Green Cottenham wusste nicht, was ihm bevorstand, als Polizisten ihn an einem Frühlingstag des Jahres 1908 in Alabama wegen "Vagabundiererei" festnahmen. Er wusste es auch noch nicht, als man ihm wenige Tage später den Prozess machte, ihn zu mehreren Monaten Zwangsarbeit verurteilte und dann an ein Kohlebergwerk verkaufte. Er mag es schließlich geahnt haben, als er in gusseisernen Fußketten in den düsteren Schacht gestoßen wurde. Dort starb er wenige Wochen später, er war 22 Jahre alt und wurde in einem Massengrab verscharrt. Das ist das einzige, was von Green Cottenham je bekannt wurde.
Dennoch hat der amerikanische Journalist Douglas Blackmon den jungen Schwarzen aus Alabama zur Rahmenfigur seines Buches gemacht, immerhin 468 Seiten lang. Das ist mutig - und es funktioniert. "Slavery by Another Name", was soviel heißt wie: "Nur ein anderer Name für Sklaverei" widmet sich der Zeit zwischen dem amerikanischen Bürgerkrieg und dem Zweiten Weltkrieg. Eine Ära, die der Autor als "Zeitalter der Neo-Sklaverei" bezeichnet. Dem Buch zufolge entstand seit 1865 in den Südstaaten eine neue Form des Sklavenhandels: Schwarze wurden unter fadenscheinigen Gründen festgenommen, inhaftiert und als Zwangsarbeiter an Zechen, Stahlwerke, Steinbrüche und Plantagen verkauft. Green Cottenham, der Junge aus Alabama, steht stellvertretend für viele Tausende:
Wie kann man die Geschichte einer so tiefen gesellschaftlichen Wunde um einen einzigen, anonymen Mann weben, dessen Leben scheinbar ohne große Bedeutung war, der keine Stimme hatte? Je mehr ich nach Spuren von Green Cottenham suchte, desto mehr wurde mir bewusst, dass es diese erzwungene Anonymität war, die Green Cottenham so authentisch macht. Es ist sein Schweigen, das im Zentrum dieses Buches steht.
Douglas Blackmon, der heute Büroleiter des "Wall Street Journal" in Atlanta ist, wuchs als Sohn einer weißen Mittelklassefamilie im Mississippi-Delta auf. Als er eingeschult wurde, war seine Klasse die erste, in der schwarze und weiße Kinder gemeinsam unterrichtet wurden. Die Idee für das Buch kam ihm in den 90er Jahren, als in Europa eine Debatte über Reparationszahlungen von deutschen Unternehmen und Schweizer Banken an Nachfahren von Holocaust-Opfern ausbrach.
Ich habe mich gefragt: Was würden wir sehen, wenn wir durch eine ebenso scharfe Linse einige US-Unternehmen und ihren Umgang mit der Sklaverei betrachten würden, wie es im Falle der deutschen Industrie geschah, die während des Zweiten Weltkriegs jüdische Zwangsarbeiter in ihren Fabriken einsetzten?
Sieben Jahre lang schaute Blackmon durch diese Linse. Fuhr durch den amerikanischen Süden, durch Georgia, Alabama, North und South Carolina. Sammelte Dokumente und Protokolle. Und sah schließlich, dass sich der Wiederaufbau nach dem Bürgerkrieg auf dem Rücken Tausender schwarzer Zwangsarbeiter vollzogen hatte. Akribisch und unerbittlich rekonstruiert der Autor Geschichte für Geschichte, Verbrechen für Verbrechen, entblättert immer neue und grausamere Details. Die Ära der Neo-Sklaverei kam, so Blackmon, erst mit dem Zweiten Weltkrieg zu einem Ende, als schwarze und weiße US-Soldaten Seite an Seite gegen Nazi-Deutschland kämpften.
Es war die Ironie der Geschichte, dass die endgültige Befreiung der afroamerikanischen Bevölkerung aus dem Griff der Sklaverei ausgerechnet durch den Terror und die Verbrechen eingeläutet wurde, die ein anderes Land gegen seine eigenen Minderheiten verübte.
