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Nüchterne Bestandsaufnahme der "blühenden Landschaften"

Auch 15 Jahre nach der Wiedervereinigung ist die Bundesrepublik ein geteiltes Land. Fragt man in Ostdeutschland nach einer persönlichen Bilanz, spricht kaum jemand über Werte wie Freiheit oder Demokratie. Arbeit oder nicht Arbeit, das ist die Frage, an der Scheitern oder Gelingen der Deutschen Einheit gemessen wird.

Von Claudia van Laak | 30.09.2005
    Das Ergebnis der jüngsten Bundestagswahlen zeigt es: auch nach 15 Jahren Deutsche Einheit ist die Bundesrepublik ein geteiltes Land. In Ost und West wird unterschiedlich gewählt. In allen fünf neuen Ländern erhielt die Linkspartei über 20 Prozent der Stimmen. In Brandenburg, Sachsen-Anhalt und Thüringen verwiesen die Sozialisten die CDU zudem auf Platz drei - die Partei Helmut Kohls, die einen maßgeblichen Anteil hat am Zustandekommen der Deutschen Einheit.

    Fragt man in Ostdeutschland nach der persönlichen Bilanz von 15 Jahren Deutsche Einheit, so redet kaum jemand über Werte wie Freiheit oder Demokratie. Im Vordergrund steht die wirtschaftliche Situation. Arbeit oder nicht Arbeit, das ist die entscheidende Frage, an der Scheitern oder Gelingen der Deutschen Einheit gemessen wird.

    "Es ging zu schnell mit dem Mauerfall, weil ja viele Leute, die kommen einfach nicht zu Rande. Gerade die Arbeitslosigkeit, was wir früher nicht kannten, ich habe noch acht Geschwister, da sind viele arbeitslos."

    "Für mich hätte nichts Besseres kommen können als die Wende, es gibt ja immer Umfragen, Verlierer, Gewinner der Wende, ich bezeichne mich ganz klar als Gewinner."

    "Manchmal könnte man die Mauer nochmal aufbauen, wegen der Sicherheit der Arbeit. Früher haben wir immer Arbeit gehabt, egal, wo man gesessen hat. Und dann denkt man manchmal, Gott, hätten wir die Mauer wieder, wär´s vielleicht anders, aber die wollen wir natürlich nicht wiederhaben, davon abgesehen."

    Es ist vor allen Dingen ein Versprechen, das niemand in den neuen Ländern vergessen wird. Das Versprechen Helmut Kohls, Ostdeutschland in blühende Landschaften zu verwandeln. Am Vorabend des 3.Oktober 1990 sagte der damalige Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung:

    "Durch unsere gemeinsamen Anstrengungen, durch die Politik der Sozialen Marktwirtschaft, werden schon in wenigen Jahren aus Brandenburg, aus Mecklenburg-Vorpommern, aus Sachsen-Anhalt, aus Sachsen und auch aus Thüringen blühende Landschaften geworden sein."

    Von den "blühenden Landschaften" hat Helmut Kohl oft gesprochen, in Regierungserklärungen, in Wahlkampfreden, auf Parteitagen. Für den damaligen Bundeskanzler und CDU-Parteivorsitzenden war das kein leeres Gerede.

    Er glaubte fest an die blühenden Landschaften und erläuterte oft, warum er dieser Überzeugung war. Erstens seien die Ostdeutschen mindestens so fleißig, so intelligent und so kreativ und begabt wie die Westdeutschen, sagte Helmut Kohl kurz vor der Vereinigung.

    "Zweitens haben sie im Gegensatz zur Entwicklung anders als beim Wirtschaftswunder nach 1948/49 einen besseren Start, weil sie gemeinsam mit der Bundesrepublik diesen Weg gehen, und drittens im Gegensatz zu 1948/49 haben wir jetzt eine internationale Lage, die hilfreich ist. Wir haben keine Absperrung, sondern die DDR wird sofort in diesen großen Wirtschaftsraum hineinkommen."

