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Novalis. Neue Bücher anlässlich seines 200. Todestags

Romantik ist ein Zauberwort. Es verklärt. Es enttäuscht. Wer die Verklärung erfährt, glaubt an die Romantik bis ans Ende seiner Tage. Wer die Enttäuschung erlebt, hasst die Romantik unnachsichtig für immer, läuft zur Gegenseite über und wird zum Rationalisten. Dabei ist die Romantik zunächst nichts als ein Wort. Das Wort hat eine verrückte Herkunft und geht zurück auf den Roman, ursprünglich die Bezeichnung für eine Erzählung, eine "Romanze", womit zunächst nicht so sehr die Geschichte, sondern eher deren Sprache gemeint war, nämlich die romanische Volkssprache im Unterschied zum Gelehrtenlatein des Mittelalters. Die Romanze bzw. der Roman beinhaltete phantasievolle Dichtungen, Abenteuererzählungen, gefühlvolle Liebesgeschichten, wie sie gerade im Zeitalter der Aufklärung gerne gelesen wurden.

Wilhelm Schmid | 19.03.2001
    Was "romantisch" war, wurde im ausgehenden 18. Jahrhundert demgemäß für unwahr, phantastisch, der Wirklichkeit entrückt gehalten, sei es bezogen auf Personen, Landschaften, Ideen, Gefühle oder ganze Epochen. Dies entdeckten die erst später so genannten "Romantiker" für sich und machten ein vorsätzliches Projekt daraus, um das Ungewöhnliche anstelle des Alltäglichen, das Unsichtbare anstelle des Sichtbaren, das Unendliche anstelle des Begrenzten zu suchen: "Die Welt muss romantisiert werden", gibt der Erzromantiker Novalis, 1772 geboren und vor 200 Jahren, am 25. März 1801 in Weißenfels gestorben, als Losung aus. Das wird zum Grundsatz eines ersten Surrealismus, der den Realismus der anbrechenden modernen Zeiten zu überlagern hofft. Auf jeden Fall gelingt es der Bewegung der Romantiker, den Begriff des "Romantischen" so nachhaltig in der modernen Geschichte zu etablieren, dass er zu einem Element der Alltagskultur, freilich auch zu einem Schimpfwort geworden ist. Ob im einen wie im anderen Fall auch das gemeint ist, was die Urheber darunter verstanden wissen wollten, steht allerdings in Frage.

    Zu seinem 200. Todestag wird Novalis nun einige Aufmerksamkeit zuteil. Sorgfältig gearbeitet und biographisch orientiert ist das Buch des Paderborner Literaturwissenschaftlers Winfried Freund über ihn. Zahlreiche Farbabbildungen versetzen den Leser auch optisch in die Welt Friedrich von Hardenbergs, der sich selbst, eine alte Familientradition wieder aufgreifend, "Novalis" nannte, "der Neuland Bestellende". Schritt für Schritt wird der Leser vertraut gemacht mit der Familie, vor allem aber mit den romantischen Freunden Friedrich Schlegel, August Wilhelm Schlegel und Ludwig Tieck, nicht zu vergessen den geistigen Mentor des Kreises, den Philosophen Johann Gottlieb Fichte - und Novalis' Braut Sophie, die zarte 13 Jahre alt war, als er sie kennen lernte, und bereits drei Jahre später starb.

    Winfried Freund folgend, war es wohl Fichte, der Novalis entscheidend inspirierte. Das gilt vielleicht auch für das romantische Projekt, das Leben zum Kunstwerk zu machen, und das hatte Konsequenzen für die Auffassung vom Roman. Denn unter "Roman" wird nun nicht mehr nur ein literarisches, sondern ebenso ein existenzielles Werk verstanden; für den romantischen Lebensvollzug soll, so Novalis, gelten: "Das Leben soll kein uns gegebener, sondern ein von uns gemachter Roman sein." Wie sehr dies typisch für die Romantiker war, wird am später von Hegel erhobenen Vorwurf deutlich, es sei ihnen darum gegangen, als Künstler zu leben und ihr Leben "künstlerisch zu gestalten".

