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Nur ein Ziel gemeinsam?

Die versprochene Revolution ist ausgeblieben - so lässt sich die politische Situation in der Ukraine zur Zeit beschreiben. Die Opposition, die seit Mitte September Demonstrationen mit vielen tausend Menschen in Kiew und anderen Großstädten in der Provinz organisiert hatte, verliert offenbar an Kraft. Während der Wintermonate bringt sie nur vergleichsweise wenig Menschen auf die Straße. Präsident Kutschma indes formt zur selben Zeit die politischen Strukturen seines Landes nach seinem Gusto. Kutschma ist zu einer Belastung für sein Land geworden. Auch im westlichen Ausland empfinden das nicht wenige genauso. Erst kürzlich stellte der außen- und sicherheitspolitische Beauftragte der Europäischen Union, Javier Solana, auf einer Pressekonferenz fest, der Weg, den die Ukraine derzeit beschreite, entferne sie von Europa.

Ute Schaeffer |
    Die versprochene Revolution ist ausgeblieben - so lässt sich die politische Situation in der Ukraine zur Zeit beschreiben. Die Opposition, die seit Mitte September Demonstrationen mit vielen tausend Menschen in Kiew und anderen Großstädten in der Provinz organisiert hatte, verliert offenbar an Kraft. Während der Wintermonate bringt sie nur vergleichsweise wenig Menschen auf die Straße. Präsident Kutschma indes formt zur selben Zeit die politischen Strukturen seines Landes nach seinem Gusto. Kutschma ist zu einer Belastung für sein Land geworden. Auch im westlichen Ausland empfinden das nicht wenige genauso. Erst kürzlich stellte der außen- und sicherheitspolitische Beauftragte der Europäischen Union, Javier Solana, auf einer Pressekonferenz fest, der Weg, den die Ukraine derzeit beschreite, entferne sie von Europa.

    Die Liste der Merkwürdigkeiten, Verstöße, ja sogar Vorwürfe, wonach Kutschma in Verbrechen verwickelt sein soll, ist inzwischen lang. Heimliche Tonband-Mitschnitte aus dem Arbeitszimmer des Präsidenten belegen, dass Kutschma die Ermordung des Journalisten Georgiy Gongadze vor mehr als zwei Jahren mindestens gebilligt hat.

    Weitere Tonaufnahmen belegen auch, dass der Präsident persönlich über den Verkauf eines Koltschuga-Radar-Frühwarnsystems an den Irak informiert gewesen ist und diesen genehmigt hat - obwohl UN-Sanktionen dies verbieten.

    Durch sein Verhalten hat Kutschma sein Land außenpolitisch in die Isolation geführt. Zum NATO-Gipfel Mitte November wurde Kutschma deshalb nicht eingeladen. Der ukrainische Präsident setzte sich jedoch über diese Entscheidung hinweg und trat die Reise nach Prag an. Zum Händedruck mit Vertretern der USA oder wichtiger westeuropäischer Partner kam es dennoch nicht. Kurzerhand wurde wegen der Ankunft des ukrainischen Präsidenten die gesamte Sitzordnung verändert, so dass für den ukrainischen Präsidenten nur der Platz am äußersten Rand der versammelten Staatenrunde übrig blieb.

    Der Westen geht auf Distanz.

    Der frühere Außenminister Hennadiy Udowenko, der mit der von ihm geführten Partei "Narodnyi Ruch" zum Oppositionsbündnis "Nascha Ukraina" gehört, sieht diese Entwicklung mit großer Sorge:

    Die amerikanischen Handlungen richten sich gegen Präsident Kutschma, aber sie treffen die Ukraine als Staat und das ukrainische Volk. Die Einstellung der staatlichen technischen Hilfe von Seiten der USA ist nur ein Anzeichen dafür, dass die Ukraine mit ganz konkreten Sanktionen rechnen muss.

    Aber auch im Landesinneren fand sich in den vergangenen Monaten die Opposition gegen Kutschma zusammen - ein buntes Zweckbündnis, das von den Kommunisten über die national-demokratischen Parteien bis hin zu den reformorientierten Kräfte um den früheren Regierungschef Viktor Juschtschenko reicht. Die Liste ihrer Vorwürfe gegen den Präsidenten ist lang: das Regime trete die Grundrechte mit Füßen, stranguliere die privaten Medien.