    Letzteres war eine fatale Fehleinschätzung. Fehlende Absperrung, das bedeutete: Von einem Tag auf den anderen wurden die DDR-Betriebe der vollen Wucht eines globalisierten Wettbewerbs ausgesetzt. Auf diesen Wettbewerb waren sie nicht vorbereitet, ihre Ausgangsbedingungen waren denkbar schlecht. Wie Marktwirtschaft funktionierte, wusste kaum jemand in den Leitungen der DDR-Kombinate.

    Die Währungsunion hatte den Betrieben eine zusätzliche Last aufgebürdet: auch die Schulden wurden 1:1 bzw. 1:2 umgestellt. Außerdem waren die Unternehmen lange Jahre auf Verschleiß gefahren worden, dringend notwendige Investitionen blieben aus. Der Westen hatte ein viel zu rosiges Bild vom Zustand der DDR-Wirtschaft. Dazu die frühere Treuhandchefin Birgit Breul.

    "Sie dürfen nicht vergessen, dass auch die OECD, die ja immerhin international einen hohen Rang hat, die frühere DDR als siebtgrößte Wirtschaftsmacht der Welt definiert hat. Insoweit sind wir alle einem Fehler aufgesessen. Was ich zum ersten Mal realisiert habe, als wir die Eröffnungsbilanzen unserer Firmen auf den Tisch bekamen und wir mit Entsetzen sehen mussten, wie katastrophal die Lage war."

    Was folgte war eine beispiellose De-Industrialisierung. Eine gesamte Volkswirtschaft brach in kürzester Zeit zusammen. Von zehn Arbeitsplätzen in der Industrie blieb nur einer übrig. "Helmut Kohl hat politisch alles richtig, wirtschaftlich aber alles falsch gemacht," analysierte der CDU Politiker und frühere Ministerpräsident Baden-Württembergs, Lothar Späth, der sich nach der Wende als Sanierer der Zeiss-Nachfolgebetriebe in Jena einen Namen gemacht hat.

    Wirtschaftsforscher teilen diese Einschätzung. Der Einigungsprozess ist durch fatale wirtschaftspolitische Fehler gekennzeichnet, sagt Joachim Ragnitz vom Institut für Wirtschaftsforschung Halle.

    "Im Nachhinein muss man als Fehler kennzeichnen den Umtauschkurs bei der Währungsunion, der eher sozialpolitisch motiviert war, man muss wohl auch als Fehler kennzeichnen die teilweise überstürzte Privatisierungspolitik der Treuhand. Und man hätte Sonderregelungen für den Osten zulassen sollen."

    Das komplizierte westdeutsche Rechtssystem hätte nicht von einem Tag auf den anderen 1:1 auf den Osten übertragen werden dürfen, ist der Wirtschaftsforscher überzeugt. Das habe die Betriebe stranguliert und in die Pleite getrieben. Joachim Ragnitz kritisiert außerdem die vergleichsweise rasche Lohnangleichung an das Westniveau. Die Löhne seien für die Produktivität zu hoch gewesen. Verantwortlich dafür ist nach Ansicht des Wirtschaftsforschers ein Kartell von westdeutschen Arbeitgebern und westdeutschen Gewerkschaftsfunktionären.

    "Die Interessenslage war nicht unbedingt eine ostdeutsch geprägte. Sondern die westdeutschen Unternehmensvertreter haben häufig genug das Interesse ihrer westdeutschen Muttergesellschaften im Blick gehabt. Das heißt also, sie wollten keine Billigkonkurrenz im Osten haben."

    Ähnliches ist aus der Treuhand bekannt. Es gibt viele Beispiele, in denen westdeutsche Unternehmen ihre ostdeutschen Konkurrenten aufkauften und dann in die Insolvenz gehen ließen. Auch der spektakuläre Fall der Kaligrube Bischofferode in Thüringen ist ein solches Lehrstück.

    Die Kalikumpel versuchten vergeblich, mit einem Hungerstreik ihre Grube zu retten. Obwohl es einen Kaufinteressenten gab, lehnte die Treuhand eine Privatisierung ab, die Grube wurde geschlossen. Der Druck des in Hessen ansässigen Unternehmens "Kali und Salz" auf die Treuhand war zu groß. Mittlerweile wird das thüringische Kalisalz durch einen Tunnel von Hessen aus abgebaggert, die Kumpel in Ostdeutschland haben das Nachsehen.

