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Notstand in der Notaufnahme?

Atmen sie mal tief durch, schneller...

Anke Petermann und Axel Flemming | 31.05.2002
    Verdacht auf Lungentumor. Axel Seekamp, Assistenzarzt in der Chirurgischen Abteilung am Diakonissenkrankenhaus Speyer, tastet den 76jährigen Patienten ab, geht mit ihm seine Vorerkrankungen und aktuellen Beschwerden durch. Die Neuaufnahme ist einer der letzten Akte am Nachmittag dieses Arbeitstages, der um viertel nach sieben begonnen hat. Und an den sich nahtlos der nächste Einsatz anschließt:

    Gegen 16 Uhr tauscht Axel Seekamp seine weißen Mokassins gegen feste schwarze Schuhe aus und nimmt das Funkgerät für den Notarztdienst entgegen. Seine rote Jacke mit den reflektierenden Streifen nimmt er von nun an mit in die Patientenzimmer:

    Visite auf Abruf, jeden Moment kann Seekamp vom Patientenbett weg zu einem Verkehrsunfall oder einem Herzinfarkt-Patienten irgendwo in Speyer abgerufen werden. Das bringt etwas Unruhe rein, gibt er zu:

    Aber das lässt sich nicht anders machen, weil ich’s keinem anderen überlassen kann, die anderen sind im OP und operieren die Patienten.

    Und wie fit fühlt er sich nach nunmehr neun Stunden Arbeit für die kommenden Einsätze? Im Notfall steigt der Adrenalinspiegel, sagt Seekamp.

    Und da fährt man hin und ist in einer anderen Grundspannung als im normalen Dienst. Gut, danach denkt man schon, huch jetzt ist man aber erschöpft.

    Danach, das ist um halb acht am nächsten Morgen nach zwei drei Einsätzen und fünf, sechs Stunden Schlaf in unterschwelliger Alarmbereitschaft, das ganze bezahlt mit 40 Prozent des Bruttolohns. Nach 24 Stunden Krankenhaus dann endlich nach Hause und die Beine hochlegen? Fehlanzeige: der Tagdienst beginnt, mit etwas Glück muss der Assistenzarzt aber nicht sofort in den OP, sondern wird auf der Station eingesetzt. Der ganz normale Wahnsinn in deutschen Kliniken. Hierzulande gilt Bereitschaftsdienst am Wochenende oder in der Nacht als Ruhe- und nicht als Arbeitszeit. Der Europäische Gerichtshofs hat das in einem Urteil beanstandet, allerdings bezog sich dieses Urteil nicht auf einen deutschen Fall. Noch verstoßen Marathondienste in Deutschland deshalb nicht gegen das Arbeitszeitgesetz, jedenfalls dann nicht, wenn die Ärzte während der Nachtdienste weniger als die Hälfte der Zeit arbeiten, präzisiert Jürgen Hoffart, Hauptgeschäftsführer der Landesärztekammer Rheinland-Pfalz:

    Man muss aber klar sagen, dass selbst die vorgeschriebenen Ruhezeiten nicht eingehalten werden, das heißt die vorgeschriebene Höchstbelastung von 49 Prozent wird in der überwiegenden Zahl der Fälle überschritten.


    Zusätzlich zu meiner regulären Arbeitszeit muss ich im Monat acht bis zehn Bereitschaftsdienste machen.

    ... erzählt ein Assistenzarzt aus der Hals-Nasen-Ohren-Abteilung eines größeren Krankenhauses im Südwesten der Republik, der an seiner Stimme nicht erkannt werden möchte, denn er befürchtet Sanktionen der Klinik-Leitung. Deshalb können wir ihn nur zitieren.

    Patienten, die mit geringfügigen Beschwerden frühmorgens in die Ambulanz kommen, denen sage ich dann schon mal in aller Freundlichkeit "schauen Sie mich an, ich habe rote Ränder unter den Augen, ich habe Reaktionszeiten, als ob ich 1,5 Promille Alkohol im Blut hätte, wollen Sie wirklich, dass ich Sie behandle?" Neulich war ich kurz davor, einen Patienten, der mich provoziert hat, anzuschreien. Normalerweise bin ein ruhiger Mensch. An solchen Reaktionen merke ich, dass ich überarbeitet bin...

    Immer mehr Krankenhausärzte fühlen sich überlastet.

    Natürlich passieren auch Fehler. Zum Beispiel wenn man keine Zeit hat, einen Patienten auf der Station anzugucken, weil man andauernd in die Ambulanz gepiepst wird. Da gibt man der Schwester dann eine Schmerztherapie per Telefon durch, das kann auch schief laufen. Wenn ich nach Hause gehe, sind noch 50 Arztbriefe und 20 Verwaltungszettel liegen geblieben, die ich hätte schreiben müssen.



