Friedbert Meurer: Herr Steinbrück, Ihr Parteivorsitzender Franz Müntefering hat ja eine Debatte ausgelöst - um nicht zu sagen angezettelt - über die wachsende Macht des Kapitals, dass es verantwortungslose Unternehmer gebe, Investoren wurden von Müntefering als "Heuschreckenschwärme" bezeichnet. In Ihren Wahlkampfauftritten und Interviews haben Sie sich ja hinter Müntefering gestellt. Will die SPD als antikapitalistische Partei jetzt die Wahl gewinnen?
Peer Steinbrück: Nein, das sind die üblichen Überzeichnungen. Im übrigen: Jeder drückt das aus in seinen eigenen Worten, Franz Müntefering macht das mit seinen, ich mache das mit meinen. Wir haben es mit vielen Unternehmern zu tun, und ich habe täglich Kontakt mit Mittelständlern, mit Vorständen, mit Geschäftsführungen, die einem hohen unternehmerischen Ethos folgen - überhaupt keine Frage. Aber es ist erlaubt, auch einige Erscheinungen, auch einige Beispiele aufzugreifen, die kritikwürdig und kritikfähig sind. Und das hat Franz Müntefering getan und das tue ich auch.
Meurer: Sie gelten ja als wirtschaftsfreundlich, als Reformer . . .
Steinbrück: Ja, das schließt das doch nicht aus, das schließt das doch keineswegs aus. Es schließt es ja auch nicht aus, dass man Gewerkschaften kritisiert, wie man das in der Vergangenheit auch getan hat, offenbar allerdings mit einer anderen, weniger aufgeregten Reaktion von vielen - nach dem Motto: Auf die Gewerkschaften darf man sehr kritisch eingehen, offenbar auf Unternehmens- und Wirtschaftsvertreter nicht. Wir haben es mit Entwicklungen zu tun, die zum Beispiel kein geringerer als Helmut Schmidt bezeichnet als "Raubtierkapitalismus". In seinem Buch "Die Zukunft der Mächte" ist das dargestellt - zum Beispiel mit Blick auf die Entartung, wie er es nennt, von Kapitalmärkten, Finanzströme, die sich abgekoppelt haben von Güterströmen, die Fixierung auf Vierteljahresbilanzen, Börsenkurse, die zu sehr kurzsichtigen Entscheidungen führen, die Fehlerhaftigkeit unternehmerischer Strategien, zum Beispiel auch im deutschen Bankensektor. Oder die mangelnde Vorbildfunktion von einigen Vertretern, oder die Tatsache, dass Wirtschaftsverbandsvertreter nichts besseres zu tun haben, als nach der nächsten Steuersenkung sofort weitere Nachforderungen zu stellen. Das sind alles Punkte, die man zum Gegenstand von Kritik machen darf.
Meurer: Wenn Sie mangelnde Vorbildfunktion ansprechen: Wen meinen Sie mit Wirtschaftsverbandsvertretern, für die das Ihrer Meinung nach gilt - zu wenig Vorbildfunktion?
Steinbrück: Ich stehe sehr unter dem Eindruck eines Interviews von Herrn Hundt, dem Präsidenten des BDA vom letzten Wochenende in der "Süddeutschen Zeitung", wo ich den Eindruck habe, dass er mindestens mit einem Satz hätte erwähnen dürfen, dass die Körperschaftssteuer unter dieser SPD-geführten Bundesregierung von 40 beziehungsweise 45 Prozent auf 19 Prozent gesenkt werden soll, dass zu Zeiten von Helmut Kohl der Spitzensteuersatz der Einkommensteuer bei 53 Prozent lag, heute bei 42 Prozent. Und was höre ich? Immer nur ein weiteres Lamento. Oder der Vorstandsvorsitzende, der namentlich übrigens auch meinen Aktienkurs in den Keller gefahren hat, und zwar granatenhaft, aber anschließend um eine zweistellige Millionenabfindung verhandelt. Das hat mit Leistung nichts zu tun. Oder der Vorstandsvorsitzende, der öffentliche Forschungs- und Entwicklungsmittel bekommen hat aus den Haushalten dieser Republik, und anschließend darüber räsoniert, dass er seinen Steuerstandort nach Österreich verlegt, oder die Vorstände von Krankenkassen, die im letzten Jahr ein Plus von 4,5 Milliarden Euro gemacht haben, nicht aufgrund eigener Verdienste, sondern einer Gesundheitsmodernisierung, die diese Bundesregierung und diese Landesregierung vertreten hat, für die wir verhauen worden sind - aber anschließend in die Öffentlichkeit gehen, dass die Vorstände erhöhte Bezüge bekommen, statt den Krankenversicherungsbeitrag abzusenken. Das sind alles Erscheinungsformen, und die darf man aufgreifen. Ich muss der alleinstehenden Verkäuferin mit 950 Euro vermitteln, warum wir eine Praxisgebühr brauchen, ich muss denen vermitteln, dass wir Reformen durchsetzen müssen und brauchen in dieser Republik, die nicht nur vergnügungssteuerpflichtig sind. Dann erwarte ich von denjenigen, die in den oberen Etagen sind, gesellschaftliche Verantwortung und eine ausgesprochene Vorbildfunktion.
Meurer: Sie bekommen ja dafür und Franz Müntefering bekommt dafür vom Publikum relativ viel Applaus, die Umfragen zeigen das, dass viele ähnlich denken. Nur - was will denn die SPD tun gegen Manager, die sich die Millionen in die Tasche stecken?
Steinbrück: Gar nichts. Kein Mensch redet davon, dass nach irgendwelchen rechtlichen Instrumenten gerufen wird. Aber eine gesellschaftspolitische Debatte anzustoßen, wo es um die Gesamtverantwortung der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen geht, das ist, glaube ich, richtig - gerade in Zeiten zu Beginn dieses 21. Jahrhunderts, wo diese Republik sich neu justieren muss. Und das erstreckt sich dann nicht nur auf Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und ihren Vertretungen in Form von Gewerkschaften und Betriebsräten.
Meurer: Die Wählerinnen und Wähler werden aber mehr erwarten als nur Kritik. Das heißt, sie erwarten Änderungen, dass das nicht so bleibt, dass unten gespart wird und oben sich einige bereichern.
Steinbrück: Nun, ich habe ja auf die Zahlung von Abfindungen, genehmigt durch Aufsichtsräte, keinen Einfluss. Wie stellen Sie sich das vor? Ich erwarte nur, dass diese Aufsichtsräte mit solchen Entwicklungen sensibler vorgehen als bisher. Ich erwarte, dass Aufsichtsräte sich mit der Frage beschäftigen, warum das Verhältnis zwischen Spitzengehältern für Vorstände im Verhältnis zum Durchschnittseinkommen ihrer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sich von 30 zu 1 auf 250 zu 1 verändert haben, und zwar ohne dass in jedem Fall Leistung vorliegt. Wenn diese Etagen gemeinsam mit mir Leistung belohnen wollen und für Leistungseliten sind, dann sollen diese Leistungseliten sich auch dementsprechend darstellen, auch übrigens in der öffentlichen Körpersprache. Wenn ich an so einige Fotos denke, die man gelegentlich erlebt hat auch von einem wichtigen Vorstandsvorsitzenden einer großen wichtigen privaten Geschäftsbank . . .
Meurer: . . . Sie meinen das Victory-Zeichen vom Deutschen Bank-Chef Ackermann im Mannesmann-Prozess . . .
Steinbrück: . . . zum Beispiel. Am Abend habe ich jemandem zu vermitteln versucht, der mit 1.100 Euro netto in der untersten Tariflohngruppe nach Hause kommt, warum zum Beispiel im Bereich der Steuerpolitik weitere Senkungen für die Unternehmen der Bundesrepublik Deutschland erforderlich sind, oder warum wir die Einkommensteuer abgesenkt haben, weil wir in einem internationalen Wettbewerb uns neu positionieren müssen.