    An ehrgeizigen Führungsfiguren mangelt es der Opposition neben Viktor Juschtschenko keineswegs: Zu nennen wäre hier auch die ehemalige Vize-Regierungschefin Julia Timoschenko sowie der Sozialistenchef Alexander Moros – sie alle sehen sich nicht nur als Leitfiguren innerhalb der Opposition, sondern auch als potentielle Anwärter auf höchste Ämter im Staat. - Doch das Oppositionsbündnis ist eine Zweckgemeinschaft, die wenig zusammenhält, sobald es um die politischen Programm geht. Ihr - vielleicht einziges - gemeinsames Ziel ist die Amtsenthebung des Präsidenten. Eine "Ukraine ohne Kutschma" – so steht es auf den Transparenten und Flugblättern der verschiedenen Parteien. Ansonsten gibt es historisch gewachsene Vorbehalte gegenüber den Partnern in der Opposition, sind die ideologischen Gräben groß. Das verhehlt keiner der Oppositionsführer, auch der Nationaldemokrat Udowenko nicht, wenn er über die Kommunisten spricht:

    Es fällt uns schwer, eine Koalition mit den Kommunisten zu bilden. Meiner Meinung nach gibt es zwei große Gruppen in der Opposition: eine linke und eine demokratische...Ich kann zwar anerkennen, dass sich die Kommunistische Partei zu reformieren versucht, aber sie hat eine Einstellung zum Staat, die wir nicht akzeptieren können. Schließlich erkennen die Kommunisten immer noch nicht die Eigenstaatlichkeit der Ukraine an! Die Kommunisten plädieren für eine Wiederherstellung der Sowjetunion, für einen Beitritt der Ukraine zur Union Russland –Belarus. Ihre Tätigkeit zielt darauf ab, dass die Ukraine nicht selbständig und nicht unabhängig bleibt. Deshalb fällt es uns schwer, mit den Kommunisten zusammen zu arbeiten.

    Timoschenko, Moros und die Kommunisten streben ein Amtsenthebungverfahren gegen Kutschma an. Sie argumentieren, dass in der Verfassung eine solche Anklage wegen Amtsmissbrauch gegen den Präsidenten vorgesehen sei. Die Hürden sind allerdings hoch, denn es gibt keine gesetzlichen Bestimmungen, die den Vorgang praktisch regeln. Die Chancen für einen Machtwechsel auf parlamentarischem Wege seien derzeit schlecht, findet der Sozialistenchef Alexander Moros:

    Der Präsident hat ein Veto auf alle wichtigen Gesetzesvorhaben, die durch die gesetzgebenden Organe oder durch das Parlament angegangen werden. Wir haben also keine Mechanismen, um das auf diesem Weg zu lösen. Das betrifft zum Beispiel auch die Einberufung von Untersuchungsausschüssen im Parlament oder ein Impeachment-Verfahren. Das alles sind Projekte, die vom Präsidenten blockiert werden können.

    Die so genannte "Partei der Macht" - das heißt der Präsident mit seinem allmächtigen Apparat in Militär, Verwaltung und Justiz steuert das politische System und nimmt massiv Einfluss - zum Beispiel auf das Parlament. Unmittelbar nach den Parlamentswahlen war die präsidiale Mehrheit im ukrainischen Parlament, in der Werchowna Rada, mit 228 von 450 Sitzen denkbar knapp. Doch durch gezielte Winkelzüge des Präsidenten und die Beeinflussung parteiloser Direktkandidaten wurde eine komfortable Mehrheit für den Präsidenten geschaffen,die heute die Parlamentsentscheidungen dominiert. Das politische System bedürfe deshalb grundlegender Veränderungen, davon ist die Opposition überzeugt. Es gehe vor allem um eine Stärkung des Parlaments, meint Sozialistenchef Moros, und nennt weitere gemeinsame Ziele:

    Wir alle unterstützen ein proportionales Wahlsystem und wir befürworten Verfassungsänderungen, welche die Machtkompetenzen betreffen. In diesen Punkten sollten wir - so meine ich - zusammen stehen.

    Nicht nur den Kommunisten, sondern auch den reformorientierten, liberalen Partnern in der Opposition steht Moros mit einem gewissen Misstrauen gegenüber:

    Sowohl Juschtschenko wie Timoschenko sind nicht sehr daran interessiert, dass das System wirklich geändert wird. Nur wir - die Sozialistische Partei - wollen das System ändern, wollen Balance-Mechanismen schaffen, damit es nicht zu einem 'Kutchma Nummer Zwei' oder 'Nummer Drei' kommen kann. Aber bei der Schaffung der Bedingungen für diese Veränderungen – da stehen wir zusammen mit Juschtschenko oder Timoschenko.