    Anfang der 90er Jahre herrschte in der Politik die Vorstellung: Ist die marode Ostwirtschaft erst einmal abgestorben, wird sich auf den Trümmern etwas Neues entwickeln, eine zweites deutsches Wirtschaftswunder. Aufbau Ost gleich Nachbau West. Bei der Bilanz-Pressekonferenz der Treuhand Ende 1994 sagte der damalige Vorsitzende des Treuhand-Verwaltungsrates Manfred Lennings:

    "Bei allen Wirtschaftsfachleuten der ganzen Welt besteht kein Zweifel darüber, dass Ostdeutschland in den nächsten Jahren die Hauptwachstumsregion Europas sein wird."

    Auch dies eine fatale Fehleinschätzung. Einem kurzen Boom Mitte der 90er Jahre – ausgelöst durch das enorme Wachstum der Baubranche – folgte der Absturz. Ostdeutschland ist jetzt beim Wachstum das europäische Schlusslicht. Uwe Müller, Autor des Buches "Supergau Deutsche Einheit":

    "Ostdeutschland ist die wachstumsschwächste Region in Europa insgesamt und Brüssel sagt, dass Zwei Drittel der deutschen Wachstumsschwäche auf die unbewältigten Folgen der Einheit zurückzuführen sind, dieser Prozess wird sich dann fortsetzen, das bedeutet einen Wohlstandsverlust für alle in Deutschland."

    Nach Ansicht von Uwe Müller ticken in Ostdeutschland drei Zeitbomben. Die erste besteht in dem Mangel an leistungsfähigen Unternehmen, die zweite in der demographischen Entwicklung, die dritte im Zustand der öffentlichen Haushalte.

    Ostdeutschland verfügt über zu wenige Unternehmen. Die Wirtschaft ist extrem kleinteilig strukturiert, in vielen Fällen sind die ostdeutschen Unternehmen verlängerte Werkbänke ihrer Mutterunternehmen im Westen. Es fehlen die Hauptverwaltungen, es fehlen Forschungs- und Entwicklungsabteilungen, Marketing und Vertrieb.

    Der Mittelstand im Osten ist zu sehr auf den deutschen Markt und zu wenig auf den Export orientiert. Das Exportvolumen ist niedrig und wird von wenigen, global aufgestellten Unternehmen getragen. Beispiel Brandenburg. Das im Bundesvergleich mittelständische Unternehmen RollsRoyce in Dahlewitz bestreitet mit der Produktion und Wartung von Triebwerken 20 Prozent des Brandenburger Exportvolumens. Addiert man den Umsatz der 100 größten Unternehmen Ostdeutschlands, erreicht diese Summe noch nicht einmal den Jahresumsatz von Siemens. Der Osten ist mit nur zehn Prozent an den gesamtdeutschen Industrieumsätzen beteiligt. Gemessen an der Bevölkerung müsste der Anteil doppelt so hoch sein.

    Die gute Nachricht: Die Industrie ist der Wachstumsmotor für den Osten. Die Unternehmen des verarbeitenden Gewerbes sind im letzten Jahr mit 8,8 Prozent doppelt so stark gewachsen wie westdeutsche Betriebe. Die Politik weist gerne auf Großinvestitionen und Neuansiedlungen hin: Das europäische Drehkreuz der Post-Tochter DHL am Flughafen Halle/Leipzig, der Chiphersteller AMD in Dresden und nicht zuletzt das BMW-Werk in Leipzig. Michael Janssen, Sprecher von BMW Leipzig.

    "Die Standortentscheidung ist letztendlich gefallen, weil man sagen kann, unter dem Strich bietet Leipzig beste Chancen, sehr langfristig das zu tun, was BMW vorhat, eine Ansiedlung mit einem neuen BMW-Werk auf viele Jahrzehnte. Leipzig liegt ja nicht nur im Osten Deutschlands, sondern in der Mitte Europas, wenn man neue Absatzmärkte in Osteuropa sich vorstellt, dann ist Leipzig ein ganz idealer Standort."

    Leipzig hat den Wettbewerb von insgesamt 250 Standorten gewonnen und den Zuschlag für die 1,3 Milliarden Euro Investition bekommen.

