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Notre-Dames-des-Fleurs

Die heilige Tunte Divine hat ihre guten Tage lange hinter sich, als sie in den Armen ihrer alten Mutter Ernestine stirbt, oben in ihrer Pariser Dachstube, mit Blick auf den Friedhof Montmartre. Bald darauf läßt sich der schöne Lude Mignon, einst ihre große Liebe, beim Klauen erwischen. Er sitzt im Gefängnis, als er Divine jenen krude poetischen Brief schreibt, der den ersten Roman von Jean Genet, "Notre-Dame-des-Fleurs", beendet: "Schau, daß Du einen Advokaten findest, der mich verteidigt. Und bezahl ihn." Dann schreibt er in einem Anflug von Hoffnung: "Denk an das Vergnügen, das wir hatten. Sieh zu, ob Du das Gestrichelte wiedererkennst". Das Gestrichelte ist nichts anderes als "der Umriß seines Schwanzes".

Ina Hartwig | 07.01.1999
    Der Roman "Notre-Dame-des-Fleurs" ist ebenso im Gefängnis geschrieben worden, 1942, zwei Jahre nach dem Einmarsch Hitlers in Frankreich. Von seiner Zelle aus, deren Wände in der Erinnerung noch immer zittern von den deutschen Bomberfliegern, schickt Genet seine opulenten Phantasiegeschöpfe ins scharf abgesteckte Areal der Place Blanche, von wo aus sie die lebenswichtigen, kokainverschleierten Tunten- und Ludenbars in Fußnähe haben. Sie finden sich zusammen, um sich am Ende doch immer wieder zu verlassen und zu verraten.

    Daß Genet, dieser traurige poète maudit mit einer bis dahin ungekannten barock-virilen Phantasie, schon wenige Monate nach der Haftentlassung von Jean Cocteau als großer Schriftsteller erkannt werden würde, mag er gehofft haben. Aber daß nur knapp zehn Jahre später der legendäre Gallimard Verlag begänne, seine Gesammelten Werke herauszubringen, dürfte der 1910 in Paris geborene Zögling der öffentlichen Fürsorge sich nicht einmal im Traum ausgemalt haben.

    Zwei Jahrzehnte lang war Genet als Soldat, Deserteur, Fremdenlegionär, Clochard und Kleinkrimineller durch Europa und den Nahen Osten unterwegs gewesen. Im Gefängnis saß er, weil er in der Librairie Stock wieder einmal Bücher hatte mitgehen lassen. Die Gerichtsverhandlung stand dem 32jährigen noch bevor, und ob er wieder freikäme oder wegen seines Strafregisters zu lebenslanger Haft oder Zwangsarbeit verurteilt würde, war keineswegs sicher. Es verwundert daher kaum, daß dieser autobiographisch gefärbte Roman trotz gelegentlicher Größenphantasien von einem grundverzweifelten Ton, einer wahrhaftigen elenden Einsamkeit und Angst durchzogen ist.

    Der Merlin Verlag kündigt seit längerem eine Werkausgabe auf der Basis integraler Neuübersetzungen an. Mit "Notre-Dame-des-Fleurs" ist jetzt der erste Band fertiggestellt; "Wunder der Rose", Genets zweiter Roman, soll als nächstes folgen. Wenn das Projekt abgeschlossen werden kann, wäre das für deutschsprachige Genet-Leser ein großer Gewinn, denn die ersten Übersetzungen waren häufig noch etwas ungelenk. Vor allem fehlten all jene Stellen, die Genet für die Gallimard-Ausgabe in den fünfziger Jahren gestrichen hatte und die nun anhand der Erstausgaben von Friedrich Flemming rekonstruiert wurden. Ein kritischer Apparat ist leider nicht vorhanden, den es jedoch nicht einmal in einer französischen Ausgabe gibt. Um die gestrichenen und jetzt wieder eingefügten Stellen dennoch kenntlich zu machen, hat der Merlin Verlag auf ein transparentes Fußnotensystem zurückgegriffen. Es handelt sich um insgesamt 62 Stellen, die, am Ende des Buchs noch einmal hintereinander aufgeführt, sieben engbedruckte Seiten ergeben.