    Eigenartigerweise verfolgt Freund in seinem Buch über Novalis den Gedanken vom Leben als Kunstwerk nicht weiter. Dabei hiess es doch bereits in der 1798 publizierten Fragmentsammlung "Blüthenstaub" von Novalis:

    "Lehrjahre im vorzüglichen Sinne sind die Lehrjahre der Kunst zu leben. Durch planmäßig geordnete Versuche lernt man ihre Grundsätze kennen und erhält die Fertigkeit, nach ihnen beliebig zu verfahren."

    Diese Betonung der "Versuche" markiert das romantische Verständnis von Lebenskunst als modern im Unterschied zu antiken Konzepten, bei denen es nie um Versuche, sondern immer um definitive inhaltliche Festlegungen des zu lebenden Lebens ging. Wenn das Individuum sich für Versuche entscheidet, dann besteht die Kunst zu leben darin, "Leben zu konstruieren", wie es bei Novalis heisst. "Jeder Mensch sollte Künstler sein" - dieser Satz, der sehr an Joseph Beuys erinnert, entstammt tatsächlich der Fragmentsammlung "Glauben und Liebe" von Novalis.

    Aufmerksam auf das "Leben als Kunstwerk" ist der renommierte Literaturhistoriker Hermann Kurzke in seinem weniger biographisch, eher pointiert theoretisch angelegten Buch, einer überarbeiteten Neuauflage seiner Publikation von 1988 über Novalis. Schon ein Buch über Thomas Mann hatte er vor nicht allzu langer Zeit unter diesen Titel gestellt. Aufmerksam ist er vor allem auf den Zusammenhang der Widersprüche, der einen guten Teil des Lebens als Kunstwerk bei Novalis ausmacht: Der scharfsinnige Theoretiker, der zugleich ein Träumer ist; der nüchterne Pragmatiker, der zugleich die romantische Liebe pflegt, ausgehend nämlich von der Auffassung, dass das Individuum und die Welt, das Leben und die Geschichte einer Polarität bedürfen, zwischen deren Polen sozusagen der Strom des Lebens fliesst. Dies zugrunde gelegt, kann mit der bei Romantikern notorisch vermuteten Harmonie niemals eine Aufhebung der Polarität gemeint sein, sondern nur die Aufrechterhaltung und Ausbalancierung der Pole; eine spannungsvolle Harmonie. Auch die "negativen" Seiten der Existenz werden konsequenterweise in ihrer Bedeutung als anderer Pol anerkannt: Krankheit, Wahnsinn und Tod - die Lebenskunst kann nicht darin bestehen, von ihnen abzusehen. Und die Geschichte oszilliert zwischen dem Pluspol des Ideals und dem Minuspol der dahinter immer zurückbleibenden Realität: Die versuchte Annäherung mündet niemals in eine Verschmelzung des Realen mit dem Idealen.

    Die Grundthese von der Polarität aller Dinge und allen Lebens spielt eine ausserordentlich wichtige Rolle. Polarität ist die Bedingung des Lebens, vor diesem Hintergrund kann es nicht weiter überraschen, wenn man den romantischen Gefühlsmenschen Novalis mit der Erschliessung von Braunkohlevorkommen befasst sieht, ein Bergbaubeamter, der ausser seinen Gefühlen auch die Wissenschaft der Geologie liebt. Wissenschaft hat, theoretisch wie praktisch, sehr wohl einen Ort in der Romantik und ist Teil der romantischen Lebenskunst, um Grundstrukturen der Lebenswirklichkeit und der Welt um uns her zu erschliessen. Allerdings wird sie immer im Bewusstsein betrieben, dass die Wirklichkeit weit umfassender bleibt, als alle Wissenschaft erforschen kann, immer auch wunderbar, unbegreiflich und geheimnisvoll, allen Bemühungen, die Welt definitiv zu durchdringen und aufzuklären, zum Trotz. Die Wissenschaft wird keineswegs negiert, jedoch in ihrem Optimismus, Positivismus, Objektivismus relativiert. Der Romantiker bewahrt die gebotene Distanz zum Wissensanspruch und beharrt darauf, dass es über die Wissenschaft hinaus und an ihr vorbei immer noch "etwas" gibt, und gäbe es dies nicht, so müsste man es erfinden. Ansonsten wird die Welt nackt und kalt, tödlich langweilig.