"Slavery by another Name" stößt in den USA auf fruchtbaren politischen Boden. Zwar gilt die Rassenfrage im Präsidentschaftswahlkampf offiziell als Tabu, doch lauert sie stets unter der Oberfläche. Gerade erst warf John McCain, der Kandidat der Republikaner, seinem demokratischen Rivalen Barack Obama vor, die "Rassenkarte" zu spielen. Douglas Blackmons Buch steht jenseits der Tagespolitik. Die "New York Times" lobt es als "unnachgiebig und faszinierend", das Branchenblatt "Publishers Weekly" spricht von einer "bahnbrechenden und verstörenden Abrechnung mit einem schäbigen Kapitel der US-Geschichte".
Weniger begeistert von Blackmons Recherchen sind dagegen die Nachfahren jener Familien, die unmittelbar vom System der Neo-Sklaverei profitierten. Die Familie von James English zum Beispiel, ehemaliger Bürgermeister und Geschäftsmann in Atlanta. Für den Bau der Pacific Railraod durch Georgia ließ er Hunderttausende von Häftlingen unter unmenschlichen Bedingungen für sich arbeiten. English wird in Atlanta bis heute als einer von jenen Männer gefeiert, die die Stadt aus der Asche des Bürgerkrieges wieder aufbauten und zu einer blühenden Wirtschaftsmetropole machten. "Slavery by Another Name" ist mit heißem Herzen geschrieben - und mit der Sprachgewalt eines Geschichtenerzählers aus dem amerikanischen Süden. Im mittleren Teil hat es manche Längen. Aber das mag dran liegen, dass die Geschichten des Elends einander auf traurige Weise gleichen. Blackmon urteilt nicht von Hochsitz der Moral, er will nicht Richter sein und auch nicht Forderungen nach Reparationen das Wort reden. Aber er will die wenigen Spuren, die von Menschen wie Green Cottenham die Zeit überdauert haben, dem Vergessen entreißen.
Katja Ridderbusch über: Douglas Blackmon: Slavery by Another Name. The Re-Enslavement of Black Americans from Civil War to World War II, Doubleday Verlag, New York, 480 Seiten, ca.
18,00 bis 22,00 Euro.
Dennoch hat der amerikanische Journalist Douglas Blackmon den jungen Schwarzen aus Alabama zur Rahmenfigur seines Buches gemacht, immerhin 468 Seiten lang. Das ist mutig - und es funktioniert. "Slavery by Another Name", was soviel heißt wie: "Nur ein anderer Name für Sklaverei" widmet sich der Zeit zwischen dem amerikanischen Bürgerkrieg und dem Zweiten Weltkrieg. Eine Ära, die der Autor als "Zeitalter der Neo-Sklaverei" bezeichnet. Dem Buch zufolge entstand seit 1865 in den Südstaaten eine neue Form des Sklavenhandels: Schwarze wurden unter fadenscheinigen Gründen festgenommen, inhaftiert und als Zwangsarbeiter an Zechen, Stahlwerke, Steinbrüche und Plantagen verkauft. Green Cottenham, der Junge aus Alabama, steht stellvertretend für viele Tausende:
Wie kann man die Geschichte einer so tiefen gesellschaftlichen Wunde um einen einzigen, anonymen Mann weben, dessen Leben scheinbar ohne große Bedeutung war, der keine Stimme hatte? Je mehr ich nach Spuren von Green Cottenham suchte, desto mehr wurde mir bewusst, dass es diese erzwungene Anonymität war, die Green Cottenham so authentisch macht. Es ist sein Schweigen, das im Zentrum dieses Buches steht.
