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NS-Verbrechen
Die Aufklärung der Gräueltaten geht weiter

Die Zentrale Stelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg spürt seit 1958 Nazi-Verbrecher auf. Für ihre Kritiker haben die Ermittler in all den Jahren zu wenig geleistet, doch international gilt die Behörde als Aushängeschild des deutschen Umgangs mit der NS-Vergangenheit. Bald wird über ihre Zukunft gesprochen.

Von Uschi Götz | 04.06.2015
    Kurt Schrimm, der Leiter der Zentralstelle zur Aufklärung von NS-Verbrechen, steht am 15.12.2011 in Ludwigsburg im Archiv der NS-Stelle. Die Zentralstelle zur Aufklärung von NS-Verbrechen sucht gezielt und systematisch nach weiteren NS-Verbrechern.
    Kurt Schrimm, der Leiter der Zentralstelle zur Aufklärung von NS-Verbrechen, in Ludwigsburg im Archiv. (dpa / picture alliance / Franziska Kraufmann)
    Kurt Schrimm hat es eilig, er rennt fast durch sein Haus. Seit 15 Jahren leitet der Oberstaatsanwalt die Zentrale Stelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen im baden-württembergischen Ludwigsburg. Sein Job ist ein Wettlauf mit der Zeit. Im Herbst geht Schrimm in den Ruhestand. Eigentlich hat er das Rennen ja schon gewonnen. Als er nach Ludwigsburg kam, glaubten viele, die Phase der Aufklärung von NS-Gräueltaten sei vorbei. Von wegen. "Wir haben uns alle geirrt. Durch die Tatsache, dass auch neue Ermittlungsmethoden von uns geschaffen wurden, hat sich das Ganze nach hinten verschoben."

    Jahrzehntelang kamen Hinweise auf mögliche Täter von Opfern, Zeugen, auch aufgrund von historischen Erkenntnissen. Doch die Quellen versiegten mit den Jahren. "Ich habe sehr schnell gemerkt, im Jahr 2000, dass es diesen Anfangsverdacht nur noch in sehr wenigen Fällen gibt und wir uns überlegen müssen, entweder wir stellen unsere Arbeit ein, weil wir hier am Schreibtisch sitzen und Däumchen drehen, weil nichts mehr kommt - oder wir versuchen neue Wege zu gehen."

    Das hieß: Nicht mehr auf Hinweise warten, sondern selbst ermitteln. "Wir haben die Welt geteilt", erklärt Schrimm. Ein Teil durchsuchte Archive in der Ukraine, in Weißrussland und unter zunehmend schwierigeren Bedingungen in Russland. Eine zweite Ermittlungsgruppe ist für Lateinamerika zuständig. Überall hielten und halten sich möglicherweise noch bis heute Nazi-Verbrecher versteckt.
    Verurteilung ist das Tüpfelchen auf dem I
    Vor gut zwei Jahren schloss die Zentrale Stelle 50 Vorermittlungsverfahren gegen frühere Auschwitz-Wachmänner ab und leitete die Fälle an die zuständen Staatsanwaltschaften weiter. Mit Oskar Gröning steht aktuell in Lüneburg einer der wenigen noch verhandlungsfähigen Männer vor Gericht. "Für uns ist es so, dass, wenn ein Fall nach unserer Auffassung aufgeklärt ist, wenn das Tatgeschehen aufgeklärt ist, wenn ein Tatverdächtiger ermittelt wurde, ist das für uns ein Erfolg. Die rechtskräftige Verurteilung, das ist das Tüpfelchen auf dem I. Wir sehen es nicht als Niederlage an, wenn in dem einen oder anderen Fall, aus welchem Grund auch immer, gesundheitliche Gründe oder was auch immer, es nicht mehr zur Verurteilung kommt."

    Auch im berühmt gewordenen Fall des ehemaligen KZ-Aufsehers John Demjanjuk hatte die Zentrale Stelle die Vorermittlungen geleitet, die zu dem Prozess vor dem Münchner Landgericht führten. Das 2011er-Urteil gegen Demjanjuk brachte eine unerwartete Wende für die weitere Arbeit der Ermittler. Nicht die Rechtslage hat sich wirklich geändert, aber der Wille der Justiz, auch die Helfer der Nazi-Schergen vor Gericht zu stellen, wurde stärker.
    Demjanjuk war richtungsweisend
    Den Prozess gegen Oskar Gröning, auch Buchhalter von Auschwitz genannt, wegen Beihilfe zum Mord beobachtet Schrimm allerdings mit Abstand: "Bei Demjanjuk war es noch anders. Das war ein richtungsweisender Fall, bei dem wir hier im Zimmer, oder bei den Kolleginnen und Kollegen, oft stundenlang und tagelang darüber diskutiert haben. Anders bei Gröning. Gröning war ja ein Fall von vielen. Da waren meine Sachbearbeiter mit befasst, das ist ein Fall, den ich nur aus den Akten kenne. Das kann ich mir nicht leisten, mich da noch persönlich zu engagieren."
    Schrimm bleibt am Ende des Gangs stehen. Früher war das Haus ein Frauengefängnis, bis heute sind die Räume schlicht und die Gänge kahl. Der Oberstaatsanwalt gibt einen Zahlencode ein. Die tresorartige Tür öffnet sich. Dahinter liegt in raumhohen Regalschubladen Deutschlands dunkelste Vergangenheit.
    Auch Enkelkinder können Recherchen beantragen
    Über 1.700.000 Karteikarten. Auf farbigen Karten ist dokumentiert, was in kein Geschichtsbuch passt. Namen von A bis Z. Manche Karte blieb unbeschrieben, andere Karten verweisen auf Akten, die ein paar Zimmer weiter lagern. Mindestens 750 laufende Regalmeter Gräueltaten. Leiter Schrimm nennt es das Herzstück und Gedächtnis der Zentralstelle. Bis heute können auch Kinder und Enkelkinder hier Recherchen in Auftrag geben. "Wenn sie jetzt einen Brief schreiben, 'ich habe gehört, dass mein Großvater ... Name ... 1943 vor Moskau als Angehöriger der 5. SS Panzerdivision Verbrechen begangen hat, stimmt das?'"

    Über die Anfrage werden Karteikarten angelegt, die dann später möglicherweise als Teil eines Puzzles dienen.

    Über die Zukunft der Zentralen Stelle werden Mitte Juni die Justizminister der Länder in Stuttgart diskutieren. Einen entsprechenden Antrag hat der baden-württembergische SPD-Justizminister Rainer Stickelberger vorbereitet. Die baden-württembergische Landesregierung möchte die Ludwigsburger Stelle gerne erhalten und hofft, dass die anderen Länder mitziehen. Der Ort soll als Dokumentations-, Forschungs- und Informationszentrum bestehen bleiben. Das wünscht sich auch der scheidende Leiter Schrimm. In Kürze bricht er zu einer seiner letzten Dienstreisen auf: "Wir gehen jetzt im Juli erstmals nach Ecuador. Wir wissen nicht, was uns dort erwartet, das kann sein, das geht sehr schnell zu Ende, wenn die Akten für unsere Recherchen dort nicht tauglich sind. Es kann aber auch sein, dass es ähnlich aussieht wie in Brasilien, wo in diesem Jahr noch die zwölfte Dienstreise hingehen wird." Die Ermittler arbeiten in Südamerika die Einwanderungsakten nach 1945 durch.

    Wenn er von seinem letzten Auftrag nach Hause kommt, wird Kurt Schrimm sich an den heimischen Schreibtisch setzen. Er, der nie als Chef-Nazijäger bezeichnet werden wollte, schreibt dann ein Buch.