"Einsamkeit hat etwas Schicksalhaftes an sich. Das ist ein Seinsmodus. Eine Art in der Welt zu sein, an der man nicht so viel ändern kann, auch wenn man unter Leute geht, kann man das nicht ändern. Das ist ein Lebensgefühl. Du fühlst dich irgendwie in dieser Welt wie ein Alien."
Fremd und verloren, so beschreiben viele Betroffene ihre Erfahrungen. Auch dieser Liedermacher, studierter Philosoph und langjähriger Busfahrer aus dem Ruhrgebiet - nennen wir ihn Anton Reese. Für den 53-Jährigen ist die Einsamkeit nicht nur November-Blues, sondern eine langjährige Lebensgefährtin.
"Es ist wie ein Makel"
Für andere ist es eine Phase: ein neuer Job, ein neuer Wohnort - und es dauert, bis das soziale Netz wieder geknüpft ist. Oder eine Beziehung geht in die Brüche, ein geliebter Mensch stirbt, eine schwere Krankheit wird diagnostiziert - und man fühlt sich plötzlich allein. Es gibt viele Gründe zu vereinsamen. Fast immer aber ist es schwer, darüber zu reden, denn Einsamkeit gilt als Schwäche und wird tabuisiert. Anton Reese jedoch will nicht mehr schweigen.
"Es ist wie ein Makel, man will ja dazugehören, man will ja geliebt sein vor allem. Da ich aber gemerkt habe: Selbst wenn du nicht dazu stehst, liebt dich ja auch keiner (amüsiert) - das bringt überhaupt nix zu lügen, das bringt gar nichts! Sondern wichtiger ist es, zu sich zu stehen, das zu benennen und darauf zu hoffen, dass es mal einen Menschen gibt, der das versteht."
Viele Menschen rufen dann bei einer der bundesweit über 100 Telefonseelsorge-Stellen an, andere mailen dorthin oder nehmen das Angebot zum Chatten wahr. Einsamkeit gilt hier als zentrales gesellschaftliches Thema, auch wenn sie oft versteckt daherkommt. In Sätzen wie: "Ich habe keinen zum Reden". Oder: "Niemand versteht mich". Ob es nun 60 oder 80 Prozent aller Anrufe sind, auf Zahlen will sich der Leiter der Telefonseelsorge Düsseldorf, Pfarrer Ulf Steidel, nicht festlegen.
Einsam trotz Freunden und Familie
"Der Impuls, die Telefonseelsorge anzurufen, hat mit Einsamkeit zu tun", sagt Ulf Steidel. "Neben den tatsächlich zurückgezogen lebenden Menschen sind es Menschen, die gut eingebunden sind, und die dennoch ein Thema haben, von dem sie sagen: ‚Ich möchte es nicht wieder in der Familie besprechen, im Freundeskreis, ich brauche mal eine Stellungnahme von außen.‘ Diese Facette von Einsamkeit nennt die Einsamkeitsforschung ‘Alone in the Crowd‘. Das heißt, Menschen sind gut eingebunden und haben trotzdem das Gefühl, dass sie mit für sie wesentlichen Themen nicht vorkommen."
"Alone in the Crowd" – "Einsam in der Menge", selbst bei denen, die Freunde und Familie haben, einen Job und gut vernetzt sind. Je nach Altersgruppe können zehn bis 15 Prozent betroffen sein, schätzt die Einsamkeitsforscherin Maike Luhmann aus Bochum, bei über 85-Jährigen deutlich mehr. Einige sprechen sogar von einer Epidemie. Die Folge können Stresskrankheiten wie Bluthochdruck oder Depressionen sein.
Mehr gesellschaftliche Risikofaktoren
Ob die Einsamkeit in Deutschland insgesamt gewachsen ist, dazu gibt es unterschiedliche Studienergebnisse. Eindeutig ist für Telefonseelsorger Ulf Steidel jedoch, dass die Zahl gesellschaftlicher Risikofaktoren steigt.
