deutschen", notiert die Erzählerin, sind einen Schritt von uns entfernt, die Russen sind bei uns." Drei sowjetische Offiziere quartieren sich in ihrem Haus ein, einer von ihnen bewahrt Eugenia vor der Deportation nach Sibirien. Das letzte Bild der Erzählerin von Eugenia stammt aus der Zeit kurz vor der Auflösung des Ghettos. Eugenia sei glücklich gewesen, vielleicht das einzige Mal in ihrem Leben. Mit neuer Frisur, offenem Gesicht, um Jahre verjüngt habe sie vor ihr gestanden. "Das war", heißt es weiter, "der Tag, an dem Elzbieta und ich aus dem Ghetto flüchteten, der Tag, an dem ich Eugenia zum letzten Mal sah." Sie wird bei der Räumung des Ghettos umgebracht.

Christoph Bartmann |
    Ida Fink, die die deutsche Besatzung im Ghetto und später im Untergrund überlebte, ehe sie 1957 nach Israel emigrierte, sichert in ihren dokumentarischen Notizen und kleinen Szenen Spuren von Verwandten, Freunden und Bekannten. Zu ihnen gehören auch Julia und ihr Mann Szymon. Ihr Porträt beginnt ebenfalls mit einer Erinnerung an Vorkriegstage, mit einem Bild des Glücks, das Julia "im sandfarbenen Kleid und mit sandfarbenen Handschuhen" zeigt; "elegant ist sie und großstädtisch" Mit ihrer Familie sucht Julia zu Kriegsbeginn ebenfalls Zuflucht in dem genannten Städtchen. Im ersten Kriegswinter, während ihr Mann mit den Mehlzuteilungen, die er als Mühlenarbeiter erhält, die Familie vor dem Hunger bewahrt, mutet ihr Leben fast noch idyllisch an. Tagein, tagaus bereitet Julia Mehlspeisen zu, raucht Machorka, liest Montherlant, während der Ehemann und die frühreifen Söhne über den Marxismus streiten. Man entgeht den Deportationen in den Osten und wird bald darauf schon die Deportierten beneiden. Ein Sohn, Dorfschullehrer, wird zwei Monate nach den Einmarsch der Deutschen erschossen. Der andere, Tulek, verschwindet im Lager. Auf zwei hinausgeschmuggelten Karten bittet er einmal um einen warmen Pullover, das andere Mal um Gift. Syzmon stirbt bald nach der Einrichtung des Ghettos an Typhus. Julia überlebt. Nach dem Krieg arbeitet sie in Polens neuen Westgebieten als Buchhalterin in einer Marmeladenfabrik. Freunde schreiben ihr und laden sie nach Israel ein. Nach jahrelangem Zögern packt sie ihre Koffer und trifft in Israel am Vorabend des Sechstagekrieges ein. Unmittelbar nach dem Waffenstillstand stirbt sie an einem Herzinfarkt. Ihr letzter Satz: "'Hat die UNO-Generalversammlung schon stattgefunden. Was hat Kossygin gesagt?'".

    Ida Finks Texte haben nicht nur die schlichte Wahrheit ihrer Zeugenschaft für sich. Es sind auch komponierte Gebilde. Ida Fink hat in der Zeit, von der bei ihr die Rede ist, Musik studiert, und in fast jeder Erzählung spielt Musik eine Rolle. Bisweilen haben ihre Texte auch eine musikalische Struktur, so etwa in "Nächtliches Thema mit Variationen", der dreifach variierten Phantasie von einer nächtlichen Flucht aus Auschwitz. Eine andere Erzählung, sie heißt "Die sich wiederholende Auferstehung des Bäckers", erinnert in ihrer Form an ein Ritornell. Sie handelt vom furchtbaren Tod des kranken Lagerhäftlings Weiskranz, den der Kommandant in ein Faß setzen und über den Lagerplatz rollen ließ. Seither - und "wir schreiben das Jahr 1970", heißt es weiter - wiederholen sich auf ungewisse Zeit Tod und Auferweckung des Bäckers Weiskranz. Sie wiederholen sich, weil die Chronistin in ihrer Suche nach der Wahrheit das Ereignis ein ums andere Mal vor- und zurückspielen läßt. Ida Finks Recherchen sind unerbittlich und unsentimental auch gegenüber den Opfern. Das wird deutlich an "Zygmunt", der Geschichte von einem fünfzehnjährigen Klavierschüler, der ihr ein paar Tage vor Kriegsbeginn mit makelloser Technik, aber "ohne Herz" Beethovens drittes Klavierkonzert vorspielt. Drei Wochen später, Zygmunt ist inzwischen zur Zwangsarbeit herangezogen worden, besucht sie ihn erneut. Auf ihren Wunsch spielt er ihr wieder einige Passagen aus dem Konzert vor, diesmal klingen sie "wie ein Schrei". Wenig später ist Zygmunt tot. "Ich weiß nicht wann, ich weiß nicht, wo", resümiert die Erzählerin. "Ich muß zugeben, daß ich die Nachricht von seinem Tod, die ich nach dem Krieg erfuhr, mit einer gewissen gleichgültigen Traurigkeit aufnahm. Es gab so viele Menschen zu beweinen...". Aus der Unzählbarkeit tragischer Lebensläufe hebt Ida Fink einige wenige ans Licht der Erzählung. Darin bestehen, neben allen literar-ästhetischen Qualitäten, Rang und Leistung ihres Buches.