Donnerstag, 18. April 2024

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NS-Biografien
"Kontinuität bis zu einem gewissen Grad unvermeidlich"

Die Berlinale und die Weltkunstausstellung documenta standen in den 1950er-Jahren für den künstlerischen Aufbruch der jungen Bundesrepublik. Sie sollten kulturelle Leuchttürme sein, die die düstere NS-Zeit überstrahlten. Nun sehen sich documenta und Berlinale mit den NS-Geschichten ihrer Gründerväter konfrontiert - und mit fehlender Aufarbeitung.

Norbert Frei im Gespräch mit Maja Ellmenreich | 03.02.2020
 Der damalige Berlinale-Festspielleiter Alfred Bauer steht auf dem Flughafen Tempelhof
Laut Akten "ein eifriger SA-Mann": Alfred Bauer war von 1951 bis 1976 Berlinale-Festspielleiter (dpa/Konrad Giehr)
Maja Ellmenreich: Die Berlinale, die documenta – zwei kulturelle Vorzeigeprojekte der jungen Bundesrepublik: Mit ihnen wollte man beweisen, dass die dunkle NS-Zeit vorbei war, dass die westdeutsche Kulturszene bereit war für einen Neuanfang. "Schaufenster der freien Welt" prangte denn auch als Motto über dem ersten Berlinale-Jahrgang 1951. Und die documenta, die 1955 zum ersten Mal stattfand: Sie wollte ihrem Publikum insbesondere die Kunst nahebringen, die die Nazis verfemt hatten. Berlinale und documenta also so etwas wie die "Kultur-Musterschüler einer entnazifizierten Bundesrepublik"?
Derzeit sehen sich beide Institutionen konfrontiert mit den NS-Geschichten ihrer Gründerväter und Wegbereiter: Die Wochenzeitung DIE ZEIT hatte die einflussreiche Rolle des langjährigen Berlinale-Leiters Alfred Bauer in der "Reichsfilmintendanz" aufgedeckt. Deshalb wird in diesem Jahr erstmal kein Alfred-Bauer-Preis verliehen – das neue Berlinale-Team hat schnell reagiert. Und die documenta: Die wird von Kunsthistorikerinnen und -historikern aufgefordert, die NS-Verstrickungen von Werner Haftmann zu untersuchen, der maßgeblich an den ersten documenta-Ausgaben beteiligt war.
Der Historiker Norbert Frei, Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, hat sich unter anderem für seine Publikation "Hitlers Eliten nach 1945" mit der so genannten Elitenkontinuität beschäftigt. Herr Frei, hinkt die Kulturszene in Deutschland anderen Bereichen hinterher, was die Aufarbeitung ihrer eigenen Geschichte bzw. der Geschichte ihrer Nachkriegsprotagonisten angeht?
Norbert Frei: Ja, die beiden Fälle scheinen dafür zu sprechen. In der Tat hat es in anderen Bereichen von Wissenschaft, auch von Politik und Justiz, schon sehr viel früher solche Debatten um die Frage von Kontinuitäten beziehungsweise wiederhergestellten Kontinuitäten gegeben. Denn es geht ja tatsächlich darum, dass es nach der NS-Zeit zunächst eine Phase der Entnazifizierung gegeben hat, in der auch hingeschaut worden ist, was eigentlich die einzelnen Protagonisten gemacht haben. Aber dann, insbesondere im Bereich der Justiz – aber in anderen Bereichen der Funktionseliten der NS-Zeit, beobachten wir das auch – gibt es dann eine große Reintegration dieser zunächst eine Zeit lang außer Dienst gestellten Figuren. Und insofern ist das ein allgemeiner Befund, den jetzt die Kunstgeschichte, die Kultur offenbar noch ein bisschen spät nachholen wollen.
"... musste man natürlich mitmachen"
Ellmenreich: Bei der Berlinale zeigte man sich ja durchaus überrascht über die Rolle Bauers. Nun sind Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek gerade erst ganz frisch an der Spitze der Berlinale. Verlässt man sich vielleicht zu leicht darauf, dass Vorgängerinnen und Vorgänger ganz sicher schon mal in die Akten geschaut haben?