    Gerade nachts geht es nur noch darum, Katastrophen zu verhindern. Auf der Intensivstation muss ich mich um Frühgeburten in der 25. Woche kümmern, währenddessen stauen sich schon wieder zehn Kinder in der Ambulanz. Um verunsicherte Eltern zu beruhigen - dafür fehlt die Zeit.

    Auch diese beiden Ärzte wollen anonym bleiben. Neben dem Arbeitsstress beklagen sie, dass bergeweise Überstunden anfallen. Aus Umfragen unter Mitgliedern weiß der Marburger Bund, so der stellvertretende Bundesvorsitzende Rudolf Henke...

    ...dass Krankenhausärzte mehr als 50 Millionen Überstunden leisten, davon 2/3 unbezahlt, das führt dazu, dass die Wochenarbeitszeit bei bis zu 80 Stunden liegt.



    In unserer Abteilung ersetze ich zusätzlich eine halbe OP-Schwester, eine halbe Krankenschwester und eine halbe Sekretärin. Ärzte machen Hörtests, legen sich die Blutröhrchen zurecht und richten die Unterlagen für eine Aufnahme.

    In den Zeiten der Ärzteschwemme war das eben so üblich, wer sich beschwerte, bekam zu hören, 'dann geh doch’. Heutzutage kommt das Chefärzten und Verwaltungsdirektoren nicht mehr so leicht über die Lippen, denn zu viele sind in letzter Zeit gegangen - an Privatkliniken, ins Ausland oder dorthin, wo sie für weniger Arbeit besser bezahlt werden, in medizinische Softwarefirmen zum Beispiel. In Ostdeutschland gebe es ein echtes Versorgungsproblem, stellt der Marburger Bund fest. Aber auch an manchen kleineren westdeutschen Krankenhäusern ist der Personalbestand bedrohlich ausgedünnt. In Rheinland-Pfalz sprechen Oppositionspolitiker von CDU und Grünen in erstaunlicher Einmütigkeit von einem "Notstand bei der Patientenversorgung". Die Mainzer SPD-Sozialministerin Malu Dreyer kontert:

    Nein es gibt keinen Notstand - weder bei der Patientenversorgung noch bei den Ärzten, das dementiere ich ausdrücklich. Wir sind im Dialog mit den Krankenhäusern und entwickeln mit ihnen Modelle, die es ermöglichen, Zeiten einzuhalten, das halte ich für nötig, um die Patientenversorgung auch qualitativ sicherzustellen.

    Die Ärzte haben auch eine Idee, wie ein solches Modell aussehen könnte:

    Auf der Kinderstation könnte ein Jahresarbeitszeitkonto sehr gut funktionieren. Wir sind regelmäßig im Winter überlastet, wenn Atemwegsinfekte und Durchfallerkrankungen epidemieartig über uns hereinbrechen, im Sommer geht es ruhiger zu. Nur ist die Krankenhausverwaltung gar nicht bereit, Überstunden zu erfassen. Als das Gewerbesaufsichtsamt neulich Unterlagen für eine Überprüfung der Arbeitszeiten verlangte, wurde ein Kollege sogar angehalten, Passagen in der Dokumentation zu schwärzen.



    Man hört es immer wieder, sie werden gezwungen, korrekt nach Dienstpan aufzuschreiben... potemkinsche Dörfer tatsächlich sind die Arbeitszeiten wesentlich länger. Die Krankenhäuser sind durch die Budgetdeckelung in einer Zwangssituation - aber es kann nicht sein , dass sie die Gesetze nicht beachten.

    So Jürgen Hoffart, der als Ombudsmann der Landesärztekammer Rheinland-Pfalz Beschwerden von Krankenhausärzten entgegen nimmt. Viele wollen ihren Namen und den Arbeitsplatz selbst der Kammer gegenüber nicht nennen, öffentlich wagt keiner, über die Missstände zu sprechen. Immer noch setzen Chefärzte jüngere Kollegen unter Druck, indem sie drohen, ihnen die Qualifikation zum Facharzt unmöglich zu machen.

    Aber ohne eine Mindestmaß an Zivilcourage wird man an den Zuständen nichts ändern, und die Zeiten für Mediziner sind günstiger als je.

    Mitte März teilten 16 Assistenzärzte der Inneren Medizin und der Kinderheilkunde des Diakonissenkrankenhauses Speyer ihrer Krankenhausleitung schriftlich mit, dass sie die Arbeitsbelastung für untragbar halten ...