Meurer: Das sind die Argumente, die Ackermann ja selber anführt. Wird Ackermann, wird der Deutsche Bank-Chef hier ein bisschen als Sündenbock und Prügelknabe missbraucht, wenn er zum Beispiel Entlassungen ankündigt mit dem Verweis darauf: "Ich muss so handeln, damit die Deutsche Bank nicht Übernahmekandidat wird!"?
Steinbrück: Dafür hat er sich selber zu rechtfertigen und das hat er zu erklären. Er kann das erklären. Kein Mensch redet gegen Gewinnquoten oder gegen Gewinnmargen. Die anderen Fragen, die er ausspart, die ich gerne öffentlich gehabt hätte, ob die Entwicklung seines Kreditinstituts nicht auch mit unternehmerischen oder unternehmensstrategischen Fehlern zu tun hat.. Zum Beispiel: Warum ist man aus der Mittelstandsfinanzierung herausgegangen? War die Bank24 nicht ein Desaster, für das man nicht auch Verantwortung übernehmen muss? Warum hat man das Kundengeschäft so vernachlässigt? Warum ist man daran so interessiert, die öffentlich-rechtliche Rechtsform von Sparkassen aufzulockern? Gegebenenfalls um vielleicht Fehler zu korrigieren, sich zu beteiligen an großen Sparkassen mit großen Bilanzsummen nach dem Motto: Nehme ich vielleicht das Firmenkundengeschäft wieder zurück oder das Kundengeschäft wieder zurück? Das sind alles so Fragen, die ausgespart werden. Das heißt, die öffentliche Rede nur darauf zu begrenzen: Ich muss die Gewinnmarge von 15 auf 25 Prozent erhöhen und schmeiße deshalb 6.000 oder 6.500 Leute raus. Das ist zu wenig.
Meurer: Da wird mancher fragen - wenn Sie sagen, Unternehmen tun zu wenig, tun das Falsche -: Warum senken Sie denen dann auch noch die Körperschaftssteuer zur Belohnung?
Steinbrück: Weil wir in einem Wettbewerb sind mit anderen Steuerstandorten innerhalb der Europäischen Union und in der Tat es richtig ist, dass die Körperschaftssteuer plus Gewerbesteuer plus Soli in Deutschland zu einer Definitivbesteuerung der Kapitalgesellschaften führt, die zwischen 37 und 38 Prozent ist. Und viele Mittelständler sind ja auch Kapitalgesellschaften in der Rechtsform einer GmbH. Und ich glaube, dass es richtig ist, dass wir uns in diesem Wettbewerb auch so bewegen können müssen, dass die Steuerlast in Deutschland für diesen Teil der Wirtschaft in etwa vergleichbar ist mit der in konkurrierenden Ländern.
Meurer: Angenommen, es gelingt, die Körperschaftssteuer auf 19 Prozent zu senken: Ist dann Schluss mit den Steuersenkungen für die Unternehmen und die Wirtschaft?
Steinbrück: In meinen Augen definitiv ja, weil ich seit Jahren die These vertrete, dass mit Ausnahme der Körperschaftssteuer wir sehr günstige Steuersätze haben. Die Fixierung auf die Steuersätze ist übrigens unzureichend, weil es gleichzeitig auch darauf ankommt, wie sieht die Bemessungsgrundlage, wie sehen die Gewinnermittlungsmethoden in Deutschland aus? Und das Fazit ist, dass die Steuerquote in Deutschland nicht das Problem ist. Wenn wir jetzt einen Körperschaftssteuersatz von 19 Prozent haben, vermute ich mal, dass die Steuerquote von Deutschland im europäischen Konvoi die zweitgünstigste ist. Das Problem in Deutschland ist die Steuer- und Abgabenquote. Das heißt, die Sozialversicherungs-abgabenlast ist das eigentliche Problem.
Meurer: Das Bittere an sich für die SPD, Herr Steinbrück - und Sie sind natürlich jetzt im Wahlkampf, am 22. Mai wird der Landtag neu gewählt . . .
Steinbrück: . . . davon habe ich gehört, ja . . .
Meurer: . . . das Bittere für die SPD ist, dass die Maßnahmen keine Früchte zeigen - noch keine Früchte zeigen - und dass die SPD-Klientel in Scharen in der Vergangenheit davongelaufen ist. Werden Sie wirklich mit dieser Debatte über die Kapitalismuskritik die Traditionswähler zurückgewinnen können?
Steinbrück: Nein, nicht so eindimensional. Kein Mensch denkt auch so eindimensional oder in einer sehr einfachen solchen Kausalität. Aber richtig ist, dass unbenommen von dem Zeitpunkt der Wahl in Nordrhein-Westfalen am 22. Mai, wie ich finde, eine solche Diskussion angestoßen werden darf. Das ist das, was ich unterstütze. Noch einmal: Jeder findet da seine eigenen Worte. Ich bin eher erstaunt, dass da eine hohe Empfindlichkeit vorliegt. Ich nehme wahr, dass die Politik in aller Schärfe kritisiert werden darf, wird sie ja auch, dass die Gewerkschaften stark und massiv kritisiert werden dürfen, dass es sogar eine Medienschelte geben darf. Aber wehe, in Deutschland wird eine Diskussion angetreten, wo auch Wirtschaftsverbandsvertreter oder einzelne Vertreter der Wirtschaft kritisch angesprochen werden, dann haben die ein ziemliches "Glaskinn", wie es in der Boxersprache heißt.
Meurer: Es wundert nur, dass diese Diskussion so kurz jetzt vor den Wahlen auftaucht. Hat die SPD in den letzten Monaten und Jahren das Thema 'Soziale Gerechtigkeit' einfach vernachlässigt?
Steinbrück: Nein. Wir haben Schwierigkeiten, soziale Gerechtigkeit neu zu definieren unter den Bedingungen des frühen 21. Jahrhunderts. Ich bin gern bereit, kritisch einen Schritt weiter zu gehen, ob wir in den 90er Jahren es versäumt haben, uns stärkere Gedanken zu machen, uns programmatisch stärker darauf einzustellen auf die Frage: Wie sieht der Sozialstaat zu Beginn des 21. Jahrhunderts aus? Angesichts auch einer Demographie, von der wir wissen, dass wir unter Druck geraten. Warum haben wir eine unzureichende Wachstumsdynamik, welche Rolle soll der Staat haben, wie definieren wir auch gerade mit Blick auf die nachfolgende Generation soziale Gerechtigkeit neu. Es kann sein, dass wir dies nicht genügend vorbereitet haben und dass der Vermittlungsprozess zur Agenda 2010 deshalb auch für uns innerparteilich so schwierig gewesen ist.
Meurer: Die Traditionsklientel scheint ja das Gefühl zu haben: Immer nur auf uns, immer nur wir müssen Opfer tragen, immer nur werden die Lasten auf unsere Schultern gestülpt. Die Vermögenssteuer - heißt es - kann nicht wieder eingeführt werden, kann vielleicht doch wieder eingeführt werden. Gibt es irgendetwas Konkretes, das gemacht werden kann, um dem soviel zitierten kleinen Mann das Gefühl zu geben: Jawohl, es gibt eine soziale Gerechtigkeit?
Steinbrück: Ja, festhalten an einigen Leitplanken, die dieses Gesellschaftsmodell in der Bundesrepublik Deutschland ausmacht. Keineswegs an der Steuerschraube herumdrehen nach dem Motto: Jetzt wechseln wir die Pferde im Strom. Dies würde ja als Irrlichterei uns um die Ohren fliegen. Aber zum Beispiel der Sachverwalter zu sein einer sozialen Marktwirtschaft mit bewährten wichtigen Säulen dieser Gesellschaftsform, zum Beispiel in Sachen Mitbestimmung, zum Beispiel in Sachen Tarifautonomie, zum Beispiel in Sachen Kündigungsschutz, zum Beispiel der Erhaltung des Zugangs von Bildungseinrichtungen, dass also Universitäten freigehalten werden von der Möglichkeit von Elternhäusern dafür zu bezahlen, das heißt, den Zugang zu den Universitäten nicht abhängig zu machen vom Portemonnaie des Elternhauses, sondern allen Begabten gleichermaßen die Möglichkeit zu liefern, höhere Bildungsabschlüsse und akademische Bildungsabschlüsse zu machen, zum Beispiel die Frage, ob wir uns verabschieden vom Solidarprinzip bei der Finanzierung unseres Gesundheitssystems. Das Prämienmodell der CDU läuft darauf hinaus, dass ich den- selben Beitrag zu zahlen habe wie die Verkäuferin, die mit 900 Euro netto nach Hause kommt. Das sind alles Punkte, die, wie ich glaube, als verlässliche Position der SPD auch von denjenigen wahrgenommen werden, die gelegentliche Zweifel an uns hatten.