    "Ein wichtiger Aspekt war das Vorhandensein von qualifiziertem und qualifizierbarem motiviertem Personal, dann spielen Dinge eine Rolle wie die Behördensituation. Wie planungssicher kann man so ein Werk aufbauen. Alles hat hervorragend geklappt, das liegt an den sehr flexiblen Strukturen in den neuen Bundesländern."

    Ein weiterer Punkt, der für Leipzig sprach: Ein knappes Drittel der Investitionssumme bekommt BMW vom Staat geschenkt, dank der Förderbedingungen in den neuen Bundesländern. Der Standortnachteil Leipzigs: die hohen Lohnkosten im Vergleich zu osteuropäischen Ländern wie Tschechien oder der Slowakei. Dieser Nachteil wird ausgeglichen durch die hohe Flexibilität. BMW schloss mit der IG Metall besondere Vereinbarungen ab.

    "Zwischen 60 und 140 Wochenstunden können wir das Werk mit dem existierenden Personal ohne Lohnzusatzkosten betreiben. Alle BMW-Mitarbeiter haben Arbeitszeitkonten von plus 200 bis minus 200 Stunden, und sehr flexible Schichtmodelle. Wir können drei Tage in der Woche arbeiten oder sechs, kurze Schichten oder lange, alles mit dem gleichen Stammpersonal."

    BMW Leipzig beschäftigt derzeit 2300 Mitarbeiter, langfristig sollen es 5500 werden. Dazu kommen die Zulieferer, die sich im Laufe der Zeit rund um das Werk ansiedeln werden. Wie dringend diese neuen Arbeitsplätze in Ostdeutschland benötigt werden, zeigt die Zahl der Interessenten. Sage und schreibe 140.000 Personen haben sich um die freien Stellen beworben. Es bräuchte viele ähnlicher Ansiedlungen wie die von BMW, um die Arbeitslosigkeit auf ein erträgliches Maß abzusenken.

    Für BMW bedeutet die Investition in Leipzig eine längerfristige Entscheidung für die Region. Deshalb weist BMW-Sprecher Janssen auch auf die demographische Entwicklung hin, die für ein Automobilwerk dieser Größe durchaus von Bedeutung ist.

    "Etwas ganz Wichtiges, was die Region für die Zukunft dringend braucht, ist eine weiterhin funktionierende Berufs- und Hochschulausbildung. Denn wenn man die demographische Entwicklung sieht, dann weiß man, dass wir in 15 bis 20 Jahren ein großes Problem haben werden, qualifizierten Berufsnachwuchs zu finden."

    Ostdeutschland hat seit der Vereinigung bis heute etwa 1,5 Millionen Menschen verloren, zum Teil durch Abwanderung, zum Teil durch den massiven Geburtenrückgang. Prognosen gehen von einem weiteren Bevölkerungsverlust aus – bis 2010 wird die Zahl der Erwerbsfähigen voraussichtlich um 22 Prozent schrumpfen. Eine Zeitbombe, meint der Buchautor und Volkswirt Uwe Müller.

    "Es wird durchaus so sein, dass sich Regionen weitgehend entvölkern. Wir wissen, etwa 16 Prozent aller Wohnungen in Ostdeutschland stehen leer. Wir haben ein Programm, das nennt sich Stadtumbau Ost, ein verharmlosender Titel. Es geht darum, großflächig abzureißen, und mit Sicherheit werden auch ganze Dörfer verschwinden. Wir werden es dann mit Geisterdörfern zu tun haben, wie einst im Wilden Westen."

    Die ostdeutsche Bevölkerung schrumpft und wird älter – beides in einem dramatischen Tempo. So hatte Mecklenburg-Vorpommern 1990 die jüngste Bevölkerung Deutschlands – der Durchschnitt lag bei 35,8 Jahren. Mittlerweile ist Deutschlands nordöstliches Bundesland auf Platz zehn abgerutscht, die Bevölkerung ist heute durchschnittlich 42,3 Jahre alt.

