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NS-Gräuel im Dokumentarfilm
Medienhistorikerin: "Die Bilder sind bis heute verstörend"

Leichenberge und ausgezehrte Überlebende: Filmbilder aus den befreiten Konzentrationslagern, aufgenommen von den Alliierten, sollten die Deutschen mit ihren Taten konfrontieren und Verharmlosung verhindern. Für die Schule seien sie heute weniger geeignet, so die Medienhistorikerin Ulrike Weckel.

Von Ludger Fittkau | 28.01.2020
Überlebende des Konzentrationslagers Auschwitz verlassen das Lager und machen dabei Siegesgesten.
Ein Bild aus dem Konzentrationslager Auschwitz, aufgenommen am Tag der Befreiung (imago/Reinhard Schultz)
"Death Mills", Mahlwerke des Todes, so lautet der Titel einer 22-minütigen Filmdokumentation, die die US-Army 1945 unmittelbar nach der Befreiung der Konzentrationslager produzierte unter der Aufsicht des bekannten Regisseurs Billy Wilder.
Männer mit geschulterten Spaten und weißen Kreuzen marschieren auf einer Straße. Schnitt. Die nächste Kameraeinstellung zeigt den Stacheldrahtzaun eines Konzentrationslagers. Es folgen Bilder ausgemergelter Menschen in Sträflingsuniformen und Aufnahmen von Leichenbergen. Bilder, die sich ins kollektive Gedächtnis der Menschheit eingeschrieben haben.
Für die US-Soldaten waren die Lager ein Schock
Die ersten, die 1945 geschockt waren, als sie mit diesen Ansichten konfrontiert wurden, waren nicht die Deutschen, die den Film als Wochenschauen in den Nachkriegs-Kinos zu sehen bekamen, sondern die US-Soldaten, die die Lager-Tore öffneten. Das betont Ulrike Weckel, Medienhistorikerin an der Universität Gießen:
"Für die Soldaten war das ein enormer Schock. Und sehr viele sagen, gerade von diesem Kameraleuten, die ja auch im Krieg die Truppen begleitet haben - und das geben etliche zu Protokoll, die schreiben auch so Notizen zu den Filmaufnahmen: Das ist schlimmer als alles, was wir auf den Schlachtfeldern gesehen haben: also die Überwältigung, das Ausmaß des Schreckens, die noch herumliegenden Leichen, der enorme Gestank. Das ist übrigens ein Grund, weshalb sie denken, ihre Bilder sind womöglich verharmlosend, weil die Betrachter nicht das hören und vor allem riechen, was sie da mitkriegen."
Erich Kästner versagten beim Schreiben die Worte
Die Deutschen, so Ulrike Weckel, hätten im Kino keineswegs eingleisig und als fixes Kollektiv reagiert, als sie "Death Mills" und andere Filme sahen, die der Re-Education dienen sollten. Auch Schweigen war in vielen Fällen wohl keine Gefühlskälte von Tätern oder Mitwissern, sondern auch Ausdruck eines tiefen Schamempfindens. Ulrike Weckel fand bei ihren Forschungen einen Artikel von Erich Kästner: "Der in der 'Neuen Zeitung' schreibt, ich soll über den Film `Todesmühlen´ schreiben. Und ich kriege keinen zusammenhängenden Artikel hin. Und dann muss man sich doch mal fragen, wie kann man sich darauf noch dazu gleich danach einen Reim darauf machen, was wir heute noch nicht ganz begreifen."
Ulrike Weckel verzichtete bei ihrer Holocaust-Gedenkvorlesung zum Thema an der Goethe-Universität Frankfurt am Main darauf, Ausschnitte aus dem historischen Filmmaterial zu zeigen. Sie wollte ein Gespräch ermöglichen. Die Bilder lassen auch heute noch viele Menschen verstummen:
"Mein Eindruck ist, was besonders schockierend war und auch in den Filmen nach wie vor am meisten verstört, sind diese Überlebenden oder man muss fast sagen 'Noch-Lebenden'. Denn viele sind ja nach der Befreiung noch gestorben. Die tatsächlich sichtbar zwischen Leben und Tod schwankten. Und in der Literatur aus der Befreiungszeit ist immer von 'wandelnden Skeletten' die Rede. Im Häftlingsjargon hieß das 'Muselmänner', das waren genau die, die sich aufgegeben hatten, die keine Chance mehr hatten. Und zu sehen, wozu Menschen herabgewürdigt werden können, bis die fast nichts mehr Individuelles haben, die sehen sehr ähnlich aus, aber fast nicht mehr Menschen ähnlich, das haben viele als extrem verstörend begriffen. Und ich glaube, das überträgt sich auch auf uns, wenn wir das heute sehen. Es ist hochgradig verstörend."
Für die Schule sind die Filme heute ungeeignet
Ulrike Weckel glaubt nicht, dass Filme wie "Death Mills" heute noch als pädagogisches Mittel geeignet sind – etwa im Schulunterricht: "Ich bin sehr skeptisch. Diese Filme sind in der historischen Situation entstanden und für Mitlebende, die dieses erlebt haben. Und mit der Strategie, damit nicht geleugnet wird, was übrigens auch fast nicht passierte. Aber damit es nicht unterschätzt wird, damit es nicht vom Tisch gewischt wird, häufen diese Filme wirklich Schrecken auf Schrecken. Die wollen bewusst Verharmlosung verhindern und sind damit überwältigend. Und da muss man sich wirklich fragen, wie effektiv das sein kann, wenn es sich jetzt um Nachgeborene handelt, die man auch nicht in dieser Weise sozusagen drankriegen kann und sagen, das ist in eurer Mitte passiert."
Weckel plädiert dafür, heute eher offene Gesprächssituationen zu schaffen als mit dem Mittel der Überwältigung zu arbeiten.