    Romantik ist also nicht nur die Wiederentdeckung des Gefühls, nicht nur die Frontstellung gegen die kalte Rationalität: Das Gefühl ist nur der andere, ergänzende Pol zur Wissenschaft. In jedem Fall kommt es für die Romantik darauf an, bei aller Bildung und Gestaltung eines Individuums an Körper, Seele und Geist, es nicht in sich selbst einzuschliessen, denn damit wäre die romantische Lebenskunst völlig verfehlt. Es bedarf vielmehr, in Novalis' Worten, einer "Erhebung des Menschen über sich selbst". Die Philosophie, die hier zur Lebenskunst wird, muss die Überschreitung kennen: "Ohne Ekstase", so sagt er, "ist es mit der ganzen Philosophie nicht weit her". Die Ekstase ist das Hinausstehen des Selbst ins Andere, in die Welt, hin zum Anderen in jedem Sinne, und in diesem Sinne ein Aussersichgeraten. Nur wenn diese Offenheit zum Anderen zustande kommt, kann von einem vollendeten Menschen die Rede sein. Daher will Novalis über die Dinge, das Bedingte, das Bestehende und seine Erscheinungen hinaus zum Unbedingten, Unendlichen, in dem die Lebenskunst erst ihren wahren Horizont findet.

    Die wichtigste Technik der Romantik, das eigentliche "Romantisieren", ist daher die so genannte "Potenzierung", und dies meint eine Universalisierung der Perspektive, eine Erweiterung des Blicks bis zum weitest möglichen Horizont, und das ist der Horizont der Horizontlosigkeit, also der Unendlichkeit. Und zugleich bewahrt sich ein so reflektierter Romantiker wie Novalis ein waches Bewusstsein dafür, dass es dabei nicht so sehr um die Feststellung der definitiven Wahrheit des Seins, sondern eher um die Produktion eines Scheins geht:

    "Die Welt muss romantisiert werden. So findet man den ursprünglichen Sinn wieder. (...) Diese Operation ist noch ganz unbekannt. Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehen, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe, so romantisiere ich es."

    Kurzke widmet diesem Fragment in seinem Buch einen eigenen Abschnitt. Gerne hätte er diesen noch ausführlicher gestalten dürfen, um dem Grundgedanken gerechter zu werden. Denn hier geht es um die Quintessenz der Romantik, die Öffnung der Grenzen des modernen Denkens in ein X, das nicht näher zu benennen ist. Vielleicht war dies einstmals die wesentliche Funktion von Religion: etwas Anderes offen zu halten, welcher Name ihm auch immer verliehen wird. Ein Romantiker wie Novalis war jedenfalls davon umgetrieben, dieses X zu thematisieren, und er tat dies keineswegs nur auf schwärmerische, sondern auf nüchterne Weise; daher vielleicht auch seine Rede vom "Xstenthum", um von Religion überhaupt, und nicht auf herkömmliche Weise nur vom Christentum zu sprechen.

    Die beiden vorgestellten Bände bieten erste Einführungen in das Leben und Denken dieses Romantikers. Für weitergehenden Bedarf gibt es umfangreichere Bücher, etwa eines von Barbara Becker-Cantarino, im letzten Jahr erschienen, das sich eingehend den vernachlässigten "Schriftstellerinnen der Romantik" widmet. Unüberholt bleibt weiterhin das bereits 1992 erschienene Standardwerk von Lothar Pikulik: "Frühromantik - Epoche, Werke, Wirkung". Ein genaueres Studium der Romantik wäre wünschenswert, um ihr Potenzial zu einer Korrektur der Moderne neu zu nutzen, die nach zweihundert Jahren Moderne-Erfahrung wohl auf der Tagesordnung steht. Vielleicht gelingt es, die Romantik nun endlich zusammenzuspannen mit ihrem Gegenpol, der Pragmatik der rationalen Welt, zu einer pragmatischen Romantik. In der Hoffnung, die Romantik, und mit ihr die Moderne, in einer anderen Moderne lebbarer zu machen.