Douglas Blackmon, der heute Büroleiter des "Wall Street Journal" in Atlanta ist, wuchs als Sohn einer weißen Mittelklassefamilie im Mississippi-Delta auf. Als er eingeschult wurde, war seine Klasse die erste, in der schwarze und weiße Kinder gemeinsam unterrichtet wurden. Die Idee für das Buch kam ihm in den 90er Jahren, als in Europa eine Debatte über Reparationszahlungen von deutschen Unternehmen und Schweizer Banken an Nachfahren von Holocaust-Opfern ausbrach.
Ich habe mich gefragt: Was würden wir sehen, wenn wir durch eine ebenso scharfe Linse einige US-Unternehmen und ihren Umgang mit der Sklaverei betrachten würden, wie es im Falle der deutschen Industrie geschah, die während des Zweiten Weltkriegs jüdische Zwangsarbeiter in ihren Fabriken einsetzten?
Sieben Jahre lang schaute Blackmon durch diese Linse. Fuhr durch den amerikanischen Süden, durch Georgia, Alabama, North und South Carolina. Sammelte Dokumente und Protokolle. Und sah schließlich, dass sich der Wiederaufbau nach dem Bürgerkrieg auf dem Rücken Tausender schwarzer Zwangsarbeiter vollzogen hatte. Akribisch und unerbittlich rekonstruiert der Autor Geschichte für Geschichte, Verbrechen für Verbrechen, entblättert immer neue und grausamere Details. Die Ära der Neo-Sklaverei kam, so Blackmon, erst mit dem Zweiten Weltkrieg zu einem Ende, als schwarze und weiße US-Soldaten Seite an Seite gegen Nazi-Deutschland kämpften.
Es war die Ironie der Geschichte, dass die endgültige Befreiung der afroamerikanischen Bevölkerung aus dem Griff der Sklaverei ausgerechnet durch den Terror und die Verbrechen eingeläutet wurde, die ein anderes Land gegen seine eigenen Minderheiten verübte.
"Slavery by another Name" stößt in den USA auf fruchtbaren politischen Boden. Zwar gilt die Rassenfrage im Präsidentschaftswahlkampf offiziell als Tabu, doch lauert sie stets unter der Oberfläche. Gerade erst warf John McCain, der Kandidat der Republikaner, seinem demokratischen Rivalen Barack Obama vor, die "Rassenkarte" zu spielen. Douglas Blackmons Buch steht jenseits der Tagespolitik. Die "New York Times" lobt es als "unnachgiebig und faszinierend", das Branchenblatt "Publishers Weekly" spricht von einer "bahnbrechenden und verstörenden Abrechnung mit einem schäbigen Kapitel der US-Geschichte".
Weniger begeistert von Blackmons Recherchen sind dagegen die Nachfahren jener Familien, die unmittelbar vom System der Neo-Sklaverei profitierten. Die Familie von James English zum Beispiel, ehemaliger Bürgermeister und Geschäftsmann in Atlanta. Für den Bau der Pacific Railraod durch Georgia ließ er Hunderttausende von Häftlingen unter unmenschlichen Bedingungen für sich arbeiten. English wird in Atlanta bis heute als einer von jenen Männer gefeiert, die die Stadt aus der Asche des Bürgerkrieges wieder aufbauten und zu einer blühenden Wirtschaftsmetropole machten. "Slavery by Another Name" ist mit heißem Herzen geschrieben - und mit der Sprachgewalt eines Geschichtenerzählers aus dem amerikanischen Süden. Im mittleren Teil hat es manche Längen. Aber das mag dran liegen, dass die Geschichten des Elends einander auf traurige Weise gleichen. Blackmon urteilt nicht von Hochsitz der Moral, er will nicht Richter sein und auch nicht Forderungen nach Reparationen das Wort reden. Aber er will die wenigen Spuren, die von Menschen wie Green Cottenham die Zeit überdauert haben, dem Vergessen entreißen.
Katja Ridderbusch über: Douglas Blackmon: Slavery by Another Name. The Re-Enslavement of Black Americans from Civil War to World War II, Doubleday Verlag, New York, 480 Seiten, ca.
18,00 bis 22,00 Euro.