Stefan Heinlein: Hatin Sürücü hatte keine Chance. Die Kugeln trafen sie aus nächster Nähe. Die junge Deutsch-Türkin starb an einer Bushaltestelle im Berliner Bezirk Tempelhof. Wenige Tage später wurden ihre drei Brüder festgenommen - Motiv: Ehrenmord, so die Berliner Polizei. Die alleinerziehende Mutter war ausgebrochen aus den traditionellen Strukturen, sie widersetzte sich der Zwangsheirat mit ihrem Cousin. Nach ihrer Scheidung versuchte sie ein selbstbestimmtes Leben außerhalb der Normen und Werte ihrer Familie. Die Tat Anfang Februar hat die deutsche Gesellschaft aufgeschreckt. Es war bereits der fünfte Ehrenmord seit Herbst vergangenen Jahres in Berlin. Wie hoch die Zahl bundesweit ist, lässt sich nur erahnen. Die Dunkelziffer ist hoch, genauso wie es keine verlässlichen Angaben über die Zahl der Zwangsehen in Deutschland gibt. Parallelgesellschaften außerhalb des Grundgesetzes, eine soziale Schattenwelt vor allem türkischer Migrantenfamilien mitten in Deutschland, darüber hat die Hamburger Soziologin Necla Kelek ihr Buch "Die fremde Braut" geschrieben. Frau Kelek, wie viel Mut braucht es als Deutsch-Türkin, ein Buch über dieses Thema zu schreiben?
Necla Kelek: Also, mehr als Mut braucht man Verstand, also Sachverstand, und Interesse natürlich. Und ich verfolge dieses Thema seit bereits 15 Jahren und für mich war es mittlerweile selbstverständlich, dass dieses Buch erscheinen musste.
Heinlein: Dieses Thema ist also nicht neu. Doch warum beginnt die Diskussion über Zwangsehen und Ehrenmorde in Deutschland erst jetzt? Das Phänomen ist ja nicht neu.
Kelek: Also, das ärgert mich immer wieder, diese Frage, das Fass ist so schon längst voll, es läuft über, und ich bin auch nicht die Einzige, die darüber berichtet und geschrieben hat - Seyran Ates ist die Rechtsanwältin hier in Berlin, die seit Jahren auch darüber berichtet. Ich bin nur froh, dass endlich die Medien aufmerksam geworden sind.
Heinlein: Es ärgert Sie. Wollte man in Deutschland einfach nicht wissen, was sich da hinter geschlossenen Türen in türkischen Migrantenfamilien abspielt?
Kelek: Ja, das ist so. Wir wissen ja, dass seit über 20 Jahren von einer Multikulturalität in Deutschland gesprochen wird. Und was tatsächlich in dieser bestimmten Kultur, dir für sich selbst lebt, wirklich passiert, das hat niemanden interessiert. Aber mich hat nur das interessiert und zwar: Wie leben die Migranten, wenn sie mit ihrer Kultur in ein christliches Land kommen? Wie ziehen sie sich zurück in ihre Kultur? Warum ziehen sie sich aus dieser Kultur und warum ist es wichtig, dass sie ihre eigene Kultur leben? Das hat mich mein Leben lang interessiert.
Heinlein: Was ist Ihre Antwort auf diese Frage?
Kelek: Es ist so, dass sie mit bestimmten Vorstellungen, einem bestimmten Weltbild und Menschenbild in ein Land kommen, wo sie merken, genau das Gegenteil wird gelebt. Und dann versuchen sie, erst mal sich selbst zurückzuziehen. Und danach arbeiten sie daran, dass ihre Kinder auf keinen Fall diese Richtung gehen, also dieser Mehrheitsgesellschaft, und halten sie zurück und arbeiten daran, dass sie ihre Kinder nicht an diese andere Kultur verlieren.
Heinlein: Was sind die Motive, dass man sich so abschottet von der deutschen, von der westlichen Kultur und diese archaischen Ehrbegriffe und die Tradition der Zwangsheirat auch in der zweiten, dritten Generation aufrecht erhält?
Kelek: Die archaischen Kulturen sind halt kollektiv bestimmt, das heißt das Individuum hat kein Recht auf sich selbst. Und die Mehrheitsgesellschaft lebt halt sehr selbstbestimmt, das heißt Individualismus widerspricht gegen jeden Kollektivismus. Und wenn sie lernen, ihren eigenen Weg zu gehen, müssen sie auch ihre Eltern verlassen, das heißt diese Strukturen verlassen, das passt diesen Menschen nicht, daher versuchen sie mit allen Mitteln, ihre Kinder in der Großfamilie zu halten.
Heinlein: Wird der Begriff der Ehre und diese Großfamilientradition besonders hochgehalten, um sich von den Deutschen zu unterscheiden, mit denen man vielleicht wirtschaftlich oder beruflich nicht mithalten kann?