Meurer: Würden Sie dann auch sagen, jetzt ist Schluss mit Subventionsabbau?
Steinbrück: Nein, ich glaube, dass wir gut beraten sind, weiterhin uns dem Subventionsabbau und damit der Konsolidierung der öffentlichen Haushalte zu widmen. Mit meinem hessischen Kollegen Koch habe ich dazu einen Vorstoß in jüngster Zeit gemacht, der ziemlich erfolgreich gewesen ist. Ich glaube, wir kommen in massive Verteilungskonflikte in den öffentlichen Haushalten hinein, will sagen, wenn wir Bildung den hohen Stellenwert geben wollen und müssen, weil es eine Schlüsselkategorie ist für die Sicherung von Wohlfahrt und Wohlstand, dann werden andere Bereiche zurückgefahren werden müssen.
Meurer: Die Bildung als Schlüsselkategorie haben auch Ihre Wettbewerber hier im Wahlkampf entdeckt. Die CDU und die FDP, die die Steinkohlesubvention zurückfahren wollen oder sogar ganz abschaffen wollen und sagen, wir schaffen 4000 Lehrerstellen oder 8000 Lehrerstellen, wenn wir die Steinkohleförderung abschaffen. Ist da nicht ein Fünkchen Wahrheit dran?
Steinbrück: Nein. Ich bin bereit, da ziemlich deutlich zu sagen: Das ist massiver Unsinn und das grenzt auch an Volksverdummung. Denn nehmen wir mal gar nicht die Position der FDP, die ist des Kommentars nicht weiter würdig, sondern nehmen wir nur die CDU mit der Halbierung der Steinkohlebeihilfen. Das würde bedeuten, dass die anschließend damit verbundenen Folgekosten höher wären als die eingesparten Gelder im Rahmen der Steinkohlebeihilfe. Das heißt, das Geld stünde nicht nur nicht zur Verfügung, sondern der Haushalt würde noch mehr belastet werden. Wir haben das mal ausgerechnet. Das, was die CDU will, läuft auf ein Einsparungsvolumen Ende dieses Jahrzehnts von ungefähr 200 Millionen hinaus, das was wir ausgerechnet haben an Folgekosten über die damit verbundenen betriebsbedingten Kündigungen und die Arbeitslosigkeit, Verlust von Kaufkraft etc. dürfte sich mindestens in der Größenordnung von 300 Millionen Euro bewegen.
Meurer: Es hat jemand ausgerechnet, die Steinkohleförderung kostet bis 2012 noch 16 Milliarden Euro. Das ist viel Geld, mit dem man Schulen und Universitäten unterstützen könnte.
Steinbrück: Nein. Erstens, wenn Sie mir auch Gelegenheit geben, auch auf den Stellenwert der Steinkohle als wichtiger Bestandteil einer Wertschöpfungskette hinzuweisen, zum Beispiel für den Anlagenbau, für die Kraftwerkswirtschaft in Nordrhein-Westfalen, die Zulieferer, die Bergbautechnologie. Die Tatsache, dass wir die modernsten Kraftwerke in Nordrhein-Westfalen bauen können mit Wirkungsgraden von 46, 47 Prozent, hat etwas damit zu tun, dass wir den Sinkflug der Steinkohle geordnet organisieren und nicht bruchartig. Noch einmal: Die Folgekosten eines solchen Crashkurses, den die CDU hier darstellt, führt dazu, dass er teurer ist und kein Geld zusätzlich zur Verfügung steht für Bildung. Das grenzt ein bisschen an Wählertäuschung.
Meurer: Vieles, um nicht zu sagen alles im Moment natürlich, was hier in der politischen Diskussion steht in Nordrhein-Westfalen, steht im Zeichen des Wahlkampfes für den 22. Mai. Sie kennen die Umfragen, die für die SPD sehr schlecht aussehen. Worauf gründen Sie noch persönlich Ihre Hoffnung, es am 22. Mai noch schaffen zu können?
Steinbrück: Bei den letzten Umfragen habe ich mich so getäuscht wie viele andere auch. Das ist gerade zweieinhalb Monate her, nämlich bei Schleswig-Holstein, wo die Umfragen uns alle haben optimistisch auf den Wahltag blicken lassen und anschließend waren wir die Gelackmeierten und haben verloren. Also, weg von dieser Fokussierung und Fixierung auf Umfragen. Wir müssen mobilisieren. Das ist der Schlüsselpunkt. Wir haben zwischen der desaströsen Europawahl im Mai des letzten Jahres und der Kommunalwahl im Herbst, September/Oktober, 1,1 Millionen Wähler mobilisieren können, zusätzlich. So, wenn wir jetzt noch mal 800-900.000 zusätzlich mobilisieren können, dann gewinnt die SPD auch wieder diese Landtagswahl. Aber ich gebe zu, das ist der Schlüsselpunkt, diese Mobilisierung. Und es gilt deshalb, kritisch gesehen, auch der Umkehrschluss. Das heißt, wenn diese Mobilisierung nicht erfolgt, dann ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass wir nicht gewinnen.
Meurer: Wären Ihre Chancen besser, wenn Sie nicht an die Grünen als Koalitionspartner gekettet wären?
Steinbrück: Nein. Ich muss mich für die Grünen als Koalitionspartner nicht rechtfertigen. Ich habe den Eindruck, dass die CDU sich in Nordrhein-Westfalen sehr viel stärker im Obligo bewegt, sich für die FDP als potentiellen Partner zu rechtfertigen. Bei der inhaltlich und personellen dünnen Decke und schwachen Darstellung der FDP ist das, glaube ich, ein größerer Risikofaktor.
Meurer: Aber die FDP gilt als wirtschaftsfreundlich, hat das Image, das ist eine Partei, die Arbeitsplätze schaffen kann. Und die Grünen haben das Image zu blockieren und Projekte zu verhindern.
Steinbrück: Komisch, vor ein paar Minuten haben Sie mich gerade in Fragen darauf hingewiesen, wie wichtig es ist, für diejenigen etwas zu tun, die sich irritiert oder deklassiert fühlen aus dem Reformkurs der letzten zwei Jahre. Und jetzt weisen Sie mich darauf hin, dass die FDP Vorteile haben soll als Wirtschaftspartei. Also, irgendwo müssen wir ja einen Standpunkt finden.
Meurer: Ihnen wurde mal nachgesagt, Sie hätten gerne die FDP als Koalitionspartner. Das ist völlig passé?
Steinbrück: Ja. Es ist auch ein Unterschied zwischen dem, was ich gerne möchte und für richtig halte und dem, was einem nachgesagt wird, vor allem in einer vielfältigen Medienlandschaft.
Meurer: Was haben Sie denn damit gemeint, Herr Steinbrück, als Sie gesagt haben, die Koalition wird gebildet im Lichte des Ergebnisses, das der Wahltag bringen wird?