    Das Misstrauen beruht auf Gegenseitigkeit, hört man den Nationaldemokraten Udowenko – der mit seiner Partei Partner ist im Juschtschenko-Bündnis "Unsere Ukraine". Er beurteilt Moros so:

    Moros wandelt sich zur Zeit zu einem westeuropäischen, modernen Sozialdemokraten. Aber er bringt gleichzeitig noch immer eine Nelke zum Lenindenkmal. Wenn er aufhört, Nelken zum Lenin- Denkmal zu tragen, dann werden wir mit ihm intensiver zusammenarbeiten.

    Dennoch: Die politische Opposition hat es bereits geschafft, die Menschen zu mobilisieren. Rund 30.ooo Demonstranten waren allein in Kiew auf der Straße am 16. September, dem zweiten Jahrestag des Verschwindens von Georgiy Gongadze. Auf später folgenden Demonstrationen waren es ebenfalls mehrere tausend Menschen. "Weg mit Kutschma!" und "Es reicht Herr Präsident!" skandierten die Demonstranten überall im Land.

    Basis der Proteste auf den Straßen ist die soziale Unzufriedenheit, die immer mehr Menschen erfasst. Die Demonstranten sehen für sich und ihre Familie keine Perspektive, und beobachten gleichzeitig, wie sich die politische Elite nur mit sich selbst beschäftigt.

    Ein großes Zentrum der Kundgebungen war auch Charkiw, die russisch-sprachige Universitätsstadt 500 Kilometer östlich von Kiew. Hier hat sich die Opposition in einem sogenannten Koordinationsrat zusammengefunden - einer Runde, die von den Kommunisten bis zu Juschtschenkos Reformbündnis Nascha Ukra-ina reicht.

    Leonid Jermak von der Sozialistischen Partei versteht eigentlich nicht, warum man am einem dauerhaften Bestehen des Oppositionsbündnisses zweifeln sollte - der Zusammenschluss sei doch schon lange notwendig gewesen, meint er:

    Bei den vergangenen Präsidentschaftswahlen wurden wir immer wieder gefragt: Warum vereinigt Ihr Euch nicht? Vor allem Nationalisten und Sozialisten.....Gerade die Menschen in den Regionen finden einen solchen Zusammenschluss der Oppositionskräfte schon seit langem wichtig.

    Aber: die Oppositionsparteien in Charkiw müssen - wie in anderen Städten des Landes auch – mit gut organisiertem Widerstand rechnen. In der ostukrainischen Metropole wurde eine große Demonstration im Herbst auf ganz einfache Weise verhindert: Die Stadtverwaltung ließ auf dem großen Platz in der Innenstadt einfach einen Jahrmarkt aufbauen. - Und jeder Politiker bekomme den Druck der staatlichen Behörden ganz persönlich zu spüren, weiß der Sozialist Leonid Jermak:

    In der Tat ist es so, dass der Druck sowohl auf einfache Parteimitglieder wie auf Funktionäre und regionale Oppositionsführer sehr hoch ist. Es gibt Vorladungen vor die Staatsanwaltschaft oder andere Rechtspflegeorgane und auch Polizeibesuche, bei denen gefragt wird, wie diese oder jene geplante Aktion finanziert ist und welche Ziele sie denn hat.

    Auch für die einfachen Bürger im Land erfordert es Mut, an den Anti-Kutschma-Demonstrationen teilzunehmen – Iwan Bartschenko von der Partei "Reform und Ordnung" hat beobachtet:

    Es herrscht jetzt eine Atmosphäre der Angst in der Ukraine. Das hält die Menschen davon ab, ihre Rechte als Bürger zu schützen und öffentlich zu vertreten. Mit anderen Worten: die Menschen, die auf die Straße gehen, sind nur ein Teil des Protest-Elektorats. Wenn wir nach den Meinungsumfragen gehen, dann liegt der Rückhalt für unsere Ideen im Gebiet Charkiw bei rund 90 Prozent.