    ...da die Ärzte bereits ihre physischen und psychischen Leistungsgrenzen mehr als überschritten haben und diese Tatsache bekanntermaßen zwingend eine Eigen- und Fremdgefährdung nach sich zieht. Wir geben daher nunmehr offiziell unsere Überlastung bekannt und lehnen die Übernahme jeglicher Verantwortung für Vorkommnisse und Schadensfälle ab, die sich aus den genannten Missständen ergeben.

    Seither gab es einige Krisensitzungen, grundlegend geändert hat sich in den betroffenen Abteilungen - nichts, sagen die Ärzte. Mit Arbeitszeitmodellen allein wird es auch nicht getan sein, meint Rudolf Henke vom Marburger Bund:

    Es geht auch um mehr Geld für ca. 15.000 Stellen. Die Regierung hat 0,2 Prozent Aufschlag aufs Budget bewilligt, die unionsregierten Länder wollten 1 Prozent, hat sich nicht durchsetzen lassen, aber man erkennt die Bereitschaft.

    Der Ohrenarzt aus dem Südwesten will auf die Reaktion der hohen Politik nicht warten.

    Für mich ist das Assistenzarzt-Dasein im Krankenhaus die Hölle. Ich bin jetzt Anfang 30, wenn ich so weitermache wie bisher, habe ich mit 40 einen Herzinfarkt. Wenn ich meinen Facharzt habe, mache ich eine Praxis auf, auch wenn man damit nicht mehr so viel verdient wie früher. Ich will mir für meine Patienten endlich so viel Zeit nehmen können, wie ich es für richtig halte.

    Ortswechsel: vom Südwesten in den Nordosten: Schwaan, Landkreis Bad Doberan, eine Kleinstadt in Mecklenburg-Vorpommern, etwas mehr als 8000 Bürger wohnen dort. In der Pfarrstraße, zentral gelegen, gleich hinter der Kirche, hat Gerhard Großmann seine Praxis.

    Auf Großmanns Praxisschild steht: praktischer Arzt. Sprechzeit hat er täglich vormittags, montags und Freitags auch am Nachmittag. Noch. Denn er wird bald 64 Jahre alt, will in den Ruhestand, möchte quasi den Äskulapstab übergeben.

    Hier ist eine Kabine fürs EKG. Hier eine zweite Kabine, wenn die Muttis mit ihren Babys kommen, haben sie Zeit sich auszuziehen. Hier werden sie gewogen, können sie stillen. Hier ist eine Mikrowelle. Ein Wartezimmer, auch auf Kinder eingerichtet: sie kommen und stürzen sich auf dieses Spielzeug. Unten ein relativ großes Archiv: bei manchen haben wir die Karten noch vom Ende der fünfziger Jahre.

    Über 130.000 Mark hat er in die Ausstattung der 100 Quadratmeter großen Praxis investiert: Mobiliar, Computer und Geräte; sein Nachfolger könnte davon profitieren:

    Er kann’s von mir geschenkt haben. Die Einrichtung, so wie sie jetzt ist kann kostenlos von einem Nachfolger übernommen werden.

    Und wie zur Bestätigung klopft Großmann bei jeder Betonung mit den Fingerspitzen hörbar auf den Tisch. Aber einen Nachfolger findet er einfach nicht.

    Ich kann nicht mit einem Plakat rumgehen. Das wäre auch schlimm, weil ich sofort meine Patienten verunsichere. Aber das was ich machen konnte, habe ich im Hintergrund versucht.

    Wolfgang Eckert, der Vorsitzende der Kassenärztlichen Vereinigung weist darauf hin, dass allein bei den Hausärzten im Land noch 107 freie Stellen zu besetzen sind:

    Das ist leider kein Einzelfall. Wir haben also in gut gehenden Praxen keinen Nachfolger gefunden. Im letzten Jahr haben 28 Ärzte die Praxis nicht wieder besetzen können.

    Das macht sich auch für die Patienten negativ bemerkbar: viele von ihnen sind alt und deswegen etwas immobil, da schmerzt jeder Meter mehr, wenn der Hausarzt nicht mehr vor der Haustür ist. Zu DDR-Zeiten hatte fast jede Kinderkrippe einen eigenen Kinderarzt, jeder Betrieb einen eigenen Doktor; die haben sich alle zur gleichen Zeit, 1990 selbständig gemacht; jetzt rollt jetzt eine große Pensionierungswelle durch das Land:

    In sechs Jahren brechen uns bei den Fachärzten rund 30 Prozent weg. Bei der derzeitigen Struktur werden wir rund 12 bis 15 Prozent nach besetzen können. Am schlimmsten ist bei den Nervenärzten, den Kinderärzten aber auch bei den Frauenärzten haben wir heute schon Besetzungsschwierigkeiten.

