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Nützliche Empörung

Dieser Aufruf zur Empörung hat es in sich - was man nicht nur daran ablesen kann, dass das Büchlein in Frankreich mehr als eine Million Käufer gefunden hat. Für Aufmerksamkeit sorgt auch der Verfasser, Stéphane Hessel - er kämpfte in der Resistance gegen die deutschen Besatzer.

Von Hans Woller | 31.01.2011
    Stéphane Hessel ist ein jugendlicher, alter, zorniger Mann, distinguiert und extrem höflich, mit sanfter Stimme und unendlich freundlichem Blick, der "auf der allerletzten Etappe, wo das Ende nicht mehr fern ist", wie er selbst schreibt, an die Jüngeren in unseren Gesellschaften appelliert, sich zu empören, gewaltlosen Widerstand zu leisten, zivilen Ungehorsam zu üben gegen Fehlentwicklungen unserer Gesellschaften. Diese Schrift geht zurück auf eine Rede, die Stéphane Hessel im Sommer 2009 an einer der wichtigsten Gedenkstätten des französischen Widerstands gehalten hatte – auf dem Hochplateau von Glières in den Alpen. In dieser Rede, wie jetzt in der kleinen Schrift, erinnerte er daran, dass der Nationale Rat des Widerstands 1944 für Frankreichs Zukunft ein Sozialprogramm erarbeitet hatte, welches neben einer Verstaatlichung der Großbetriebe und der Banken auch eine weitgehende soziale Absicherung vorsah. Dieses Fundament der sozialen Errungenschaften der Résistance, so Hessel, sei heute bedroht. Man wage es, so schreibt er, zu sagen, der Staat könne die Kosten dieser sozialen Errungenschaften nicht mehr tragen. Aber wie, so seine Frage ist es möglich, dass heute das Geld fehlt, wo die Produktivität seit damals doch beträchtlich gewachsen ist und Europa damals in Trümmern lag? Seine Antwort lautet:

    Es gibt heute eindeutig eine Komplizenschaft zwischen der Politik und den Wirtschafts- und Finanzmächten. Das ist in Frankreich ganz besonders deutlich, wo unser Präsident von Leuten umgeben ist, die vermögend sind, sogar sehr vermögend. Mir scheint, man muss dieser Komplizenschaft ein Ende bereiten, die Regierungen müssen wieder Verantwortung übernehmen, sich um soziale Gerechtigkeit kümmern und um den Schutz unseres Planeten - da gibt es genug zu tun. Und wenn man sich empört, weil in diese Richtung nichts getan wird, so ist das nur gut so.
    Stéphane Hessel empört sich seit Jahr und Tag über die Allmacht des großen Geldes, worin er eine Bedrohung für die Demokratie sieht, über die sich weiter öffnende Schere zwischen Arm und Reich sowie über den Umgang mit Fremden und mit Ausländern ohne Papiere in unserer Gesellschaft. Seine kleine Schrift ist ein Plädoyer gegen Resignation und Gleichgültigkeit, keinesfalls ein politisches Programm, eher ein Appell, nachzudenken. Den enormen Erfolg kann der Autor selbst auch nur erahnen:

    "Dieses Buch kommt zu einem besonderen Zeitpunkt, da man sich in Frankreich, aber auch in anderen Teilen der Welt, Sorgen macht über die Zukunft, sich fragt, ob die Dinge, die da geschehen, noch konform sind mit den Werten, die wir vertreten. Und was heute passiert, ist eben nicht konform mit diesen Werten. Das sagen auch Menschen, die viel kompetenter sind als ich, aber es bedurfte wohl eines kurzen Textes, der die Aufmerksamkeit unserer Zeitgenossen auf die Dinge richtet, die nicht akzeptabel sind, etwa die Art und Weise, wie zur Zeit Politik gemacht wird. Da gibt es tatsächlich Grund zur Empörung."
    Ein weiterer Grund für den Erfolg des Bändchens dürfte in der außergewöhnlichen Biografie des Autors liegen, die ihm so etwas wie moralische Autorität verleiht. Die Geschichte seiner Eltern wurde von François Truffaut in "Jules et Jim" verfilmt. Jules war sein Vater, der jüdische Schriftsteller, Franz Hessel, Jim, sein Freund, der französische Autor Henri Pierre Roché, der nach dem Krieg den Roman über die Dreierbeziehung geschrieben hatte. Stéphane Hessel war zu Kriegsbeginn in London zu General De Gaulle gestoßen, später in Frankreich verhaftet, gefoltert und deportiert worden, überlebte Buchenwald, weil ihm dort Eugen Kogon half, die Identität eines verstorbenen Franzosen anzunehmen. Jorge Semprun hat diese Begebenheit in seinem Roman "Der Tote in meinem Namen" verarbeitet. Stéphane Hessel, der sich in den 50-er Jahren auch aktiv für die Entkolonialisierung starkgemacht hatte, verkörpert für die Franzosen heute den aufrechten Gang, strahlt Glaubwürdigkeit aus:

    "Es gibt bei vielen Menschen in unseren modernen, globalisierten Gesellschaften heute offensichtlich eine Erwartungshaltung. Dabei weiß man nicht so recht, wohin man steuert. Man vertraut unseren Regierungen nicht wirklich und sagt sich, die Bürger könnten vielleicht selbst etwas tun, damit sich etwas verändert."
    Stéphane Hessel empört sich in seinem Pamphlet auch über Israels Siedlungspolitik und die Zustände im Gazastreifen. Und da er die internationale Boykottkampagne gegen israelische Produkte aus den besetzten Gebieten ebenfalls unterstützt, hat er jetzt den Zorn namhafter Vertreter der jüdischen Gemeinde Frankreichs auf sich gezogen, musste er, der Sohn des jüdischen Schriftstellers Franz Hessel, sich etwa vom Philosophen Alain Finkielkraut quasi des Antisemitismus bezichtigen lassen. Diese Kampagne gegen Stéphane Hessel erreichte ihren Höhepunkt, als vor zehn Tagen an der altehrwürdigen École normale supérieure, an der Hessel selbst 1937 Schüler gewesen war, eine Diskussionsveranstaltung mit ihm zum Thema Gazastreifen verboten wurde - auf Betreiben des CRIF, des Repräsentativen Rates der jüdischen Institutionen Frankreichs. Und was tat der ehemalige Widerstandskämpfer Stéphane Hessel, der alte, zornige Mann? Er stellte sich vors Pariser Pantheon, wo Frankreich seinen großen Männern und Frauen huldigt, setzte sich eine rote Jakobinermütze auf und diktierte den Zensoren ins Stammbuch:

    "Dies ist ein Angriff auf ein Grundrecht, nämlich auf die Versammlungs- und Redefreiheit und dagegen müssen wir uns wehren. Es gibt viele, die mit mir der Meinung sind: Dieses Verbot, an der École normale supérieure sprechen zu können, ist unerträglich!"

    Stéphane Hessel "Empört Euch!" , aus dem Französischen von Michael Kogon, Ullstein Verlag, 32 Seiten, 3 Euro 99, ISBN: 978-3-550-08883-4.