Steinbrück: Das, was es auch ist. Das ist ja eher banal. Koalitionen werden im Lichte konkreter Ergebnisse abgeschlossen, weil man erst dann weiß, wie die Mehrheitsverhältnisse sind. Der entscheidende Punkt ist, dass es in Nordrhein-Westfalen nur eine Stimme gibt, nur eine einzige Stimme, nicht zwei wie bei der Bundestagswahl. Und deshalb ist es selbstredend, dass ich dazu auffordere, diese eine Stimme der SPD und mir zugeben. Das heißt, ich betreibe eine Strategie, die darauf hinausläuft, unseren Stimmenanteil zu erhöhen. Im übrigen, das tun alle anderen Parteien auch. Die Grünen tun es auch. Das heißt, ich betreibe keinen Lagerwahlkampf, sondern ich betreibe einen Wahlkampf in eigener Sache, in eigener Person. Wenn dann am Ende etwas herauskommt, was in der Addition zur Bestätigung dieser Regierung führt, dann freuen wir uns. Aber das wird sich erst am Wahltag herausstellen.
Meurer: Viele sagen, arithmetisch ist überhaupt nichts anderes denkbar als die beiden Alternativen Rot-Grün, und wenn Rot-Grün nicht wieder die Mehrheit hat, dann hat automatisch, mathematisch Union und FDP die Mehrheit. Welche dritte Möglichkeit sehen Sie?
Steinbrück: Darüber muss ich jetzt nicht spekulieren, sondern noch einmal sagen: Die Grünen sind in dieser Regierung unser Partner. Sie sind im Wahlkampf unser Wettbewerber, unser klarer Wettbewerber. Sie plakatieren ja auch mit Positionen, die nicht übereinstimmen mit den Positionen der SPD. Nur als Beispiel noch mal herausgestellt, dass sie einen Wahlkampf in eigener Sache machen. Und die politischen Gegner in diesem Wahlkampf sind die CDU und die FDP, und dies betreiben wir bis zum 22. Mai.
Meurer: Herr Steinbrück, Sie sind ja gebürtiger Hanseat. Die SPD regiert hier in Nordrhein-Westfalen seit 38 Jahren. Müssen Sie so ein bisschen jetzt den Kopf hinhalten für Filz und Vetternwirtschaft in fast 40 Jahren hier in Nordrhein-Westfalen?
Steinbrück: Ja, Vorsicht, Vorsicht! Also, dass es Fehlentwicklungen gegeben hat bei der SPD, das ist unbestritten. Ich bin der Erste, der bereit ist, den Finger aufs Schlimme zu legen und sich nicht als Saubermann darzustellen. Das gilt allerdings für die andere große Volkspartei auch. Wenn ich mal alleine nach Köln gucke, also, da sitzen alle in einem Glashaus und dürfen nicht mit Steinen schmeißen. Im übrigen: In anderen Ländern regiert die CDU oder CSU auch schon drei bis vier Jahrzehnte und kommt nicht im Traum auf die Idee, deshalb den Staffelstab abzugeben, sondern man bewirbt sich und versucht, in dem demokratischen Wettbewerb zu gewinnen. Im übrigen, ich bin seit zweieinhalb Jahren Ministerpräsident. Das ist eine bisher noch nicht so lange Zeit. Ich versuche, meinen eigenen Stil dort zu finden. Und im übrigen gibt es, wie ich glaube, immer noch einen Mehrwert der SPD gegenüber der CDU. Ich glaube, dass die SPD von diesem Strukturwandel in Nordrhein-Westfalen in einer sozialen Partnerschaft mit Augenmaß und in sozialer Balance mehr versteht als die CDU.
Meurer: Was sagen Sie denjenigen - und dieses Argument gibt es natürlich - die sagen, nach 38 Jahren wäre es fair, die andere Seite einmal . . .
Steinbrück: Stellen Sie diese Frage bitte der CDU auch in Baden-Württemberg und der CSU in Bayern, und dann unterhalten wir uns erneut darüber.
Meurer: Würden wir gerne stellen, diese Frage. Aber diese Frage ist nun mal hier in vielen Köpfen in Nordrhein-Westfalen drin als mögliches Wahlmotiv.
Steinbrück: Ja, dann antworte ich dasselbe, wie wahrscheinlich Herr Stoiber in Bayern und jetzt Herr Oettinger in Baden-Württemberg, und das lautet: Weil wir besser sind, inhaltlich und personell. Und namentlich auch in der Fragestellung, wer Ministerpräsident bleiben soll oder wer sich bewirbt.
Meurer: Es gibt über eine Million Arbeitslose in Nordrhein-Westfalen. Das wird natürlich genüsslich im Land plakatiert von der CDU. Und dann ist die SPD tatsächlich besser?
Steinbrück: Nein, ich sage ja nicht, dass wir in allem richtig liegen, dass wir alles richtig gemacht haben. Aber wir haben vieles richtig gemacht. Diese Arbeitslosenstatistik ist übrigens namentlich von Herrn Rüttgers mit verabschiedet worden. Die CDU/CSU war im Boot, als es um Harz IV ging, jetzt versuchen sie, sich in die Büsche zu schlagen. Sie drückt eine ehrliche Zahl aus. Zu Zeiten von Kohl und Rüttgers, vor sieben Jahren, war das Volumen der Arbeitslosigkeit genauso hoch. Das ist bedrückend. Ich kaschiere überhaupt nicht und verleugne überhaupt nicht, dass wir nicht erfolgreich genug gewesen sind. Aber die Propaganda und Agitationsformeln von CDU muss man auch nicht glauben und man kann sie auch aushebeln.
Meurer: Dass Ihre persönlichen Umfragewerte nicht so hoch sind wie von anderen Ministerpräsidenten in dieser Republik, liegt das daran, dass Sie eben erst seit zweieinhalb Jahren in diesem Amt sind oder liegt es auch an Peer Steinbrück selbst, der eben ein bestimmtes Bild hat von der Art und Weise, wie er das Amt ausfüllen will, nicht als Patriarch, sondern eher als Wirtschaftsfachmann?
Steinbrück: Erstens, es gibt solche und solche Umfragen. Jeder zitiert die, die ihm gerade belieben, auch in dieser Frage. Zweitens, ich habe den Eindruck, dass mein Herausforderer sehr viel größere Probleme hat, wenn wir schon über Umfragen reden, weil er 15 Prozent hinter seiner Partei liegt. Das würde mich beschäftigen. Drittens, sich selber zu charakterisieren halte ich immer für problematisch, das wirkt leicht wie ein Eitelkeitstrip - auch einer der Gründe, warum ich meinen Herausforderer nicht charakterisiere. Das ist ein integrer Mann. Ich kritisiere seine Politik, aber nicht seine Person, seine Reputation. Und man sollte eher zurückhaltend sein, sich selber auch darzustellen oder zu profilieren.
Meurer: Eine Rolle spielt im Wahlkampf der Visa-Untersuchungsausschuss der Visa-Affäre …
Steinbrück: … Bisher nicht ...
Meurer: … Schadet das nicht der SPD?
Steinbrück: Ich mache jetzt seit drei Wochen Wahlkampf mit eine Vielzahl von Veranstaltungen. Und insbesondere auch in den letzten zwei Wochen hat das Thema Visa überhaupt keine Rolle gespielt. Das ist eine Fehleinschätzung. Es kann sein, dass das noch mal eine Rolle spielt, wenn Außenminister Fischer im Untersuchungsausschuss am 25.April ausgesagt hat. Aber ich habe den Eindruck, das meiste ist bereits gesagt. Es ist zu Fehlern gekommen, es ist zu Unterlassungen gekommen, dazu muss man stehen. Aber vor dem Hintergrund der großen Verdienste, auch der Reputation von Herrn Fischer gibt es keinen Grund zu weitergehenden Forderungen.
Meurer: Sie haben ja selbst darauf gedrängt, dass Außenminister noch vor der Landtagswahl am 22. Mai aussagt. Was wünschen Sie sich, was erwarten und hoffen Sie von Fischers Auftritt?
Steinbrück: Das habe ich nicht zu beurteilen. Erstens stecke ich in der Materie nicht drin. Ich kenne die Akten nicht. Er ist damit in den jüngsten Aussagen, hier auch in Köln vor einem Parteitag seiner Partei souverän damit umgegangen. Ich habe den Eindruck, so viel Neues ist da gar nicht zu erzählen. Man muss dazu stehen, wenn man etwas falsch gemacht hat oder etwas mit zu verantworten hat. Das ist uns allen schon passiert, mir auch. Und soweit das abgestellt worden ist, muss man dies beschreiben. Soweit man nachbessern muss, muss man das tun.