Frei: Das weiß ich nicht, aber klar ist eigentlich, dass, wenn man sich die Jahrgänge dieser frühen Funktionäre anschaut, dann die Vermutung, dass da doch etwas sein könnte an NS-Vorgeschichte, eigentlich naheliegen müsste. Denn Sie müssen ja denken, dass gerade der Nationalsozialismus ein Regime gewesen ist, in dem man sehr großen Gestaltungswillen gerade auch im Bereich von Kunst und Kultur gehabt hat. Und wer als junger Kunsthistoriker oder sonstiger Kulturschaffender etwas werden wollte, der war Mitglied der Reichskulturkammer und ist in diesem Sinne sozusagen in den NS hineinsozialisiert worden. Die einen haben sich ein bisschen besser als die anderen vielleicht am Rande halten können, aber letzten Endes, wenn man etwas tun wollte, musste man natürlich mitmachen.
Einzelfälle genau betrachten
Ellmenreich: Den Begriff Elitenkontinuität benutzen Sie auch, Herr Frei. Womit haben wir es da zu tun? Hat das stattgefunden aus einem Mangel an Alternativen, weil einfach die Menschen, die im Berufsleben standen, eine Vorgeschichte hatten. Oder sehen Sie dahinter auch so etwas wie ein System: ein System, das das eigene System gestützt hat?
Frei: Naja, wir müssen uns ja eigentlich vor Augen führen, dass es tatsächlich darum ging, eine ganze Gesellschaft aus der Diktatur in die Nachkriegsdemokratie zu überführen: ein Transformationsprozess. Und der betrifft natürlich die gesellschaftlichen Funktionseliten in besonderem Maße. Insofern ist das etwas, was uns nicht verwundern darf und was ja auf der anderen Seite zu diesem Erfolg der Bundesrepublik beigetragen hat: nämlich die Bereitschaft, gerade von dem intelligenteren Teil auch, dem flexibleren Teil der Jüngeren, sich dann umzuorientieren und in dieser Bundesrepublik anzukommen. Insofern tragen viele ihr Gepäckstück mit herum. Und für viele ist das aber natürlich auch ein Grund, jetzt vorsichtig und genauer zu sein. Deswegen ist das im Einzelfall und genau zu betrachten, was der einzelne da verschwiegen hat oder wie sehr er geglaubt hat, dass sein neues Engagement für neue Kunstrichtungen, für neue demokratische Öffentlichkeitsformen und so weiter gewissermaßen seine Vergangenheit auch vergessen macht.
Historischer Nachholbedarf
Ellmenreich: Das heißt, wenn ich Sie richtig verstehe: Dann wäre das Nachkriegsdeutschland, die Nachkriegsbundesrepublik insbesondere, nicht so erfolgreich gewesen, wenn es diese Kontinuität nicht gegeben hätte?
Frei: Kontinuität bis zu einem gewissen Grad ist unvermeidlich. Es gibt aber auch klare vergangenheitspolitische Skandale in den 50er-, 60er- und auch noch in den 70er-Jahren, wo eben Leute mit einer verbrecherischen Vergangenheit integriert worden sind und dann am Ende diese Fälle auch skandalisiert worden sind. Insofern hat das natürlich auch zur selbstkritischen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit beigetragen. Das ist auf der einen Seite ein Opportunismus gewissermaßen auch als Einladung an viele Funktionsträger 1949 ff. ausgesprochen. Auf der anderen Seite kann man sagen: Nicht jeder musste reintegriert werden. Und die Bedingungen, unter denen das geschah, die kann man natürlich – und soll man auch – kritisch noch einmal hinterfragen.
Ellmenreich: Noch einmal beziehungsweise zum allerersten Mal. Das heißt, für Sie als Historiker, als Zeithistoriker ist noch jede Menge Arbeit zu leisten?
Frei: Also, wir haben schon viele Erkenntnisse über viele Funktionseliten in der NS-Zeit. In dem Bereich von Kunst und Kultur ist in der Tat vielleicht momentan noch am meisten zu leisten, ja.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Alfred Bauer begrüßt die italienische Schauspielerin Gina Lollobrigida nach ihrer Ankunft auf dem Flughafen Tegel in Berlin am 02.07.1965 mit einem Glas Sekt.
Berlinale-Direktor Alfred Bauer - "Ein eifriger SA-Mann"
Der erste Direktor des Filmfestivals Berlinale, Alfred Bauer, war vorher ein hoher NS-Kulturfunktionär und SA-Mitglied. Er entschied unter anderem mit darüber, wer an die Kriegsfront musste und wer als unabkömmlich in Deutschland bleiben durfte - und damit über Leben und Tod. Nach dem Krieg holte er internationale Stars nach Berlin - und log über seine braune Vergangenheit. Die Berlinale hat nun erklärt, ihren Alfred-Bauer-Preis vorläufig nicht mehr zu vergeben.