    Der staatlich organisierte Druck auf die Gesellschaft sei so hoch, wie seit dem Ende der Sowjetherrschaft nicht, empfinden viele Ukrainer. Und dieser Druck ist in vielen Bereichen zu spüren: So erhalten die Journalisten der großen Fernsehstationen so genannte "Temniki" - zu deutsch in etwa "Sprachregelungen"- aus der Präsidialverwaltung. Für Sergej Scholoch vom privaten Radiosender "Radio Kontinent" in Kiew sind die Folgen derartiger präsidialer Instruktionen für die ukrainischen Medien und deren Berichterstattung bereits heute unübersehbar:

    Wenn ich die Nachrichten in den ukrainischen Sendern anschaue und sie mit denen vergleiche, die in den westlichen Medien gezeigt werden, dann bin ich sicher, dass diese Temniki Wirkung zeigen. Es gibt in den "temniki" sehr deutliche Anweisungen: senden, nicht senden, ignorieren, beachten oder so etwas senden, um die Aufmerksamkeit der Zuschauer auf ein anderes Problem zu konzentrieren. Oder das zum Beispiel so über Juschtschenko berichtet werden soll, dass es aussieht, als ob er nicht einig mit den anderen Oppositionparteien ist.

    Scholoch fühlt sich an sowjetische Zeiten erinnert, wenn er den Entwurf des neuen Pressegesetzes liest. Seiner Meinung nach hat sich die Situation der Medien seit der Parlamentswahl im vergangenen Frühjahr noch weiter verschlechtert.

    Beobachter sehen eine direkte Verbindung zwischen dem verschärften Druck auf die Medien und der Person von Viktor Medwedtschuk, dem neuen Leiter der Präsidialverwaltung, zugleich Vorsitzender der Oligarchen-Partei "Vereinigte Sozialdemokraten". Als Leiter der neu gegründeten Abteilung für Informationspolitik im Präsidialamt ist Sergej Wassiljew im Amt. Er gilt als einer der härtesten Widersacher der freien Presse und als Mann Medwedtschuks.

    Unter diesem Druck hat sich ein Teil der ukrainischen Journalisten solidarisiert. Sie haben eine Gewerkschaft ins Leben gerufen, deren Gründungsdokument mehr als 340 Journalisten unterschrieben haben. Und es existiert auch schon ein Streikkomitee. Doch ob diese Solidarität letzlich ausreichen wird, um die vielfältigen staatlichen Einflussmöglichkeiten, den damit verbundenen wirtschaftlichen Druck, die blanke Angst um die berufliche und persönliche Existenz zu überwinden ?

    Fest steht: Es sind nicht nur die Skandale auf allerhöchster politischer Ebene, sondern vor allem der soziale Niedergang des Landes, der die Menschen mobilisiert. Die Renten sind nicht mehr sicher, die Stipendien bleiben aus. Gut bezahlte Arbeit gibt es kaum, trotz qualifizierter Universitätsabschlüsse samt entsprechender Ausbildung. Verglichen mit dem Lebensstandard vor der Unabhängigkeit 1991 hat jede ukrainische Familie viel verloren - für die Älteren ist das der Hauptgrund, um auf die Straße zu gehen.

    Für den jungen, westlich orientierten Charkiwer Oppositionspolitiker Iwan Bartschenko von der Partei "Reform und Ordnung" und seine Kollegen von den anderen Parteien im Charkiwer Kooperationsrat ist klar, wer die Schuld an der Misere im Land trägt - Präsident Kutschma.

    Schon zehn Jahre ist Kutschma nun schon an der Macht. Und deshalb ist die Basis dieses Systems Kutschma.

    Die Personalisierung des Problems schweißt die Ukrainische Opposition zusammen. Doch ist wirklich an allem allein der Präsident schuld? Sind es nicht auch strukturelle Schwächen im politischen System - wie etwa die enge Verzahnung von Politik und Wirtschaft, die Konzentration von Geld und politischer Macht in den Händen weniger Oligarchen - die mit- verantwortlich sind für die Staatskrise? Leonid Polyakow etwa vom unabhängigen Rasumkow-Zentrum für Politische und Ökonomische Studien in Kiew relativiert den Anteil an Verantwortung, den Kutschma persönlich trage:

    Nein, ich kann nicht sagen, dass er zu 100 Prozent selbst alle diese Probleme beeinflusst. Es gibt einige Leute in seiner Umgebung, die auch einen sehr großen Einfluss haben. Na ja, unsere Demokratie ist begrenzt, aber es handelt sich doch nicht um eine Monarchie, um eine Diktatur. Wir haben unabhängige Politiker und unabhängige Meinungsäußerungen, sogar einige unabhängige Massenmedien. Aber das Machtsystem, das nach den zweiten Präsidentschaftswahlen geschaffen wurde, ist eine allzu starre Konstruktion. Auch wenn jemand anderer Präsident wäre, könnte es in diesem System zu einer solchen Machtsituation kommen. Man sollte die Basis des politischen Systems in der Ukraine verändern. Und von einer Präsidialrepublik zu einer Parlamentarischen Demokratie kommen.

