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Novellen mit vier Strophen

Der kanadische Singer-Songwriter Mark Berube wird gerne mit dem jungen Leonard Cohen verglichen. Für sein Album "June in Siberia" erntet er viel Kritikerlob, größtenteils wegen der ausgefeilten, introspektiven Texte.

Mark Berube im Gespräch mit Anja Buchmann |
    Mark Berube: Der ganze Song und somit auch der Albumtitel ist von einem befreundeten Fotografen aus Vancouver inspiriert, ein großer Eisenbahnfan. Er hatte das Bild eines Kohlezugs in Nordchina oder der Mongolei in den 60er-Jahren gemacht - ein alter Zug mit einer dicken Rauchwolke. Dieses Foto hat sich mir eingeprägt; auch ich mag Eisenbahnen sehr, insbesondere Züge in der Prärie. Es gab ja in Kanada etwa 150 Jahre lang nur zwei Bahnlinien. Es ist deses Bild, dass jemand eine Nachricht nach Hause bringt. Der Zug erscheint am Horizont und nähert sich langsam über das platte Land, die Wagen werden allmählich größer, die Rauchwolke wächst an und etwas Wunderschönes kommt auf Dich zu. Die Idee bei diesem Album "June in Siberia" war, alles häuslich aus einem begrenzten Blickwinkel heraus zu beobachten. Ich erzähle großenteils davon, was in meinem Haus oder in der Nachbarschaft passiert. Über die plötzlichen Schönheiten im alltäglichen Leben.

    Anja Buchmann: Es gibt zum Beispiel einen Song, Tailored To Fit, in dem gar nicht viel passiert und Sie nur von ihrem kleinen Hinterhof erzählen.

    Berube: Ja, das ist tatsächlich einer der Songs, der einfach nur beschreibt, wie ich von der Küche in meinen Hinterhof gehe, mich dort hinsetze und mir die Bäume und Blüten anschaue. Es ist eine Herausforderung, über ein solch weltliches, normales, fast langweiliges Thema in einem Stück zu schreiben. Denn es passiert ja nichts aufregendes. Und es war spannend herauszufinden, wie man solche Momente interessant gestaltet.

    Buchmann: Wie gehen Sie normalerweise beim Komponieren vor - beginnen Sie mit der musikalischen Struktur oder haben sie oft schon einen Text als Grundlage?

    Berube: Meistens beginne ich mit der Musik - dann weiß ich, was für ein Raum mir für den Text bleibt. Manchmal vereinfache ich auch erst mal die musikalischen Parameter, um mir mehr Platz für die Worte zu verschaffen. Denn mein liebster Teil beim Songschreiben ist es, in die musikalische Struktur zu gehen und dort den Text zu integrieren. Das kann ich stunden- und tagelang machen, ich liebe es.

    Buchmann: Wirklich? Was fasziniert Sie so sehr gerade an diesem Teil des Songschreibens?

    Berube: Es ist die Idee, eine Geschichte mit meinen eigenen Erfahrungen zu kreieren. Eine Novelle, mit drei oder vier Strophen, die wiederum drei oder vier Zeilen haben. Also muss die Sprache sehr ökonomisch genutzt werden. Ich brauche lange für diese Arbeit, manchmal erreiche ich das gewünschte Gesamtbild, manchmal nicht ganz. Ich versuche dabei, genug Tiefe und Bildhaftigkeit in die Texte zu legen - eben das, was man auch von einer Kurzgeschichte oder Novelle bekommen kann.

    Buchmann: Also arbeiten Sie sehr sorgfältig an den Texten, prüfen jedes Wort so lange, bis es für Sie wirklich stimmt. Wo ist Ihnen das besonders gelungen?

    Berube: Am glücklichsten bin ich bei dem Song Gone Clear. Er beschreibt nur eine kurze Periode von nachmittags um drei bis abends um sechs Uhr. Es geht um den Moment, als ich den Telefonanruf bekam, dass mein Großvater gestorben ist. Mein Großvater war im Zweiten Weltkrieg, wurde von den Japanern gefangen genommen und musste vier Jahre in einem Gefangenenlager arbeiten. Er hat überlebt, kam zurück nach Kanada und hat dort eine Farm aufgebaut. Er hatte ein unglaubliches Leben und war eine wichtige Person für mich als Kind. Und all dies habe ich versucht, in der kurzen Zeitspanne eines Nachmittags auszudrücken.