    Schrumpfung und Überalterung – diese Prozesse lassen sich in den Randregionen Ostdeutschlands besonders gut beobachten. In der Uckermark, der Prignitz, in Vorpommern oder im märkischen Oderbruch. Dort, wo die CDU bei der jüngsten Bundestagswahl unter die 20-Prozent-Marke gerutscht ist.

    Genschmar ist ein 350-Seelen-Dorf im Oderbruch, zwei Kilometer von der polnischen Grenze entfernt. "Brandenburgs traurigstes Dorf" titelten die Zeitungen, als im letzten Jahr bekannt wurde, dass die Arbeitslosigkeit hier bei über 50 Prozent liegt. In Genschmar hat kaum jemand Lust, den Tag der Deutschen Einheit zu feiern.

    "Nein, zum Feiern gibt´s da nichts, da bin ich ganz dagegen. Warum, wenn Sie mit 600 Euro Rente auskommen müssten und hier auf dem Dorf ist ja alles tot." - "Nä, gar nicht, ohne Arbeit und auch keine Aussicht mehr." - "Nä, was hat er uns gebracht, nichts, nicht gut, ich bin zuhause."

    Das Gebäude, in dem früher der Dorfkonsum untergebracht war, steht leer. Niemand will dort ein neues Geschäft eröffnen. Der Kindergarten zählte zu DDR-Zeiten 60 Kinder, jetzt sind es noch 14. Die LPG beschäftigte früher 80 Arbeitskräfte, jetzt noch 20. Einige aus Genschmar pendeln täglich drei Stunden zur Arbeit nach Berlin. Andere fahren bis in die Schweiz, kommen nur alle vier Wochen nach Hause. Viele junge Leute sind weggezogen.

    "Lehrstellen gibt´s hier ja nicht. Die gehen weg, und wenn sie weggehen, kommen sie auch nicht mehr zurück. Das ist ganz logisch, und das ist für diese Region ganz schlimm, wenn die Jugend weggeht." - "Was soll die Jugend hier machen, die fünf Leute, die die Landwirtschaft braucht, mehr haben wir ja nicht."

    Zurück bleiben diejenigen, die nicht mobil sind – Leute wie Viola Krill. Die 32-Jährige ist seit sechs Jahren arbeitslos und pflegt ihre schwerkranke Schwiegermutter. Auch ihr Mann ist arbeitslos. Da die Familie jetzt mehr Pflegegeld bekommt, wird Viola Krill das Arbeitslosengeld II ganz gestrichen. Keine gute Perspektive. Hat sie schon überlegt, der Arbeit hinterher gen Westen zu ziehen, wie so viele hier?

    "Überlegt oft genug, aber man ist hier groß geworden, da möchte man auch nicht sagen, haue ich einfach ab, hier ist die Familie, so etwas kann man eben einer pflegebedürftigen Frau auch nicht antun."

    Neue Betriebe sind im Oderbruch seit der Wende kaum entstanden. Wer investieren will, macht dies auf der anderen Seite der Oder, in Polen. Dort sind die Löhne niedriger. Noch kann es sich die Gemeinde Genschmar leisten, einen eigenen Kindergarten zu betreiben und die kommunalen Wohnungen für einen Preis von vier Euro pro Quadratmeter zu vermieten. Glaubt man den Wirtschaftsforschern, werden für die Bewohner der ostdeutschen Randregionen bald härtere Zeiten anbrechen. Joachim Ragnitz vom Institut für Wirtschaftsforschung Halle.

    "Dort, muss man sehen, wird man weder ein Westdeutschland vergleichbares Einkommensniveau noch ein vergleichbares Beschäftigungsniveau haben, und man wird auch Leistungen der öffentlichen Daseinsvorsorge nicht mehr so haben wie bisher, da wird man dann alternative Lebenskonzepte verwirklichen können. Man wird dann sicherlich darüber nachdenken müssen, was der Staat noch kann. Dass man eine ganz neue Arbeits- und Aufgabenteilung von Staat und Privat macht, schlicht aus Not."

    In einem Punkt haben die ost- die westdeutschen Flächenländer in kürzester Zeit eingeholt – beim Produzieren von Schulden. Rühmliche Ausnahme ist Sachsen, die vier anderen neuen Länder befinden sich in der Spitzengruppe der deutschen Schuldenmacher.