Meurer: Vielen Dank, Herr Ministerpräsident, für das Gespräch.
Steinbrück: Ich danke auch.
Peer Steinbrück: Nein, das sind die üblichen Überzeichnungen. Im übrigen: Jeder drückt das aus in seinen eigenen Worten, Franz Müntefering macht das mit seinen, ich mache das mit meinen. Wir haben es mit vielen Unternehmern zu tun, und ich habe täglich Kontakt mit Mittelständlern, mit Vorständen, mit Geschäftsführungen, die einem hohen unternehmerischen Ethos folgen - überhaupt keine Frage. Aber es ist erlaubt, auch einige Erscheinungen, auch einige Beispiele aufzugreifen, die kritikwürdig und kritikfähig sind. Und das hat Franz Müntefering getan und das tue ich auch.
Meurer: Sie gelten ja als wirtschaftsfreundlich, als Reformer . . .
Steinbrück: Ja, das schließt das doch nicht aus, das schließt das doch keineswegs aus. Es schließt es ja auch nicht aus, dass man Gewerkschaften kritisiert, wie man das in der Vergangenheit auch getan hat, offenbar allerdings mit einer anderen, weniger aufgeregten Reaktion von vielen - nach dem Motto: Auf die Gewerkschaften darf man sehr kritisch eingehen, offenbar auf Unternehmens- und Wirtschaftsvertreter nicht. Wir haben es mit Entwicklungen zu tun, die zum Beispiel kein geringerer als Helmut Schmidt bezeichnet als "Raubtierkapitalismus". In seinem Buch "Die Zukunft der Mächte" ist das dargestellt - zum Beispiel mit Blick auf die Entartung, wie er es nennt, von Kapitalmärkten, Finanzströme, die sich abgekoppelt haben von Güterströmen, die Fixierung auf Vierteljahresbilanzen, Börsenkurse, die zu sehr kurzsichtigen Entscheidungen führen, die Fehlerhaftigkeit unternehmerischer Strategien, zum Beispiel auch im deutschen Bankensektor. Oder die mangelnde Vorbildfunktion von einigen Vertretern, oder die Tatsache, dass Wirtschaftsverbandsvertreter nichts besseres zu tun haben, als nach der nächsten Steuersenkung sofort weitere Nachforderungen zu stellen. Das sind alles Punkte, die man zum Gegenstand von Kritik machen darf.
Meurer: Wenn Sie mangelnde Vorbildfunktion ansprechen: Wen meinen Sie mit Wirtschaftsverbandsvertretern, für die das Ihrer Meinung nach gilt - zu wenig Vorbildfunktion?
Steinbrück: Ich stehe sehr unter dem Eindruck eines Interviews von Herrn Hundt, dem Präsidenten des BDA vom letzten Wochenende in der "Süddeutschen Zeitung", wo ich den Eindruck habe, dass er mindestens mit einem Satz hätte erwähnen dürfen, dass die Körperschaftssteuer unter dieser SPD-geführten Bundesregierung von 40 beziehungsweise 45 Prozent auf 19 Prozent gesenkt werden soll, dass zu Zeiten von Helmut Kohl der Spitzensteuersatz der Einkommensteuer bei 53 Prozent lag, heute bei 42 Prozent. Und was höre ich? Immer nur ein weiteres Lamento. Oder der Vorstandsvorsitzende, der namentlich übrigens auch meinen Aktienkurs in den Keller gefahren hat, und zwar granatenhaft, aber anschließend um eine zweistellige Millionenabfindung verhandelt. Das hat mit Leistung nichts zu tun. Oder der Vorstandsvorsitzende, der öffentliche Forschungs- und Entwicklungsmittel bekommen hat aus den Haushalten dieser Republik, und anschließend darüber räsoniert, dass er seinen Steuerstandort nach Österreich verlegt, oder die Vorstände von Krankenkassen, die im letzten Jahr ein Plus von 4,5 Milliarden Euro gemacht haben, nicht aufgrund eigener Verdienste, sondern einer Gesundheitsmodernisierung, die diese Bundesregierung und diese Landesregierung vertreten hat, für die wir verhauen worden sind - aber anschließend in die Öffentlichkeit gehen, dass die Vorstände erhöhte Bezüge bekommen, statt den Krankenversicherungsbeitrag abzusenken. Das sind alles Erscheinungsformen, und die darf man aufgreifen. Ich muss der alleinstehenden Verkäuferin mit 950 Euro vermitteln, warum wir eine Praxisgebühr brauchen, ich muss denen vermitteln, dass wir Reformen durchsetzen müssen und brauchen in dieser Republik, die nicht nur vergnügungssteuerpflichtig sind. Dann erwarte ich von denjenigen, die in den oberen Etagen sind, gesellschaftliche Verantwortung und eine ausgesprochene Vorbildfunktion.
Meurer: Sie bekommen ja dafür und Franz Müntefering bekommt dafür vom Publikum relativ viel Applaus, die Umfragen zeigen das, dass viele ähnlich denken. Nur - was will denn die SPD tun gegen Manager, die sich die Millionen in die Tasche stecken?
Steinbrück: Gar nichts. Kein Mensch redet davon, dass nach irgendwelchen rechtlichen Instrumenten gerufen wird. Aber eine gesellschaftspolitische Debatte anzustoßen, wo es um die Gesamtverantwortung der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen geht, das ist, glaube ich, richtig - gerade in Zeiten zu Beginn dieses 21. Jahrhunderts, wo diese Republik sich neu justieren muss. Und das erstreckt sich dann nicht nur auf Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und ihren Vertretungen in Form von Gewerkschaften und Betriebsräten.
Meurer: Die Wählerinnen und Wähler werden aber mehr erwarten als nur Kritik. Das heißt, sie erwarten Änderungen, dass das nicht so bleibt, dass unten gespart wird und oben sich einige bereichern.
Steinbrück: Nun, ich habe ja auf die Zahlung von Abfindungen, genehmigt durch Aufsichtsräte, keinen Einfluss. Wie stellen Sie sich das vor? Ich erwarte nur, dass diese Aufsichtsräte mit solchen Entwicklungen sensibler vorgehen als bisher. Ich erwarte, dass Aufsichtsräte sich mit der Frage beschäftigen, warum das Verhältnis zwischen Spitzengehältern für Vorstände im Verhältnis zum Durchschnittseinkommen ihrer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sich von 30 zu 1 auf 250 zu 1 verändert haben, und zwar ohne dass in jedem Fall Leistung vorliegt. Wenn diese Etagen gemeinsam mit mir Leistung belohnen wollen und für Leistungseliten sind, dann sollen diese Leistungseliten sich auch dementsprechend darstellen, auch übrigens in der öffentlichen Körpersprache. Wenn ich an so einige Fotos denke, die man gelegentlich erlebt hat auch von einem wichtigen Vorstandsvorsitzenden einer großen wichtigen privaten Geschäftsbank . . .
Meurer: . . . Sie meinen das Victory-Zeichen vom Deutschen Bank-Chef Ackermann im Mannesmann-Prozess . . .
Steinbrück: . . . zum Beispiel. Am Abend habe ich jemandem zu vermitteln versucht, der mit 1.100 Euro netto in der untersten Tariflohngruppe nach Hause kommt, warum zum Beispiel im Bereich der Steuerpolitik weitere Senkungen für die Unternehmen der Bundesrepublik Deutschland erforderlich sind, oder warum wir die Einkommensteuer abgesenkt haben, weil wir in einem internationalen Wettbewerb uns neu positionieren müssen.
Meurer: Das sind die Argumente, die Ackermann ja selber anführt. Wird Ackermann, wird der Deutsche Bank-Chef hier ein bisschen als Sündenbock und Prügelknabe missbraucht, wenn er zum Beispiel Entlassungen ankündigt mit dem Verweis darauf: "Ich muss so handeln, damit die Deutsche Bank nicht Übernahmekandidat wird!"?
