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"Nur ein Übergangswahlrecht"

Joachim Behnke, Wahlrechtsexperte und Politikwissenschaftler an der Zeppelin-Universität Friedrichshafen, hält das beschlossene Wahlrecht zwar für verfassungsgemäß, es sei aber "extrem unelegant". Er fordert, dass die kritisierten Überhangsmandate gar nicht erst entstehen dürfen.

Joachim Behnke im Gespräch mit Gerd Breker | 22.02.2013
    Christoph Heinemann: Nach monatelangem Tauziehen hat der Deutsche Bundestag ein neues Wahlrecht verabschiedet, das den vollständigen Ausgleich aller Überhangmandate vorsieht. Die Reform greift schon bei der nächsten Wahl, also im kommenden Herbst bei der Bundestagswahl. Ganz freiwillig handelten die Abgeordneten nicht; das Bundesverfassungsgericht hatte im vergangenen Jahr die hohe Zahl von möglichen Überhangmandaten beanstandet. Die entstehen dann, wenn die Zahl der gewonnenen Direktmandate einer Partei größer ist als die Zahl der Sitze, die ihr nach dem Zweitstimmenanteil eigentlich zustehen. Diese Mandate sollen also wie gesagt ausgeglichen werden. Deshalb befürchten Kritiker, dass die jetzige gefundene Lösung zu einer massiven Vergrößerung des Parlaments führen wird.

    - Darüber hat mein Kollege Gerd Breker mit Joachim Behnke gesprochen, Politikwissenschaftler an der Zeppelin-Universität in Friedrichshafen. Und er wollte zuerst wissen, ob dieses neue Wahlrecht nun verfassungsgemäß ist.

    Joachim Behnke: Nein, also ich gehe davon aus, dass der Entwurf in der Tat verfassungsgemäß ist. In der Beziehung gibt es eigentlich keine größeren Probleme zu erwarten.

    Gerd Breker: Streitpunkt waren ja und sind die Überhangmandate. Das sollten wir vielleicht noch kurz erklären. Die entstehen dann, wenn die Zahl der gewonnenen Direktmandate einer Partei größer ist als die Zahl der Sitze, die ihr nach den Zweitstimmen eigentlich zustehen. Auf diesem Wege hatte die Union bei der Wahl 2009 insgesamt 24 zusätzliche Sitze gewonnen, alle anderen Parteien gingen damals leer aus. Überhangmandate, Herr Behnke, abschaffen – geht das überhaupt?

    Behnke: Ja, da sprechen Sie eigentlich jetzt das entscheidende Thema an. Man hat die Überhangmandate ja nicht abgeschafft, sondern man hat sie lediglich ausgeglichen mit dem neuen Gesetz. Und das bedeutet natürlich: Wenn weiterhin Überhangmandate in sehr großer Zahl anfallen werden, dann würde das in Zukunft bedeuten, dass der Bundestag dadurch sehr, sehr stark aufgebläht werden wird. Die günstigste Lösung wäre natürlich, die Überhangmandate von vornherein gar nicht erst entstehen zu lassen. Und in der Tat würde das gehen oder wäre das gegangen, allerdings dummerweise nicht mehr jetzt mit diesem knappen Zeitfenster von einem Jahr, als man jetzt nach dem Verfassungsgerichtsurteil vom letzten Jahr im Juli 2012 sich daran machen musste, ein neues Wahlgesetz zu finden. Damit war das nicht machbar, weil man hätte dann an den Wahlkreiszuschnitt heran gemusst, und das wäre in dieser Zeit eben nicht mehr gegangen.

    Breker: Sie haben es angedeutet, Herr Behnke: Überhangmandate sollen in Zukunft komplett durch Ausgleichsmandate für die anderen Parteien kompensiert werden. Ist das denn gerecht? Ist damit jede Stimme gleich viel wert?

    Behnke: Ja, das ist natürlich gerecht – insofern, dass damit ja diese Chancengleichheit zwischen den Parteien endlich mal hergestellt wird. Das heißt: Dadurch, dass die Überhangmandate ausgeglichen werden, gibt es eben keinen systematischen Vorteil mehr von Parteien, die Überhangmandate erzielen. Und das sind ja klassischerweise die großen Parteien immer, also CDU und SPD. Und die kleinen Parteien sind natürlich dadurch benachteiligt und jetzt kommt es eben zu einer Chancengleichheit im Sinne der Erfolgswertgleichheit. Das heißt, alle Parteien müssen jetzt durch den Ausgleich im Prinzip für jedes Mandat, das sie bekommen, die gleiche Anzahl an Zweitstimmen erzielen.