    Als besonderes Ereignis dieser Ausgabe aber muß die Neuübersetzung von Gerhard Hock hervorgehoben werden. Schon 1960 hatte Hock den Roman ins Deutsche gebracht. Die strenge Überarbeitung nach fast vierzig Jahren ist auffallend rhythmisch, und sie ist klarer als die erste Fassung, mit der sich - 1960 bis 1962 - noch die Staatsanwaltschaft Hamburg hatte auseinandersetzen müssen.

    Nachdem der Merlin Verlag 1960 wegen "Verbreitung unzüchtiger Schriften" angeklagt worden war, kam es bereits zum zweiten Prozeß, der in Deutschland um Jean Genet geführt wurde. 1956 hatte Heinrich Maria Rowohlt-Ledig, der erste deutsche Genet-Verleger, sich für den Roman "Querelle de Brest" mit einem hanseatischen Gericht gestritten - allerdings, im Unterschied zu Andreas Meyer von Merlin, eine Vernichtung der Restbestände akzeptiert und ein Bußgeld gezahlt. Die Zähigkeit und Streitlust des Kleinverlegers Andreas Meyer in puncto "Notre-Dame-des-Fleurs" sollte sich lohnen, denn dank des liberalen Staatsanwaltes Ernst Buchholz wurde nicht mehr das Anstandsgefühl des Normalbürgers als Maßstab einer strafrechtlichen Beurteilung der zeitgenössischen Kunst zugrunde gelegt, sondern die zeitgenössische Kunst selbst. In seinem Nachwort dieser Ausgabe kann daher Armin Huttenlocher das seltene Kuriosum feststellen: "In ihrem Schlußplädoyer sprach sich die Staatsanwaltschaft für eine Abweisung des eigenen Antrages aus."

    Das Obszöne in Genets Literatur ist jedoch durch dieses Urteil nicht getilgt worden. Gerade angesichts der von Genet einst gestrichenen, nun wieder eingefügten Passagen wird das deutlich; wenngleich hinzugefügt werden muß, daß Obszönität nicht das einzige Kriterium der Selbstzensur gewesen sein kann, da viele explizit sexuelle Sätze nicht gestrichen worden waren. Obszön ist Genet weniger, weil er eine rein homosexuelle, kriminelle Welt beschwört. Obszön ist vielmehr eine ans Phantastische grenzende Apotheose des männlichen Geschlechts, etwa in der parodistisch-steckbrieflichen Charakterisierung Notre-Dame-des-Fleurs, der zweiten Heiligenfigur dieses Romans: "Größe 1,71 m, Gewicht 71 kg, Gesicht oval, Haarfarbe blond, Augen blau, Gesichtsfarbe matt, Zähne vollständig, Nase gerade, erigiertes Glied: Länge 0,24 m, Umfang 0,10 m." Das letzte Kennzeichen war in der Gallimard-Ausgabe von 1951 weggefallen.

    Beim Wiederlesen des Romans fällt auf, daß etliche relevante Szenen von einer geradezu wollüstigen, zutiefst katholischen Blasphemie zeugen. Dem Priester - der Divines Trauerzug mit einer Handvoll kreischender Tunten im Schlepptau anführt - gibt unser Autor die erregende Vorstellung einer homosexuellen Überwältigung mit auf den regennassen Friedhofsweg. Der 16jährige Notre-Dame-des-Fleurs, zugleich Mörder und unbefleckte Empfängnis, ist besessen vom Gott des brennenden Dornbuschs; seine Guillotinierung wird mit der Kreuzigung, sein Prozeß mit der Passion Christi verglichen. Und Divine selbst, der Transvestit auf dem Strich des Boulevard de Clichy, erscheint als Maria Magdalena, die in der Befriedigung des Mannes eine mystische Selbstauflösung erlebt.

    Nur sieben Jahre lang ist Genet zur Schule gegangen, aber er schreibt schon in seinem ersten Roman ein Französisch, als wäre er Mitglied der Académie francaise. Es sollte bis zu seinem Tod 1986 so bleiben. Die nationalsozialistische Katastrophe poetisch zu verarbeiten, dazu fehlte es ihm in "Notre-Dame-des-Fleurs" allerdings noch an analytischem Willen und historischem Zugriff. Dies gelang erst zwei Jahre später in dem Roman "Das Totenfest". Vielleicht ist es aber auch unvermeidlich, daß ein so junger Autor zunächst seine ganz persönliche poeto-sexuelle Phantasmagorie in die Welt hinausschreien mußte.