Steinbrück: Dafür hat er sich selber zu rechtfertigen und das hat er zu erklären. Er kann das erklären. Kein Mensch redet gegen Gewinnquoten oder gegen Gewinnmargen. Die anderen Fragen, die er ausspart, die ich gerne öffentlich gehabt hätte, ob die Entwicklung seines Kreditinstituts nicht auch mit unternehmerischen oder unternehmensstrategischen Fehlern zu tun hat.. Zum Beispiel: Warum ist man aus der Mittelstandsfinanzierung herausgegangen? War die Bank24 nicht ein Desaster, für das man nicht auch Verantwortung übernehmen muss? Warum hat man das Kundengeschäft so vernachlässigt? Warum ist man daran so interessiert, die öffentlich-rechtliche Rechtsform von Sparkassen aufzulockern? Gegebenenfalls um vielleicht Fehler zu korrigieren, sich zu beteiligen an großen Sparkassen mit großen Bilanzsummen nach dem Motto: Nehme ich vielleicht das Firmenkundengeschäft wieder zurück oder das Kundengeschäft wieder zurück? Das sind alles so Fragen, die ausgespart werden. Das heißt, die öffentliche Rede nur darauf zu begrenzen: Ich muss die Gewinnmarge von 15 auf 25 Prozent erhöhen und schmeiße deshalb 6.000 oder 6.500 Leute raus. Das ist zu wenig.
Meurer: Da wird mancher fragen - wenn Sie sagen, Unternehmen tun zu wenig, tun das Falsche -: Warum senken Sie denen dann auch noch die Körperschaftssteuer zur Belohnung?
Steinbrück: Weil wir in einem Wettbewerb sind mit anderen Steuerstandorten innerhalb der Europäischen Union und in der Tat es richtig ist, dass die Körperschaftssteuer plus Gewerbesteuer plus Soli in Deutschland zu einer Definitivbesteuerung der Kapitalgesellschaften führt, die zwischen 37 und 38 Prozent ist. Und viele Mittelständler sind ja auch Kapitalgesellschaften in der Rechtsform einer GmbH. Und ich glaube, dass es richtig ist, dass wir uns in diesem Wettbewerb auch so bewegen können müssen, dass die Steuerlast in Deutschland für diesen Teil der Wirtschaft in etwa vergleichbar ist mit der in konkurrierenden Ländern.
Meurer: Angenommen, es gelingt, die Körperschaftssteuer auf 19 Prozent zu senken: Ist dann Schluss mit den Steuersenkungen für die Unternehmen und die Wirtschaft?
Steinbrück: In meinen Augen definitiv ja, weil ich seit Jahren die These vertrete, dass mit Ausnahme der Körperschaftssteuer wir sehr günstige Steuersätze haben. Die Fixierung auf die Steuersätze ist übrigens unzureichend, weil es gleichzeitig auch darauf ankommt, wie sieht die Bemessungsgrundlage, wie sehen die Gewinnermittlungsmethoden in Deutschland aus? Und das Fazit ist, dass die Steuerquote in Deutschland nicht das Problem ist. Wenn wir jetzt einen Körperschaftssteuersatz von 19 Prozent haben, vermute ich mal, dass die Steuerquote von Deutschland im europäischen Konvoi die zweitgünstigste ist. Das Problem in Deutschland ist die Steuer- und Abgabenquote. Das heißt, die Sozialversicherungs-abgabenlast ist das eigentliche Problem.
Meurer: Das Bittere an sich für die SPD, Herr Steinbrück - und Sie sind natürlich jetzt im Wahlkampf, am 22. Mai wird der Landtag neu gewählt . . .
Steinbrück: . . . davon habe ich gehört, ja . . .
Meurer: . . . das Bittere für die SPD ist, dass die Maßnahmen keine Früchte zeigen - noch keine Früchte zeigen - und dass die SPD-Klientel in Scharen in der Vergangenheit davongelaufen ist. Werden Sie wirklich mit dieser Debatte über die Kapitalismuskritik die Traditionswähler zurückgewinnen können?
Steinbrück: Nein, nicht so eindimensional. Kein Mensch denkt auch so eindimensional oder in einer sehr einfachen solchen Kausalität. Aber richtig ist, dass unbenommen von dem Zeitpunkt der Wahl in Nordrhein-Westfalen am 22. Mai, wie ich finde, eine solche Diskussion angestoßen werden darf. Das ist das, was ich unterstütze. Noch einmal: Jeder findet da seine eigenen Worte. Ich bin eher erstaunt, dass da eine hohe Empfindlichkeit vorliegt. Ich nehme wahr, dass die Politik in aller Schärfe kritisiert werden darf, wird sie ja auch, dass die Gewerkschaften stark und massiv kritisiert werden dürfen, dass es sogar eine Medienschelte geben darf. Aber wehe, in Deutschland wird eine Diskussion angetreten, wo auch Wirtschaftsverbandsvertreter oder einzelne Vertreter der Wirtschaft kritisch angesprochen werden, dann haben die ein ziemliches "Glaskinn", wie es in der Boxersprache heißt.
Meurer: Es wundert nur, dass diese Diskussion so kurz jetzt vor den Wahlen auftaucht. Hat die SPD in den letzten Monaten und Jahren das Thema 'Soziale Gerechtigkeit' einfach vernachlässigt?
Steinbrück: Nein. Wir haben Schwierigkeiten, soziale Gerechtigkeit neu zu definieren unter den Bedingungen des frühen 21. Jahrhunderts. Ich bin gern bereit, kritisch einen Schritt weiter zu gehen, ob wir in den 90er Jahren es versäumt haben, uns stärkere Gedanken zu machen, uns programmatisch stärker darauf einzustellen auf die Frage: Wie sieht der Sozialstaat zu Beginn des 21. Jahrhunderts aus? Angesichts auch einer Demographie, von der wir wissen, dass wir unter Druck geraten. Warum haben wir eine unzureichende Wachstumsdynamik, welche Rolle soll der Staat haben, wie definieren wir auch gerade mit Blick auf die nachfolgende Generation soziale Gerechtigkeit neu. Es kann sein, dass wir dies nicht genügend vorbereitet haben und dass der Vermittlungsprozess zur Agenda 2010 deshalb auch für uns innerparteilich so schwierig gewesen ist.
Meurer: Die Traditionsklientel scheint ja das Gefühl zu haben: Immer nur auf uns, immer nur wir müssen Opfer tragen, immer nur werden die Lasten auf unsere Schultern gestülpt. Die Vermögenssteuer - heißt es - kann nicht wieder eingeführt werden, kann vielleicht doch wieder eingeführt werden. Gibt es irgendetwas Konkretes, das gemacht werden kann, um dem soviel zitierten kleinen Mann das Gefühl zu geben: Jawohl, es gibt eine soziale Gerechtigkeit?
Steinbrück: Ja, festhalten an einigen Leitplanken, die dieses Gesellschaftsmodell in der Bundesrepublik Deutschland ausmacht. Keineswegs an der Steuerschraube herumdrehen nach dem Motto: Jetzt wechseln wir die Pferde im Strom. Dies würde ja als Irrlichterei uns um die Ohren fliegen. Aber zum Beispiel der Sachverwalter zu sein einer sozialen Marktwirtschaft mit bewährten wichtigen Säulen dieser Gesellschaftsform, zum Beispiel in Sachen Mitbestimmung, zum Beispiel in Sachen Tarifautonomie, zum Beispiel in Sachen Kündigungsschutz, zum Beispiel der Erhaltung des Zugangs von Bildungseinrichtungen, dass also Universitäten freigehalten werden von der Möglichkeit von Elternhäusern dafür zu bezahlen, das heißt, den Zugang zu den Universitäten nicht abhängig zu machen vom Portemonnaie des Elternhauses, sondern allen Begabten gleichermaßen die Möglichkeit zu liefern, höhere Bildungsabschlüsse und akademische Bildungsabschlüsse zu machen, zum Beispiel die Frage, ob wir uns verabschieden vom Solidarprinzip bei der Finanzierung unseres Gesundheitssystems. Das Prämienmodell der CDU läuft darauf hinaus, dass ich den- selben Beitrag zu zahlen habe wie die Verkäuferin, die mit 900 Euro netto nach Hause kommt. Das sind alles Punkte, die, wie ich glaube, als verlässliche Position der SPD auch von denjenigen wahrgenommen werden, die gelegentliche Zweifel an uns hatten.