"Dieser flexible Mensch, häufiger die Stelle wechseln, häufiger umziehen, vielleicht sogar auch Arbeit vor Familiengründung, wie auch immer, sind natürlich Risikofaktoren, nicht wirklich irgendwo anzukommen und Beziehungen kleinschrittig aufzubauen. Ich glaube in der Tat, dass moderne und postmoderne Gesellschaft mehr Risikofaktoren hat, auch für Einsamkeit", sagt Steidel.
"Man ist erstmal auf sich alleine gestellt: Erste eigene Wohnung, wenn man nicht gerade in der WG wohnt, ist es das erste Mal, dass man völlig alleine abends in einer Wohnung einschläft. Und man weiß: Hier bin nur ich! Hier ist nicht im Nebenzimmer noch jemand, der hier auch liegt. Das ist eine neue Situation, da kann man auch Einsamkeit verspüren. Wenn man denkt: Da ist jetzt nicht jemand, der morgens mit dir am Küchentisch sitzt."
Studentenleben mal anders erzählt. So ging es Stephan Orth, als er anfing zu studieren: weg aus der vertrauten Kleinstadt am Niederrhein, neu und unerfahren in Münster. Als der Vater plötzlich starb, fühlte er sich noch verlorener.
"Das ist eine Gemeinschaftsaufgabe"
Mittlerweile ist der 26-jährige Student der katholischen Theologie in Münster heimisch geworden, aber die Anfänge sind unvergessen. Im vergangenen Jahr hat Stephan Orth mit seiner Kirchengemeinde St. Lamberti die Initiative "Blickpunkt Menschen" initiiert: Wer mitmachte, trug einen orangefarbenen Button an der Kleidung und signalisierte damit: "Ich bin ansprechbar".
"Es ist total wichtig, dass dieses Thema nicht immer ausgegrenzt wird, und man die Leute, die sich als einsam empfinden, als Menschen mit einer Schwäche betrachtet, sondern dass man sagt: Das ist eine Sache, die ist jeden Tag Realität und das ist total wichtig, dass wir alle das als Gemeinschaftsaufgabe begreifen", sagt Orth. "Und zwar nicht nur im Blick auf Menschen, die alt sind, sondern das ist ein Gesamtthema der Gesellschaft. Das kann jeden durch ganz viele verschiedene Situationen und Momente irgendwann mal treffen."
Psalmen und Unterstützung aus der Kirchengemeinde
Bühne frei für die Einsamkeit – raus aus der Tabuzone! Zuletzt ist das Thema präsenter geworden, auch weil es zunehmend gut vernetzte Jugendliche oder die vielbeschäftigte mittlere Generation betrifft: Die Bundespolitik hat sich den Kampf gegen Einsamkeit sogar in den Koalitionsvertrag geschrieben und Nachbarschaftsinitiativen wie "nebenan.de" verzeichnen bundesweit Zulauf. Und so kommt ein altes Menschheitsthema in neuem Gewand daher, meint Theologieprofessorin Klara Butting, die über biblische Psalmen forscht:
"Die Psalmen adressieren Menschen, die völlig isoliert sind, in einer Situation der Globalisierung oder mit ökonomischem Fortschritt wie heute. Und es gibt Menschen, die kommen unter die Räder. Das erste Gebet, Psalm 3, spricht das gleich an: Viele sind’s, die mich bedrängen, viele sagen: Der hat keine Chance mehr! Dieses: Ich bin da und alle sind gegen mich. Ich würde das Psalm-Buch als einen Weg beschreiben, der in dieser Situation interveniert, dass ich nicht der Einsamkeit verfalle und mich innerlich verhärte und die Welt abschreibe."
Intervention mit Klage und Anklage, aber auch mit eigenen Schritten raus in die Welt. - Der Busfahrer-Philosoph Anton Reese aus dem Ruhrgebiet etwa hat mittlerweile einen Teilzeitjob als Hausmeister in einer Kirchengemeinde angenommen.
"Die meisten Leute, mit denen ich zu tun habe, geben einem nicht das Gefühl, dass man ein Alien ist", sagt Reese. "Das reicht dann in der Regel schon, das muss gar nichts Großes sein."
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