    Die Einnahmen der ostdeutschen Länder sind dank des Solidarpakts vergleichsweise hoch. Sie liegen sogar über den Einnahmen finanzschwacher westdeutscher Flächenländer. Im Jahr 2020 läuft der Solidarpakt allerdings aus und die Schuldenlast wird erdrückend.

    "Also die Spielräume in finanzpolitischer Hinsicht sind einfach katastrophal klein. Nehmen wir Sachsen-Anhalt, wenn unsere Prognosen zutreffen, werden die die Hälfte ihrer Einnahmen verlieren bis zum Jahr 2020. Es ist schwer vorstellbar, wie eine Landesregierung das politisch aushalten will und wie so ein Land aussehen soll."

    Bereits jetzt streiten sich Ost und West um die Verwendung der Solidarpaktmittel. Hat sich doch herausgestellt, dass viele Milliarden zweckentfremdet ausgegeben worden sind. Das Institut für Wirtschaftsforschung Halle IWH hat ausgerechnet, dass die Hälfte der 10,5 Milliarden Euro, die im letzten Jahr flossen, nicht investiert, sondern für den Konsum ausgegeben wurde.

    Laut IWH sind netto bislang 130 Milliarden Euro nach Ostdeutschland geflossen. Damit wurden die Städte saniert, neue Straßen gebaut, die Infrastruktur in vielen Regionen auf Westniveau gebracht. Doch das Wirtschaftswachstum stagniert. Jeder dritte in den neuen Ländern ausgegebene Euro wird nicht selber erwirtschaftet.

    Seit Jahren ist die Arbeitslosenquote im Osten doppelt so hoch wie im Westen. Nach Ansicht vieler Ostdeutscher hat nicht nur Helmut Kohl, sondern auch sein Nachfolger Gerhard Schröder sein Versprechen nicht gehalten. Schröder sagte 1998 in seiner Regierungserklärung:

    "Gerade in den neuen Bundesländern haben die Bürgerinnen und Bürger ihre ganz speziellen Erfahrungen mit Dichtung und Wahrheit in der Politik gemacht. Sie haben deshalb einen Anspruch darauf, dass wir die Probleme vor Ort beim Namen nennen, vor Ort Lösungen entwickeln und sie dann auch zügig durchsetzen. Ich habe als Bundeskanzler erklärt, den Aufbau Ost zur Chefsache zu machen."

    Schröder rief den so genannten Gesprächskreis Ost der Bundesregierung unter Klaus von Dohnanyi ins Leben. Dieser stellte im letzten Sommer seine Abschlusserklärung unter der Überschrift "Kurskorrektur des Aufbau Ost" vor. Darin heißt es unter anderem:

    "Ein stagnierender Osten mit hohem Transferbedarf ist eine große Gefahr für die Zukunftsentwicklung von ganz Deutschland. Auf dem bisherigen Weg ist das Ziel einer selbst tragenden Wirtschaft im Osten offenbar nicht zu erreichen. Eine Kurskorrektur beim Aufbau Ost ist erforderlich."

    Die geforderte Kurskorrektur ist bislang nicht oder nur marginal erfolgt. Die Ost-Experten Uwe Müller und Joachim Ragnitz sind sich einig – die Politik verschweige den Wählerinnen und Wählern die wahre Situation in den neuen Ländern.

    "Die Bundesregierung hat viel Porzellan im Osten zerschlagen, weil einfach die für jeden offensichtlichen Probleme sich in den offiziellen Verlautbarungen der Bundesregierung überhaupt nicht widerspiegeln."


    "Wir haben eine große Koalition des Verschweigens, da nehmen sich die beiden Volksparteien nichts, man hat die Lage beschönigt und sich den wahren Problemen, die es in Ostdeutschland gibt, nicht zugewendet."

    Am Wochenende wird in Potsdam der Tag der Deutschen Einheit gefeiert – mit einem großen Bürgerfest und einem Staatsakt am 3.Oktober. Brandenburgs Ministerpräsident Matthias Platzeck hat die Richtung vorgegeben: die Bilanz könne sich nach 15 Jahren sehen lassen, der Einheitsprozess werde zu oft schlecht geredet, sagte der SPD-Politiker.