    Buchmann: Lassen Sie nach dem eigenen Kompositionsprozess die Band auch noch an der Musik mitarbeiten oder ist alles schon bis ins Detail arrangiert?

    Berube: Normalerweise hab ich eine grobe Idee davon, was ich möchte. Aber ich schätze meine Bandmitglieder und gebe ihnen einige Freiheiten mitzugestalten. Wenn ich ein Musiker in einer Band wäre, wo ich einfach nur meinen vorgefertigten Part spielen muss - das wäre weniger interessant für mich. Aber wenn Du selbst die Stücke mit arrangiert hast, dann bist Du auch Teil des Songs und hast eine größere Präsenz auf der Bühne. Und das macht die Band stärker.

    Buchmann: Ihre Band ist eine Mischung aus Anglophonen und Frankophonen - in welcher Sprache unterhalten Sie sich?

    Berube: Das kommt drauf an, wo wir sind und ob jemand anderes bei uns ist. Unser Soundtechniker zum Beispiel ist Franzose. Wenn er dabei ist, sprechen wir Französisch. Und es gibt natürlich viel Raum für Witze über Franzosen und über Quebecois.

    Buchmann: Es gibt immer wieder Spannungen zwischen den Anglophonen und den Frankophonen in Montreal. Nicht zuletzt, nachdem bei der letzten Quebec-Wahl, im September 2012, auf die neue Premierministerin Pauline Marois ein Attentat verübt wurde, bei dem ein Techniker ums Leben kam und der Attentäter auf Französisch gerufen haben soll "Die Engländer wachen auf". Sicher ein Extrembeispiel, aber wie empfinden Sie selbst als halb Anglophoner, halb Frankophoner, die Situation der beiden Gruppen?

    Berube: Das hat eine lange Geschichte. Ich denke, die stille Revolution in Quebec in den 60er-Jahren - die sich gegen die Übermacht der katholischen Kirche richtete und ein neues frankokanadisches Nationalbewusstsein schuf - oder das sogenannte Gesetz 101 in den 70ern spielen dabei eine wichtige Rolle. Dieses Gesetz hat unter anderem dafür gesorgt, dass alle neuen Immigranten auf französische Schulen gehen müssen. Als Anglophoner aus Quebec oder anderswo aus Kanada dahingegen hat man die Wahl zwischen englischer und französischer Schule. Die Früchte dieses Gesetzes ernten wir jetzt: Wir haben asiatische Kinder und Menschen aus der ganzen Welt, die hier in Quebec fließend Französisch sprechen und meistens sprechen sie auch Englisch. Allein, da man der amerikanischen Popkultur kaum entkommen kann. Und Mehrsprachigkeit ist so wichtig! Natürlich spielen einige Politiker immer noch mit den Ressentiments zwischen Englisch- und Französischsprachigen und mit einem richtigen Angstfaktor - das ist mit Vorsicht zu genießen. Aber ich denke, dass heute viel Positives passiert und die Anglophonen und Frankophonen meist gut miteinander klar kommen. Natürlich - das Attentat und die Aussage "Les Anglophones se reveillent", also "Die Engländer stehen auf", war furchtbar und verachtenswert. Das bekommt natürlich eine große Aufmerksamkeit in den Medien, solche Taten und Ansichten stehen aber nicht für die Mehrheit.

    Buchmann: Es gab sogar einige Jahre so etwas wie eine Sprachpolizei in Montreal. Was für eine Aufgabe hatte die?

    Berube Das geht auch auf das Gesetz 101 zurück. Einigen Aspekten stimme ich zu, anderen wiederum nicht. Zum Beispiel der Regel, dass jedes öffentliche Schild französisch sein muss, und wenn es auch auf Englisch geschrieben wird, dann müssen die französischen Wörter auf jeden Fall doppelt so groß gedruckt sein. Eine Zeit lang wurden deswegen tatsächlich viele Strafzettel verteilt.

    Buchmann: Aber das gibt es heute nicht mehr.

    Berube: Es ist selten. Ich habe seit einigen Jahren nichts mehr darüber gehört. Allerdings denke ich auch, dass einige Anglophone ein bisschen an ihrem Französisch arbeiten können. Es ist einfach die Initiative, sein Bemühen zu zeigen. Es muss ja gar nicht immer ein großes politisches Ding werden, so was hilft schon im Kleinen für die Interaktion der beiden Gruppen. Wenn jemand einfach annimmt, dass alle Englisch sprechen, ist das nicht sehr respektvoll in einer mehr oder weniger französischen Provinz. Eine kleine Geste würde doch schon genügen.