Mittwoch, 24. April 2024

Nudging
Manipuliert uns die Politik?

Mit verhaltenspsychologischen Erkenntnissen können Menschen subtil dazu gebracht werden, sich anders zu verhalten. Werbung hat diese Methoden schon immer genutzt. Mehr und mehr setzt auch die Politik darauf. Ist das legitim?

04.06.2023
    Ein Mensch hält zahlreiche Fäden in der Hand, die zu kleineren Menschen führen.
    Unter dem Schlagwort Nudging wird diskutiert, mit welchen Methoden der Staat seine Bürger beeinflussen darf. (IMAGO / Zoonar / IMAGO / Zoonar.com / Luis Moreira)

    Was ist die Definition von Nudging?

    Den Begriff Nudging (vom Englischen "to nudge": jemanden anstoßen, schubsen) haben der Ökonom Richard Thaler und der Jurist Cass Sunstein 2008 in einem wissenschaftlichen Aufsatz geprägt. Die beiden verstehen darunter Methoden, mit denen Menschen dazu gebracht werden können, ihr Verhalten zu ändern – und zwar ohne dabei auf Verbote oder Gebote zurückzugreifen. Außerdem dürfen sich auch die ökonomischen Anreize nicht grundlegend verändern.
    Ein Beispiel: Stellen wir uns ein Buffet vor, an dem es als Nachspeisen sowohl Obst als auch zuckriges Gebäck gibt. Obst ist natürlich die gesündere Option und es könnte als wünschenswert angesehen werden, dass die Menschen eher zum Obst greifen. Ein passender Nudge könnte hier sein, das Obst vor die anderen Süßspeisen zu stellen. Viele Menschen greifen nun intuitiv zuerst zum Obst und laden in der Folge weniger Gebäck auf den Teller. Ein weiterer möglicher Nudge wäre es, den Teller für Nachspeisen zu verkleinern.
    Gäste könnten nun weiterhin frei wählen und beliebig viel zuckriges Gebäck essen – tun sie aber nicht. Studien zeigen, dass solche Nudges wirken und dass das Verhalten der Menschen mit solchen Maßnahmen gelenkt werden kann.
    Würde man hingegen das zuckrige Gebäck vom Buffet verbannen, wäre das kein Nudging mehr, weil den Gästen die Option weggenommen wäre. Auch ein Zusatzpreis für die ungesunden Speisen wäre kein Nudging.

    Wo wird Nudging eingesetzt?

    Methoden, um das Verhalten von Menschen zu beeinflussen, werden seit Jahrzehnten von der privaten Wirtschaft eingesetzt. So sind beispielsweise Supermärkte bewusst so aufgebaut, dass Kunden sich lange im Laden aufhalten. Grundnahrungsmittel werden dafür gezielt über die gesamte Verkaufsfläche verteilt.
    Kunden sollen schließlich an möglichst vielen Regalen vorbeilaufen. Außerdem stehen teure Markenprodukte oft auf Augenhöhe parat, günstigere Produkte gibt es dagegen als „Bückware“.
    Die Privatwirtschaft nutzt solche Methoden, um ihren Gewinn zu steigern und hier liegt ein grundlegender Unterschied zu der Debatte, die um Nudging meist geführt wird. Der Aufsatz, den Thaler und Sunstein im Jahr 2008 über Nudging geschrieben haben, heißt „Nudge: Wie man Menschen dazu bringt, das Richtige zu tun“. Nudging wird darin also als eine Möglichkeit beschrieben, um moralisch gewünschtes Verhalten zu begünstigen. Und seit Thaler und Sunstein ihren Aufsatz veröffentlicht haben, haben mehr und mehr Regierungen Nudging-Ansätze in ihre Politikmaßnahmen einfließen lassen.

