Als am 19. April 1956 Emil Nolde beigesetzt wird, ist auch Heinz Reinefarth dabei. Reinefarth ist zu diesen Zeitpunkt Bürgermeister von Westerland und nach Seebüll gereist, um den berühmten Schleswig-Holsteinischen Maler zu würdigen:
"Mit großer Ehrfurcht aber auch mit tiefer Dankbarkeit und Liebe werden wir sein Andenken stets in Ehren halten."
1958 zieht Reinefarth in den Schleswig-Holsteinischen Landtag ein. Der damals 55-Jährige gerät schnell ins Visier von Politik und Medienvertretern: Der Vorwurf: Reinefarth sei während der NS-Zeit an der Ermordung tausender Menschen beteiligt gewesen. Heute ist klar:
"Er war bei der Niederschlagung des Warschauer Aufstands die führende SS-Figur gewesen und ein Massenmörder um es ganz platt zu sagen", sagt Uwe Danker, Professor und Direktor des Instituts für Schleswig-holsteinische Zeit- und Regionalgeschichte der Europa-Universität Flensburg.
Insgesamt 389 Lebensläufe hat er zusammen mit seinem Kollegen Sebastian-Lehmann Himmel und weiteren Forschern untersucht: Abgeordnete, Minister und Staatssekretäre. Sämtliche Landespolitikerinnen und Landespolitiker die vor oder einschließlich 1928 geboren wurden und zwischen 1946 und 1996 aktiv waren, fielen in die Untersuchungsgruppe.
Das Ergebnis: Von 342 Abgeordneten waren 115 früher Mitglied der NSDAP - das sei sicher, so Danker:
"Diese Gesamtquote von genau 33,6 Prozent – also einem Drittel – ist etwa doppelt so groß als beim männlichen Bevölkerungsdurchschnitt Schleswig-Holsteins."
"Geradezu ein Extremfall"
Den hohen Anteil erklärt Danker damit, dass in Schleswig-Holstein schon vor 1933 die NSDAP zum Teil sehr hohe Ergebnisse erzielte – und zudem nach 1945 besonders viele Vertriebene und Flüchtlinge ins Land kamen.
Doch der Anteil früherer NSDAP-Mitglieder ist doppelt so hoch wie in der Bremer Bürgerschaft und immer noch 50 Prozent höher als im Landtag von Niedersachsen, das strukturell Schleswig-Holstein sehr ähnelt. Das nördlichste Bundesland sei damit ein Ausreißer, sagt Danker, geradezu ein Extremfall.
Er steht an diesem Mittwochabend im Plenarsaal des Schleswig-Holsteinischen Landtags. Vor ihm auf den Abgeordnetensesseln und oben auf der Besuchertribüne haben knapp 100 Besucher Platz genommen. Die meisten von ihnen dürften im Rentenalter sein.
In den ersten Nachkriegsjahren sei noch fast die Hälfte der Abgeordneten frühere NS-Verfolgte gewesen. Doch 1950 erfolgte eine Zäsur: Die Verhältnisse kehrten sich um. Der Geist des Neubeginns war verflogen. Professor Uwe Danker:
"Von 1950 bis 1971 waren im Schleswig-Holsteinischen Landtag fast zur Hälfte, teilweise über die Hälfte aller Abgeordneten ehemalige Mitglieder der NSDAP. Dieses Ausmaß war bis dato nicht bekannt."
Die Ergebnisse der Studie waren von den heutigen Abgeordneten des Landtags kurz vor Weihnachten diskutiert worden – Danker und sein Team erhielten dabei parteiübergreifend viel Lob. Die Untersuchung habe zwar wenig Revolutionäres zu Tage gebracht, meinte der CDU-Abgeordnete Axel Bernstein – aber enthalte doch vieles wichtige. Zum Beispiel zeige sie, "dass personelle Kontinuitäten eben nicht gleichbedeutend sind mit inhaltlichen Kontinuitäten".
Politik trug nicht automatisch Handschrift der Nazis
Denn Dankers Studie zeigt auch: Ein hoher Anteil ehemaliger NSDAP-Mitglieder führt nicht automatisch zu einer Politik, die die Handschrift des Naziregimes trägt.
Der Historiker hat die 389 Personen dafür in fünf unterschiedliche Orientierungen eingeteilt: Demnach wurde rund ein Viertel aller Landespolitiker vom NS-Regime verfolgt oder war oppositionell. Knapp ein Drittel stufte Danker als Mitläufer ein. Relevant und real verstrickt ins NS-Regime seien aber die Angehörigen der letzten beiden Orientierungsgruppen gewesen: Personen, die aus Karrieregründen der NSDAP beigetreten waren und jene, die als exponiert nationalsozialistisch gesehen werden konnten – zum Beispiel Berufspolitiker.
Knapp 13 Prozent gehörten diesen beiden Gruppen an – also etwa jeder siebte Landespolitiker. In den Reihen der Schleswig-Holsteinischen Landesregierungen war dieser Anteil doppelt so hoch.
Dankers Fazit: Einerseits sei es geglückt die überraschend hohe Zahl von ehemaligen Parteimitgliedern gut in die neue Politik und die Gesellschaft zu integrieren. Das habe aber auch moralische Hypotheken geschaffen:
"Beispielsweise als Kollateralschaden die NS-Opfer wieder an den gesellschaftlichen Rand verwies, die bis in die 1990er Jahre um Anerkennung ringen mussten."