Meurer: Würden Sie dann auch sagen, jetzt ist Schluss mit Subventionsabbau?
Steinbrück: Nein, ich glaube, dass wir gut beraten sind, weiterhin uns dem Subventionsabbau und damit der Konsolidierung der öffentlichen Haushalte zu widmen. Mit meinem hessischen Kollegen Koch habe ich dazu einen Vorstoß in jüngster Zeit gemacht, der ziemlich erfolgreich gewesen ist. Ich glaube, wir kommen in massive Verteilungskonflikte in den öffentlichen Haushalten hinein, will sagen, wenn wir Bildung den hohen Stellenwert geben wollen und müssen, weil es eine Schlüsselkategorie ist für die Sicherung von Wohlfahrt und Wohlstand, dann werden andere Bereiche zurückgefahren werden müssen.
Meurer: Die Bildung als Schlüsselkategorie haben auch Ihre Wettbewerber hier im Wahlkampf entdeckt. Die CDU und die FDP, die die Steinkohlesubvention zurückfahren wollen oder sogar ganz abschaffen wollen und sagen, wir schaffen 4000 Lehrerstellen oder 8000 Lehrerstellen, wenn wir die Steinkohleförderung abschaffen. Ist da nicht ein Fünkchen Wahrheit dran?
Steinbrück: Nein. Ich bin bereit, da ziemlich deutlich zu sagen: Das ist massiver Unsinn und das grenzt auch an Volksverdummung. Denn nehmen wir mal gar nicht die Position der FDP, die ist des Kommentars nicht weiter würdig, sondern nehmen wir nur die CDU mit der Halbierung der Steinkohlebeihilfen. Das würde bedeuten, dass die anschließend damit verbundenen Folgekosten höher wären als die eingesparten Gelder im Rahmen der Steinkohlebeihilfe. Das heißt, das Geld stünde nicht nur nicht zur Verfügung, sondern der Haushalt würde noch mehr belastet werden. Wir haben das mal ausgerechnet. Das, was die CDU will, läuft auf ein Einsparungsvolumen Ende dieses Jahrzehnts von ungefähr 200 Millionen hinaus, das was wir ausgerechnet haben an Folgekosten über die damit verbundenen betriebsbedingten Kündigungen und die Arbeitslosigkeit, Verlust von Kaufkraft etc. dürfte sich mindestens in der Größenordnung von 300 Millionen Euro bewegen.
Meurer: Es hat jemand ausgerechnet, die Steinkohleförderung kostet bis 2012 noch 16 Milliarden Euro. Das ist viel Geld, mit dem man Schulen und Universitäten unterstützen könnte.
Steinbrück: Nein. Erstens, wenn Sie mir auch Gelegenheit geben, auch auf den Stellenwert der Steinkohle als wichtiger Bestandteil einer Wertschöpfungskette hinzuweisen, zum Beispiel für den Anlagenbau, für die Kraftwerkswirtschaft in Nordrhein-Westfalen, die Zulieferer, die Bergbautechnologie. Die Tatsache, dass wir die modernsten Kraftwerke in Nordrhein-Westfalen bauen können mit Wirkungsgraden von 46, 47 Prozent, hat etwas damit zu tun, dass wir den Sinkflug der Steinkohle geordnet organisieren und nicht bruchartig. Noch einmal: Die Folgekosten eines solchen Crashkurses, den die CDU hier darstellt, führt dazu, dass er teurer ist und kein Geld zusätzlich zur Verfügung steht für Bildung. Das grenzt ein bisschen an Wählertäuschung.
Meurer: Vieles, um nicht zu sagen alles im Moment natürlich, was hier in der politischen Diskussion steht in Nordrhein-Westfalen, steht im Zeichen des Wahlkampfes für den 22. Mai. Sie kennen die Umfragen, die für die SPD sehr schlecht aussehen. Worauf gründen Sie noch persönlich Ihre Hoffnung, es am 22. Mai noch schaffen zu können?
Steinbrück: Bei den letzten Umfragen habe ich mich so getäuscht wie viele andere auch. Das ist gerade zweieinhalb Monate her, nämlich bei Schleswig-Holstein, wo die Umfragen uns alle haben optimistisch auf den Wahltag blicken lassen und anschließend waren wir die Gelackmeierten und haben verloren. Also, weg von dieser Fokussierung und Fixierung auf Umfragen. Wir müssen mobilisieren. Das ist der Schlüsselpunkt. Wir haben zwischen der desaströsen Europawahl im Mai des letzten Jahres und der Kommunalwahl im Herbst, September/Oktober, 1,1 Millionen Wähler mobilisieren können, zusätzlich. So, wenn wir jetzt noch mal 800-900.000 zusätzlich mobilisieren können, dann gewinnt die SPD auch wieder diese Landtagswahl. Aber ich gebe zu, das ist der Schlüsselpunkt, diese Mobilisierung. Und es gilt deshalb, kritisch gesehen, auch der Umkehrschluss. Das heißt, wenn diese Mobilisierung nicht erfolgt, dann ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass wir nicht gewinnen.
Meurer: Wären Ihre Chancen besser, wenn Sie nicht an die Grünen als Koalitionspartner gekettet wären?
Steinbrück: Nein. Ich muss mich für die Grünen als Koalitionspartner nicht rechtfertigen. Ich habe den Eindruck, dass die CDU sich in Nordrhein-Westfalen sehr viel stärker im Obligo bewegt, sich für die FDP als potentiellen Partner zu rechtfertigen. Bei der inhaltlich und personellen dünnen Decke und schwachen Darstellung der FDP ist das, glaube ich, ein größerer Risikofaktor.
Meurer: Aber die FDP gilt als wirtschaftsfreundlich, hat das Image, das ist eine Partei, die Arbeitsplätze schaffen kann. Und die Grünen haben das Image zu blockieren und Projekte zu verhindern.
Steinbrück: Komisch, vor ein paar Minuten haben Sie mich gerade in Fragen darauf hingewiesen, wie wichtig es ist, für diejenigen etwas zu tun, die sich irritiert oder deklassiert fühlen aus dem Reformkurs der letzten zwei Jahre. Und jetzt weisen Sie mich darauf hin, dass die FDP Vorteile haben soll als Wirtschaftspartei. Also, irgendwo müssen wir ja einen Standpunkt finden.
Meurer: Ihnen wurde mal nachgesagt, Sie hätten gerne die FDP als Koalitionspartner. Das ist völlig passé?
Steinbrück: Ja. Es ist auch ein Unterschied zwischen dem, was ich gerne möchte und für richtig halte und dem, was einem nachgesagt wird, vor allem in einer vielfältigen Medienlandschaft.
Meurer: Was haben Sie denn damit gemeint, Herr Steinbrück, als Sie gesagt haben, die Koalition wird gebildet im Lichte des Ergebnisses, das der Wahltag bringen wird?
Steinbrück: Das, was es auch ist. Das ist ja eher banal. Koalitionen werden im Lichte konkreter Ergebnisse abgeschlossen, weil man erst dann weiß, wie die Mehrheitsverhältnisse sind. Der entscheidende Punkt ist, dass es in Nordrhein-Westfalen nur eine Stimme gibt, nur eine einzige Stimme, nicht zwei wie bei der Bundestagswahl. Und deshalb ist es selbstredend, dass ich dazu auffordere, diese eine Stimme der SPD und mir zugeben. Das heißt, ich betreibe eine Strategie, die darauf hinausläuft, unseren Stimmenanteil zu erhöhen. Im übrigen, das tun alle anderen Parteien auch. Die Grünen tun es auch. Das heißt, ich betreibe keinen Lagerwahlkampf, sondern ich betreibe einen Wahlkampf in eigener Sache, in eigener Person. Wenn dann am Ende etwas herauskommt, was in der Addition zur Bestätigung dieser Regierung führt, dann freuen wir uns. Aber das wird sich erst am Wahltag herausstellen.