    Bei den Allgemeinärzten geht die Entwicklung noch schneller: nach pessimistischen Schätzungen müsste fast die Hälfte aller Praxen in den nächsten Jahren neu besetzt werden. Da ist die Politik gefordert, sagen die Ärzte. Nicht ganz so dramatisch sieht das Martina Bunge, PDS, die Sozialministerin von Mecklenburg-Vorpommern:

    Wir haben eine ernste Situation aber keinen Ärztenotstand. Die Versorgung ist gesichert, ambulant und im Krankenhausbereich. Das ist regional sehr differenziert, dass wir in Einzelgemeinden, teilweise in sehr schönen Urlaubsgebieten wenn ein Arzt oder Ehepaar geht niemand mehr da ist.

    Die Politik, die Standesvertretungen, die Berufsverbände, die Kommunen müssen sich darum kümmern, nicht allein die Ministerin, sagt die Ministerin. Die Ärzte drückt vor allem eine finanzielle Last. Auf dem Schreibtisch des Hausarztes Gerhard Großmann liegt das Journal der Kassenärztlichen Vereinigung Mecklenburg-Vorpommern. Aufgeblättert hat er ein Interview mit einer Ärztin. Die Kassen haben bei ihr schon mehrfach überprüft, wie viele Arzneimittel sie verordnet hat. Es waren zu viele. Einmal musste sie deshalb schon Regresszahlungen leisten. Dieses Damoklesschwert schwebt über den Ärzten und macht den Beruf nicht attraktiver. Zuviel Bürokratie, zuwenig Dienst am Patienten. Die Kassenärztliche Vereinigung wirft Politik und Krankenkassen vor, Ärzte stark verunsichert zu haben, weil sie mit Kanonen auf Spatzen schießen. Von ursprünglich 850 überprüften Ärzten im Jahr 1999 sei weniger als die Hälfte übrig geblieben, an die eine Regress-Forderung von insgesamt 120 Millionen Mark gestellt wurde.

    Zurück zur Praxis von Dr. Großmann, beziehungsweise gleich weiter, denn Hausärzte arbeiten nicht nur dort, sondern müssen auch zum Hausbesuchen raus, ins Umland:

    Da wir wenige Kollegen sind, sind wir mit dem Bereitschaftsdienst sehr hoch frequentiert. Und das ist das Problem: die normale Arbeit schaffen wir. Aber das andere ist das schlauchende. Und je älter man wird, um so belastender ist das und um so größer ist eigentlich die Zeit für die Erholung, die uns aber fehlt, da wir am nächsten Tag wieder arbeiten müssen.

    Auch das kein Einzelfall, sagt KV-Chef Eckert:

    Uns brechen in den Außenbereichen Pasewalk, aber auch Rügen und Usedom die Notdienste weg, weil die älteren Kollegen sagen ich bin schon 65, ich könnte noch meine Praxis machen, aber nachts die Treppen hoch, das kann ich nicht mehr. Also entweder ihr gebt mir die Genehmigung, dass ich partiell weiter machen darf, oder ihr haltet euch ans Recht, dann muss ich aufhören.

    Sozialministerin Bunge setzt bei ihrer Analyse noch einen drauf, sie verweist auf die schlechte Bezahlung:

    Es kommt zu dem generellen Vergütungsproblem, dass in den neuen Ländern die niedergelassenen Ärzte nur 77 Prozent für die gleiche Leistung gegenüber ihren Westkollegen bekommen, nun noch dazu, dass die besonderen Aufwendungen, die Fahrtkosten, die Gespräche nicht mit vergütet wird. Ich plädiere für einen Zuschlag- eine Landarztpauschale.

    Doch da wollen die Krankenkassen nicht mitziehen. Nur in einem Punkt sind sich in der Diskussion um den Ärztemangel fast alle einig: Hilfe von Außen, Ärzte aus Polen oder Tschechien wollen sie nicht. Landarzt Großmann:

    Wenn wir uns darauf verlassen, vernachlässigen wir die Probleme in unserem eigenen Land zu lösen. Und wir verstärken die Probleme aus den Herkunftsländern dieser Ärzte.

    Was tun - um Ärzte im Land zu halten, um deutsche Krankenhäuser wieder zu attraktiven Arbeitsplätzen zu machen, um finanzielle Reserven im System zu mobilisieren? Mehr Entscheidungsspielraum für Niedergelassene, Organisationsberatung für Krankenhäuser, Personalführungstraining für Chefärzte, flachere Hierarchien, das schlagen Ärzte-Vertreter vor. Und: Patienten sollten den Umfang des Versicherungsschutzes selbst mitbestimmen können. Dazu müsste die Politik offen legen, welche Leistungen künftig von der Solidargemeinschaft über die Krankenkassenbeiträge finanziert werden können und welche nicht. Im Wahlkampf allerdings steht gerade das nicht auf der Agenda.