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Nr. 147/99

"Es träumt sich nicht mehr recht von der Blauen Blume. Wer heut` als Heinrich von Ofterdingen erwacht, muß verschlafen haben." Mit dieser siebzig Jahre alten Notiz Walter Benjamins versuchen auch heute noch alle professionellen Verächter des Romantischen ihren Argumentationsbedarf zu decken. Tatsächlich scheint im derzeitigen Überangebot an ideologischen Ersatzverzauberungen nichts entbehrlicher, als an die Heilsversprechen der Romantik anzuknüpfen. Schon Heinrich Heine hatte den Naturschwärmern der Romantischen Schule energisch die Leviten gelesen - was ihn allerdings nicht davon abhielt, sich in seinen Liedern schamlos ihrer Formensprache zu bedienen. Bei unseren zeitgenössischen Dichtern muß man nur ein bißchen genauer hinsehen, um alsbald verblüfft die Entdeckung zu machen, daß die Romantik weiterhin Quellgrund für modernes Dichten geblieben ist.

Michael Braun |
    So ist es wohl mehr als nur ein historischer Zufall, daß sich im Oktober 1997 , fast genau zweihundert Jahre nach Gründung der legendären Zeitschrift "Athenäum", fünf Vertreter der Dichter-Zunft in der Lessing-Stadt Wolfenbüttel zu einem ernsthaften Diskurs über das Romantische zusammenfanden. Unter dem Stichwort "Romantisches Deutschland" debattierten dort fünf Lyriker über die Legitimität und Aktualität des Romantischen - ihre Thesen sind nun im neuen Heft, der Nummer 147 der Literaturzeitschrift "Sprache im technischen Zeitalter" ausführlich dokumentiert.

    Dieter M. Gräf unternimmt hier den kühnen Versuch, den geistesgeschichtlichen Kontext ein wenig durcheinanderzuwirbeln und eine Nähe der historischen Romantik zum indischen Mystizismus und zu anderen spirituellen Bewegungen der Gegenwart zu behaupten. "Der Sinn für Poesie hat viel mit dem Sinn für Mystizismus gemein", zitiert Gräf seinen Kronzeugen Novalis - um anschließend darzulegen, daß die Erben der Romantik "das zerebrale Spezialistengebiet" der Literatur verlassen und sich bevorzugt in den Körpertherapiestuben zwischen Zen, Aura Soma, Tai Chi und Bioenergetik eingenistet haben. Gräfs Lyrikerkollegin Dorothea Grünzweig beschreibt dagegen einen klassischen Bildungsweg von der pietistischen Erziehung zur Verheißung des romantischen Denkens. Mit einer hierzulande kaum gehörten Emphase schwärmt Grünzweig von den paradiesischen Glücksversprechen des Romantischen: Sie spricht vom "hohen Sehnwert" romantisch inspirierter Texte, von ihrem "Trost"-Charakter, der auf "das Einst einer Erfüllung" gerichtet sei. In solcher Rede scheint noch einmal Novalis’ Leitidee vom goldenen Zeitalter mitzuschwingen, zumindest ist ihre Vorstellung des Romantischen von einem genuin religiösen Impuls bestimmt.

    Den anregendsten Essay des Heftes hat der in Köln lebende Dichter Norbert Hummelt verfaßt. Er geht aus von den ästhetischen Maximen der Schlegels und des poetischen Absolutisten Novalis, um anschließend in einem poetologischen Selbstversuch die romantische Motivik zeitgenössischer Dichtung zu analysieren. Hummelt demonstriert die ungebrochene Faszinationskraft des Romantischen am Werk des Dichters Thomas Rosenlöcher, einem Erben der Eichendorffschen Sehnsuchtsgeste. Bei aller ironischen Ernüchterung sind die Naturphänomene immer noch als auratische, ja beseligte in Rosenlöchers Gedichten präsent. Die einzige skeptische Stimme in "Sprache im technischen Zeitalter" stammt von der Lyrikerin Brigitte Oleschinski. Sie warnt in ihrem Beitrag ausdrücklich vor dem "Grundmißverständnis des Originalgenies".

    So bleiben unsere Dichter auf ihre Ambivalenzen zurückgeworfen: Eine Wiedergeburt der Romantik als Kunstreligion wird es in Deutschland nicht geben können - der Dichter als "ächter Priester", wie er Novalis vorschwebte, bleibt eine verzichtbare Figur. Aber als belebender Impuls und kollektiver Unterstrom der Lyrik ist das Romantische unbesiegbar.