Meurer: Viele sagen, arithmetisch ist überhaupt nichts anderes denkbar als die beiden Alternativen Rot-Grün, und wenn Rot-Grün nicht wieder die Mehrheit hat, dann hat automatisch, mathematisch Union und FDP die Mehrheit. Welche dritte Möglichkeit sehen Sie?
Steinbrück: Darüber muss ich jetzt nicht spekulieren, sondern noch einmal sagen: Die Grünen sind in dieser Regierung unser Partner. Sie sind im Wahlkampf unser Wettbewerber, unser klarer Wettbewerber. Sie plakatieren ja auch mit Positionen, die nicht übereinstimmen mit den Positionen der SPD. Nur als Beispiel noch mal herausgestellt, dass sie einen Wahlkampf in eigener Sache machen. Und die politischen Gegner in diesem Wahlkampf sind die CDU und die FDP, und dies betreiben wir bis zum 22. Mai.
Meurer: Herr Steinbrück, Sie sind ja gebürtiger Hanseat. Die SPD regiert hier in Nordrhein-Westfalen seit 38 Jahren. Müssen Sie so ein bisschen jetzt den Kopf hinhalten für Filz und Vetternwirtschaft in fast 40 Jahren hier in Nordrhein-Westfalen?
Steinbrück: Ja, Vorsicht, Vorsicht! Also, dass es Fehlentwicklungen gegeben hat bei der SPD, das ist unbestritten. Ich bin der Erste, der bereit ist, den Finger aufs Schlimme zu legen und sich nicht als Saubermann darzustellen. Das gilt allerdings für die andere große Volkspartei auch. Wenn ich mal alleine nach Köln gucke, also, da sitzen alle in einem Glashaus und dürfen nicht mit Steinen schmeißen. Im übrigen: In anderen Ländern regiert die CDU oder CSU auch schon drei bis vier Jahrzehnte und kommt nicht im Traum auf die Idee, deshalb den Staffelstab abzugeben, sondern man bewirbt sich und versucht, in dem demokratischen Wettbewerb zu gewinnen. Im übrigen, ich bin seit zweieinhalb Jahren Ministerpräsident. Das ist eine bisher noch nicht so lange Zeit. Ich versuche, meinen eigenen Stil dort zu finden. Und im übrigen gibt es, wie ich glaube, immer noch einen Mehrwert der SPD gegenüber der CDU. Ich glaube, dass die SPD von diesem Strukturwandel in Nordrhein-Westfalen in einer sozialen Partnerschaft mit Augenmaß und in sozialer Balance mehr versteht als die CDU.
Meurer: Was sagen Sie denjenigen - und dieses Argument gibt es natürlich - die sagen, nach 38 Jahren wäre es fair, die andere Seite einmal . . .
Steinbrück: Stellen Sie diese Frage bitte der CDU auch in Baden-Württemberg und der CSU in Bayern, und dann unterhalten wir uns erneut darüber.
Meurer: Würden wir gerne stellen, diese Frage. Aber diese Frage ist nun mal hier in vielen Köpfen in Nordrhein-Westfalen drin als mögliches Wahlmotiv.
Steinbrück: Ja, dann antworte ich dasselbe, wie wahrscheinlich Herr Stoiber in Bayern und jetzt Herr Oettinger in Baden-Württemberg, und das lautet: Weil wir besser sind, inhaltlich und personell. Und namentlich auch in der Fragestellung, wer Ministerpräsident bleiben soll oder wer sich bewirbt.
Meurer: Es gibt über eine Million Arbeitslose in Nordrhein-Westfalen. Das wird natürlich genüsslich im Land plakatiert von der CDU. Und dann ist die SPD tatsächlich besser?
Steinbrück: Nein, ich sage ja nicht, dass wir in allem richtig liegen, dass wir alles richtig gemacht haben. Aber wir haben vieles richtig gemacht. Diese Arbeitslosenstatistik ist übrigens namentlich von Herrn Rüttgers mit verabschiedet worden. Die CDU/CSU war im Boot, als es um Harz IV ging, jetzt versuchen sie, sich in die Büsche zu schlagen. Sie drückt eine ehrliche Zahl aus. Zu Zeiten von Kohl und Rüttgers, vor sieben Jahren, war das Volumen der Arbeitslosigkeit genauso hoch. Das ist bedrückend. Ich kaschiere überhaupt nicht und verleugne überhaupt nicht, dass wir nicht erfolgreich genug gewesen sind. Aber die Propaganda und Agitationsformeln von CDU muss man auch nicht glauben und man kann sie auch aushebeln.
Meurer: Dass Ihre persönlichen Umfragewerte nicht so hoch sind wie von anderen Ministerpräsidenten in dieser Republik, liegt das daran, dass Sie eben erst seit zweieinhalb Jahren in diesem Amt sind oder liegt es auch an Peer Steinbrück selbst, der eben ein bestimmtes Bild hat von der Art und Weise, wie er das Amt ausfüllen will, nicht als Patriarch, sondern eher als Wirtschaftsfachmann?
Steinbrück: Erstens, es gibt solche und solche Umfragen. Jeder zitiert die, die ihm gerade belieben, auch in dieser Frage. Zweitens, ich habe den Eindruck, dass mein Herausforderer sehr viel größere Probleme hat, wenn wir schon über Umfragen reden, weil er 15 Prozent hinter seiner Partei liegt. Das würde mich beschäftigen. Drittens, sich selber zu charakterisieren halte ich immer für problematisch, das wirkt leicht wie ein Eitelkeitstrip - auch einer der Gründe, warum ich meinen Herausforderer nicht charakterisiere. Das ist ein integrer Mann. Ich kritisiere seine Politik, aber nicht seine Person, seine Reputation. Und man sollte eher zurückhaltend sein, sich selber auch darzustellen oder zu profilieren.
Meurer: Eine Rolle spielt im Wahlkampf der Visa-Untersuchungsausschuss der Visa-Affäre …
Steinbrück: … Bisher nicht ...
Meurer: … Schadet das nicht der SPD?
Steinbrück: Ich mache jetzt seit drei Wochen Wahlkampf mit eine Vielzahl von Veranstaltungen. Und insbesondere auch in den letzten zwei Wochen hat das Thema Visa überhaupt keine Rolle gespielt. Das ist eine Fehleinschätzung. Es kann sein, dass das noch mal eine Rolle spielt, wenn Außenminister Fischer im Untersuchungsausschuss am 25.April ausgesagt hat. Aber ich habe den Eindruck, das meiste ist bereits gesagt. Es ist zu Fehlern gekommen, es ist zu Unterlassungen gekommen, dazu muss man stehen. Aber vor dem Hintergrund der großen Verdienste, auch der Reputation von Herrn Fischer gibt es keinen Grund zu weitergehenden Forderungen.
Meurer: Sie haben ja selbst darauf gedrängt, dass Außenminister noch vor der Landtagswahl am 22. Mai aussagt. Was wünschen Sie sich, was erwarten und hoffen Sie von Fischers Auftritt?
Steinbrück: Das habe ich nicht zu beurteilen. Erstens stecke ich in der Materie nicht drin. Ich kenne die Akten nicht. Er ist damit in den jüngsten Aussagen, hier auch in Köln vor einem Parteitag seiner Partei souverän damit umgegangen. Ich habe den Eindruck, so viel Neues ist da gar nicht zu erzählen. Man muss dazu stehen, wenn man etwas falsch gemacht hat oder etwas mit zu verantworten hat. Das ist uns allen schon passiert, mir auch. Und soweit das abgestellt worden ist, muss man dies beschreiben. Soweit man nachbessern muss, muss man das tun.
Meurer: Vielen Dank, Herr Ministerpräsident, für das Gespräch.
Steinbrück: Ich danke auch.