    Kutschma, Mann der alten sowjetischen Nomenklatura und hervorgegangen aus der einflussreichen ukrainischen Wirtschaftsregion Dnjepropetrowsk kennt gar nichts anderes als jene Methoden des Machterhalts, wie sie in der kommunistischen Ära gang und gäbe waren.

    Er und die Wirtschaftsoligarchen um ihn herum haben die Strukturen des Staates zu ihren Gunsten geformt. Die Ukraine sei für diese Gruppe so etwas wie ein Selbstbedienungsladen, meinen die oppositionellen Demonstranten. Und für viele der ehemaligen Kämpfer für eine unabhängige Ukraine hat das einen einfachen Grund: Ein Elitenwechsel habe in der Ukraine niemals stattgefunden. Immer noch hielten die Vertreter der alten Nomenklatur aus sowjet-ukrainischen Zeiten die Macht in ihren Händen. Ex-Außen-minister Hennadiy Udowenko:

    Es gab zwei grundlegende Fehler: Der erste Fehler war, dass die nationaldemokratisch orientierten Kräfte davon überzeugt waren, dass die Unabhängigkeitserklärung allein schon alle Probleme lösen würde, dass das Lebensniveau sozusagen automatisch steigen werde, das Sprachenproblem gelöst werde usw.- das war nichts als Idealismus. Der zweite Fehler war, dass 90 Prozent der Ukrainer zwar beim Referendum die Unabhängigkeit des Landes unterstützt haben, jedoch gleichzeitig nur ein knappes Drittel dem dafür einstehenden Kandidaten Wjatscheslav Tschornowil ihre Stimmen gegeben haben. Das heißt: dieser Teil der Bevölkerung hat die Unabhängigkeit zwar anerkannt, aber nicht für den Kandidaten gestimmt, der für diese Idee eintrat.. ... ein Paradox, oder?

    Mit den Folgen dieser Entscheidung hat das Land bis heute zu kämpfen: Der Mangel an demokratischer Kultur ist in allen Bereichen spürbar - in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. In den Augen des Menschenrechtlers Genrich Altunian bringt es deshalb wenig, die Schwächen des politischen Systems auf einzelne Akteure zu reduzieren. Die Ukrainer hätten aus ihren Fehlern nicht gelernt, die Schwächen seien vielmehr struktureller Art.

    Die Zweckgemeinschaft der Anti-Kutschma-Koalition werde bestimmt nicht lange halten, davon ist der ehemalige Sowjet-Dissident überzeugt:

    Meine Erfahrung sagt mir, dass dieses Bündnis nicht langfristig ist. Niemandem gefällt Kutschma: diesen aus dem einen Grund, jenen aus dem anderen Grund - das kann ich verstehen. Aber die Opposition muss unbedingt auch ein eigenes, ein positives Programm haben. Wenn es kein solches Programm gibt, ist das alles nicht der Mühe wert. Das Ziel der Opposition sollte nämlich ein Politikwechsel sein, nicht einfach nur ein "Weg mit Kutschma!

    Die jüngsten Personalentscheidungen des Präsidenten sprechen gegen einen solchen Politikwechsel. Zum neuen Regierungschef des Landes wurde Viktor Janukowitsch berufen. Der Gouverneur aus der einflussreichen ostukrainischen Industrieregion Donjezk gilt als pro-russisch und eng verbandelt mit dem Donjezker Oligarchen Rinat Achmetow.

    Durch diese Personalentscheidung versucht Kutschma, die empfindliche Balance zwischen den unterschiedlichen Oligarchengruppen in der Ukraine auszutarieren: Janukowitschs mächtiger Gegenspieler im Umkreis des Präsidenten ist Viktor Medtwedtschuk, Leiter der Oligarchenpartei "Vereinigte Sozialdemokraten". Medtwedtschuk leitet inzwischen die Präsidialverwaltung. Beide – Janukowitsch wie Medwedtschuk - haben gute Chancen, Kutschma im Amt nachzufolgen. Denn es ist wahrscheinlich, dass Kutschma selbst für einen lautlosen Übergang nach dem Muster des einstigen russischen Präsidenten Jelzin sorgen und selbst einen Nachfolger im Amt des Präsidenten installieren will. Einen Nachfolger, der vor allem in der Lage sein muss, Kutschmas Immunität auch nach dessen Amtszeit-Ende zu wahren.