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Nur ein Gerücht ...

Man sehe in ihm einen Aussätzigen und boykottiere ihn, klagte der Schriftsteller Hans Henny Jahnn oft. Tatsächlich war, trotz frühen Ruhms, sein Werk für die meisten immer nur ein Gerücht; genauso wie sein Leben.

Von Christian Linder | 29.11.2009
    Ja, Orgelbauer sei er auch, erzählte Hans Henny Jahnn gerne, aber er war ebenso Landwirt, der während der Hitlerzeit auf der dänischen Insel Bornholm Zuflucht suchte und einen Bauernhof bewirtschaftete. Doch zunächst und vor allem verstand Jahnn sich als Schriftsteller, der bei seiner Rückkehr in die Bundesrepublik ein dickes Manuskript im Gepäck hatte, den auf drei Bände angelegten Roman "Fluss ohne Ufer": keine traditionelle Literatur mit einem wiedererzählbaren Inhalt, sondern eine wüste, uferlose Beschreibungsorgie, die man als "magischen Realismus" etikettierte.

    Schon in seinem Frühwerk, den 1919 und 1922 veröffentlichten Theaterstücken "Pastor Ephraim Magnus" und "Der Arzt / Sein Weib / Sein Sohn" war Jahnn in die unbekannten inneren Kontinente der Menschen aufgebrochen, auf der Suche, wie er schrieb, nach dem "Wesen der Schöpfung, der Geschlechtlichkeit des Menschen und der Einsamkeit seines Herzens". Da hatte er schon, nicht zuletzt durch die Verleihung des Kleist-Preises, große Aufmerksamkeit gefunden. Rückblickend erinnerte sich Jahnn.

    "Ich bin durch keine Tradition geprägt. Mein erster Verleger, Samuel Fischer, hat einmal zu mir gesagt: 'Ihre Stärke besteht darin, dass Sie wenig Bücher gelesen haben. Dadurch sind Sie nicht beeinflusst und können das, was in Ihnen ist, aussprechen.'"

    Geboren 1894 in Stellingen bei Hamburg, wurde er früh geprägt durch homosexuelle Erfahrungen mit seinem Klassenkameraden Gottlieb Harms. Jahnn heiratete zwar später, aber die Liebesgeschichte mit Harms hielt lebenslänglich. Er sei "omnisexuell", meinte er selber. 1915 der erste Ausbruch in die Welt, nach Norwegen, als Flucht auch vor dem Ersten Weltkrieg.

    "Ich habe in Norwegen die Natur, wenn ich es so sagen soll, kennengelernt, denn meine engere Heimat hat alle Eigentümlichkeiten einer Landschaft verloren, es ist der Wundrand einer Großstadt gewesen. In Norwegen aber habe ich Berge, Wasser, die Luft, Menschen und vor allem die Tiere so nahe kennengelernt, dass ich mich niemals wieder in meinen Gedanken von diesen Eindrücken habe trennen können."

    Neben erotischen Landschaftsbeschreibungen finden sich in seinen Büchern Expeditionen in die geheimsten sexuellen Wunschwelten. Phantasmagorien sind alle seine Texte. Eine Welt dunkler Erscheinungen. In der Erzählung "Die Nacht aus Blei" kommt ein Mann in eine fremde Stadt.

    Die Häuserfronten waren angestrahlt, erschienen in der gleichmäßigen Farbe des Lichts, nur von Schatten übergossen oder durch Schmutz geprägt. In der Höhe verloren sich die Gebäude im Schwarz des Himmels, unbegrenzt, und alle Türen und Fenster waren schwarz, als wären es Löcher vor dem Nichts.

    Dem Leser solle die Haut "abgebeizt" werden, wünschte sich Jahnn, und viele Leser fühlten sich auch schockiert.

    "Eine Orgie der Allgeschlechtlichkeit, eine wüste, wahllose Vermischung jedes mit jedem, ein Hexensabbat aus Mündern, Nabeln, Knien, Schenkeln und Brustwarzen, eine ständige Berauschung an Schweineschlachterei und Pferdepflege","

    … so hieß es in einer typischen Kritik der 1950er-Jahre. Oder da erzählte man raunend von Jahnns in der Lüneburger Heide gegründeter heidnisch-sektiererischen Kommune, die auf den Namen Ugrino getauft wurde. Andererseits sein pazifistisches Engagement gegen die Atombombe und die Wiederaufrüstung in den ersten Nachkriegsjahren. Jahnns Antwort auf die vielen Beschuldigungen, die auch den Vorwurf der Pornografie einschlossen:

    ""Es scheint mir notwendig, dass ich meine Erkenntnisse ausspreche, weil ich die Anschauung gewonnen habe, dass der Mensch sich bessern muss, wenn er einer zukünftigen Katastrophe noch entgehen will. Wir befinden uns in der höchsten Gefahr, und die durchschnittliche Literatur ist völlig ungeeignet, um daran mitzuwirken, dass diese Gefahr beseitigt wird."

    Hans Henny Jahnn starb am 29. November 1959 in Hamburg. Begraben liegt er auf dem Friedhof Nienstedten, neben seiner Jugendliebe Gottlieb Harms.