    Beispiele für Nudging durch die Politik

    Im Jahr 2016 wurden EU-weit Schockbilder auf Zigarettenpackungen eingeführt, insbesondere um junge Menschen davon abzuhalten, mit dem Rauchen anzufangen. Die Warnhinweise müssen seitdem 65 Prozent der Vorder- und Rückseite von Zigaretten- und Drehtabakverpackungen einnehmen. Das folgt einer Nudging-Logik: Aufmerksamkeit ist begrenzt und soll daher klar auf bestimmte Informationen gelenkt werden.
    Im März 2022 ist das neue Gesetz zur „Stärkung der Entscheidungsbereitschaft bei der Organspende“ in Kraft getreten. Um nach dem eigenen Tod zum Organspender zu werden, muss man sich nach wie vor zu Lebzeiten aktiv dafür entscheiden, Bürger werden aber deutlich häufiger auf diese Entscheidung aufmerksam gemacht. Außerdem hat das Gesetz den Aufbau eines Online-Registers angestoßen, in dem Menschen ihre Bereitschaft zur Organspende hinterlegen können. Aktuell braucht es noch einen Organspenderausweis, um Spender zu werden.
    Mit dem neuen Gesetz setzt die Bundesregierung insbesondere auf zwei Nudging-Techniken: Die Entscheidung für die Organspende soll leicht gemacht werden und Menschen werden regelmäßig an die Möglichkeit erinnert.
    Die meisten EU-Länder setzen hingegen auf die Nudging-Technik der „Default-Regeln“, die als der effektivste Nudge gilt. Dabei ist das gewünschte Verhalten voreingestellt, wer davon abweichen möchte, muss sich aktiv darum bemühen. Heißt bei der Organspende: Jeder, der nicht ausdrücklich widersprochen hat, ist Organspender. Diese Regelung hat teilweise zu einer Verdoppelung oder Verdreifachung der Spenderorgane geführt. In Deutschland gab es im Bundestag allerdings keine Mehrheit für eine solche Default-Lösung.
    Ab wann man bei einer Maßnahme von Nudging spricht, das ist nicht eindeutig abzugrenzen. Schwellen auf der Fahrbahn, die schnelles Fahren verhindern, fallen noch recht klar unter den Begriff. Ebenso die einfach verständliche Kennzeichnung der Energieeffizienz auf Elektrogeräten oder die Information über Nährwerte auf Lebensmitteln. Aber auch die Komplexität von Antragsverfahren kann als Nudge interpretiert werden.
    Antragsverfahren können schließlich leicht und schnell oder auch sehr kompliziert gestaltet werden – je nachdem ob viele Anträge gewünscht sind oder eher nicht. Auch dass drei Absätze über diesem Satz ein Link direkt zur Beantragung eines Organspenderausweis führt, könnte als Nudging gesehen werden – und dass hier erneut auf den Link hingewiesen wird, ist wohl recht sicher Nudging.
    Eine aufgeklebte Fliege in einem Urinal auf einer Toilette.
    Auch das ist Nudging: Ein kleines Bild im Pissoir erhöht die Trefferwahrscheinlichkeit enorm. (picture alliance / Wolfram Steinberg / Wolfram Steinberg)

    Wie argumentieren Befürworter?

    Cass Sunstein, der den Begriff Nudging mitgeprägt hat, wirbt für einen libertären Paternalismus, in dem der Staat das Verhalten der Menschen lenkt – das sei im Interesse der Bürger: „Manchmal treffen Individuen Entscheidungen, die hinsichtlich ihres eigenen Wohlergehens nicht optimal sind – Entscheidungen, die sie ändern würden, wenn sie über alle relevanten Informationen, unbeschränkte kognitive Fähigkeiten und perfekte Selbstbeherrschung verfügten. Es geht darum, Strategien zu entwickeln, die Menschen in Übereinstimmung mit ihren eigenen Interessen beeinflussen und zugleich Entscheidungsfreiheit zulassen“, schreibt Cass in seinem Buch „Gesetze der Angst“.
    Matthias Sutter, Wirtschaftsforscher an der Universität zu Köln, sieht in Nudging „eine attraktive Alternative zu immer mehr Gesetzen und Vorschriften.“ Der Staat erziehe uns ohnehin von klein auf, in den Schul- und Betreuungseinrichtungen. Dass der Staat nun auch stärker auf verhaltensökonomische Instrumente setze, sei insofern gar keine große Neuigkeit. Nudging sei dann legitim, wenn die Ziele des Staates klar sind und gegenüber der Öffentlichkeit gerechtfertigt werden können. Forschungsergebnisse zeigen, dass Nudges auch dann funktionieren, wenn sie als solche erkennbar sind.
    Befürworter argumentieren auch häufig, dass man in vielen Fällen gar nicht nicht nudgen könne. Die Frage sei also mehr, in welche Richtung man den Nudge richtet. Das lässt sich leicht am Buffet-Beispiel veranschaulichen. Wenn dort sowohl Obst als auch zuckriges Gebäck stehen, dann muss eines davon vor dem anderen stehen. Warum also nicht das Obst nach vorne stellen? Ob eine Maßnahme als Nudge und eventuell als paternalistisch empfunden wird, hängt also auch von den Standards und Normen einer Gesellschaft ab.

    Welche Kritik gibt es am Nudging?

    Ein Problem sieht der Soziologe Stefan Piasecki beispielsweise dann, wenn Politiker über Nudging einen Diskurs vermeiden wollen. Um ein politisches Ziel zu erreichen, streben Politiker im Regelfall Gesetze an, die dann transparent zur Diskussion stehen und von der Opposition kritisiert werden können. Diesen politischen Kampf könnten Politiker in manchen Fällen vermeiden und ihre Ziele stattdessen über Nudging durchsetzen.

    Libertärer Paternalismus als Anmaßung

    Andere sehen noch grundlegendere Probleme bei der Idee von Nudging. Denn der Methode liegt der Gedanke zugrunde, dass Menschen manchmal nicht in der Lage sind, gute Entscheidungen für sich selbst zu treffen. Doch was ist eine gute Entscheidung? Und wer entscheidet das? Der Soziologie Wolfgang Sofsky zweifelt an, dass „ausgerechnet staatliche Planer und Experten wissen sollen, was für den Bürger das Beste sei“.
    Studien haben inzwischen zudem auch gezeigt, dass Nudging unerwünschte Nebenwirkungen haben kann. Denn die Bereitschaft von Menschen, großen Maßnahmen zuzustimmen, kann anscheinend abnehmen, wenn diese Menschen zuvor schon sanft in die gewünschte Richtung geschubst wurden. Konkret haben Forscher gezeigt, dass Menschen, die in Richtung Öko-Energie gestupst wurden, sich danach zu einem geringeren Anteil für eine CO2-Steuer ausgesprochen haben.

    Tobias Pastoors, Birgid Becker