    Breker: Es droht, dass das Parlament dadurch größer wird. Größer heißt aber auch teurer. Ist das denn überhaupt im Interesse der Wähler?

    Behnke: Ich würde sagen, jedes Parlament, das größer und dementsprechend auch teurer ist, als notwendig ist, kann natürlich nicht im Interesse der Wähler sein. Natürlich sollte den Wählern oder den Bürgern ihre Demokratie einiges wert sein und natürlich sollte man gerade an Politikern jetzt nicht unbedingt sparen oder diese dummen Vorurteile bedienen, die sich ja bei Politikern auch immer sehr leicht bedienen lassen. Andererseits: Natürlich wenn es keine Verbesserung in puncto auf Repräsentation der Bürger und Demokratie und Arbeitsfähigkeit des Parlaments gibt, dadurch, dass es größer wird, aber es wird nur teurer, ohne dass sich was verbessert, dann ist das natürlich nicht effizient und in gewisser Weise natürlich durchaus auch Geldverschwendung.

    Breker: Ist denn der jetzige Entwurf der Königsweg. Oder eigentlich eher der eilige Versuch, die kommende Bundestagswahl aus der verfassungsrechtlichen Schusslinie zu nehmen?

    Behnke: Es ist wohl sicherlich eher Letzteres. Meiner Meinung nach wird es nur ein Übergangswahlrecht sein, weil es zwar vermutlich verfassungskonform ist, aber es hat so viele Inkonsistenzen, die einfach das Wahlsystem extrem unelegant machen und auch in einer Art und Weise viele widersprüchliche Effekte produzieren lässt. Wir reden jetzt ja davon, dass die Überhangmandate ausgeglichen werden. Bloß ganz so einfach ist das nicht, weil zuerst werden Mandate auf die Länder verteilt, entsprechend der Bevölkerungszahlen. Und dann innerhalb der Länder auf die Parteien. Und dann wird eben errechnet, wie viele Überhangmandate es dort gibt, und die werden dann sozusagen ausgeglichen. Bloß am Schluss werden die Mandate aufgrund der Zweitstimmen verteilt, und das ist eine ganz andere Verteilungslogik und das führt zu den vollkommen absurden Ergebnissen, dass wir möglicherweise Überhangmandate "ausgleichen", die es eigentlich gar nicht gibt nach dem Verfahren, was wir am Schluss anwenden. Und umgekehrt kann es passieren, dass wir Überhangmandate nicht ausgleichen, weil die bei diesem ersten Verteilungsschritt gar nicht auftreten, sie aber dann nachher nach dem zweiten Verteilungsschritt auftreten könnten, weil die zuerst verdeckt worden sind. Insofern: Wir haben hier einfach Inkonsistenzen, die es, glaube ich, schwer vermittelbar machen werden für Wähler und manchmal auch wahrscheinlich für Abgeordnete, wie dieses Ergebnis zustande kommt. Das mag nicht verfassungswidrig sein; es ist definitiv nicht schön.

    Breker: "Nicht schön", sagen Sie. "Elegant" haben Sie gesagt. Wie würde denn der Königsweg zu einem eleganten, schönen Wahlsystem Ihrer Vorstellung nach aussehen, Herr Behnke?

    Behnke: Na ja, die Überhangmandate produzieren immer in irgendeiner Form Probleme, wenn wir sie haben. Insofern ist der Königsweg, glaube ich, ganz eindeutig derjenige, dass wir von vornherein versuchen, die Überhangmandate am Entstehen zu hindern. Und das würde eben gehen wie gesagt durch einen Wahlkreiszuschnitt. Das heißt, da gibt es im Wesentlichen zwei Möglichkeiten. Wir könnten den Anteil der Direktmandate deutlich reduzieren von derzeit 50 Prozent auf zum Beispiel 35 Prozent, das heißt, statt 299 Wahlkreise vielleicht auf 240 runtergehen. Oder wir könnten zum Beispiel bei den Direktwahlkreisen Zweierwahlkreise oder sogar Dreierwahlkreise bilden. Das heißt also: Nicht der Kandidat ist dann im Wahlkreis direkt gewählt, der dort die meisten Erststimmen hat, sondern die zwei oder drei Kandidaten, die die meisten Erststimmen hätten. Und das würde alles bedeuten, dass wir dann im Grunde aller Wahrscheinlichkeit nach fast keine Überhangmandate mehr hätten. Und damit wäre das Problem auf meiner Meinung nach wesentlich elegantere Art und Weise und vor allem billigere Art und Weise gelöst.

    Heinemann: Joachim Behnke, Politikwissenschaftler an der Zeppelin-Universität in Friedrichshafen. Die Fragen stellte mein Kollege Gerd Breker.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.