Kelek: Das kommt sicherlich dazu. Aber das führt eben dazu, wenn man sagt, das Kind ist die Ehre der Familie und nicht das Kind, damit fängt das ja schon an. Sie gehört sich ja nicht selbst, wenn sie Ehre ist, und ihre Sexualität die Ehre des Mannes ist und nicht ihre eigene Sexualität. Damit geht es ja eigentlich schon los, wenn ich das beschützen muss, damit ich meine eigene Ehre nicht verliere, dann kann dieses Kind ja mit der anderen, das heißt Mehrheitsgesellschaft nichts zu tun haben.
Heinlein: Welche Rolle spielt der Islam, die Religion? Im Koran gibt es ja keine Rechtfertigung für Ehrenmorde.
Kelek: Also, für Ehrenmorde sicherlich nicht. Aber der Nährboden, dass ich traditionell, das heißt im Kollektiv leben muss und nach Gottes Gesetzen leben muss, das heißt, dass ich mich unterwerfen muss, was die Älteren sagen und die, die halt behaupten, mehr zu wissen als ich, wenn ich mich dem unterwerfen muss und nicht nach meiner eigenen Verantwortung leben kann, - das sagt der Islam und da sehe ich Zusammenhänge.
Heinlein: Sind die Phänomene, sind die Tatsachen, über die Sie schreiben und über die jetzt berichtet wird, nicht die Ausnahme? Der überwiegende Teil der türkischen Familien lebt doch schon seit Jahren, seit Generationen zum Teil, fest integriert in die deutsche Gesellschaft.
Kelek: Das ist eine Lebenslüge. Die Mehrheit lebt unter sich. Und die paar Prozent, die tatsächlich also selbstbestimmt leben, modern leben - so bezeichne ich das - für die habe ich das Buch auch nicht geschrieben, ich hoffe sie lesen das und unterstützen halt dieses Buch. Aber das behaupte ich nicht, dass diese Leute nicht für sich selbst sprechen können, das können sie selbst, aber das ist die Minderheit.
Heinlein: Muss eine tolerante Gesellschaft wie die deutsche nicht gewisse kulturelle Unterschiede aushalten und ertragen, auch wenn sie den eigenen Werten und Normen widerspricht?
Kelek: Also, Kultur ist ja für mich ein Begriff, der nicht positiv besetzt ist - leider. In der europäischen Aufklärung auf jeden Fall verbinden wir ja Zivilisation damit. Das heißt ein faires, ein humanistisches Miteinander. Aber wenn Kulturen ihre eigenen Kinder unterdrücken und misshandeln, dann müssen wir nicht von Kulturen sprechen, dann müssen wir von Umständen sprechen, die wir verhindern müssen mit der europäischen Kultur, die das verhindern muss.
Necla Kelek: Also, mehr als Mut braucht man Verstand, also Sachverstand, und Interesse natürlich. Und ich verfolge dieses Thema seit bereits 15 Jahren und für mich war es mittlerweile selbstverständlich, dass dieses Buch erscheinen musste.
Heinlein: Dieses Thema ist also nicht neu. Doch warum beginnt die Diskussion über Zwangsehen und Ehrenmorde in Deutschland erst jetzt? Das Phänomen ist ja nicht neu.
Kelek: Also, das ärgert mich immer wieder, diese Frage, das Fass ist so schon längst voll, es läuft über, und ich bin auch nicht die Einzige, die darüber berichtet und geschrieben hat - Seyran Ates ist die Rechtsanwältin hier in Berlin, die seit Jahren auch darüber berichtet. Ich bin nur froh, dass endlich die Medien aufmerksam geworden sind.
Heinlein: Es ärgert Sie. Wollte man in Deutschland einfach nicht wissen, was sich da hinter geschlossenen Türen in türkischen Migrantenfamilien abspielt?
Kelek: Ja, das ist so. Wir wissen ja, dass seit über 20 Jahren von einer Multikulturalität in Deutschland gesprochen wird. Und was tatsächlich in dieser bestimmten Kultur, dir für sich selbst lebt, wirklich passiert, das hat niemanden interessiert. Aber mich hat nur das interessiert und zwar: Wie leben die Migranten, wenn sie mit ihrer Kultur in ein christliches Land kommen? Wie ziehen sie sich zurück in ihre Kultur? Warum ziehen sie sich aus dieser Kultur und warum ist es wichtig, dass sie ihre eigene Kultur leben? Das hat mich mein Leben lang interessiert.
Heinlein: Was ist Ihre Antwort auf diese Frage?
Kelek: Es ist so, dass sie mit bestimmten Vorstellungen, einem bestimmten Weltbild und Menschenbild in ein Land kommen, wo sie merken, genau das Gegenteil wird gelebt. Und dann versuchen sie, erst mal sich selbst zurückzuziehen. Und danach arbeiten sie daran, dass ihre Kinder auf keinen Fall diese Richtung gehen, also dieser Mehrheitsgesellschaft, und halten sie zurück und arbeiten daran, dass sie ihre Kinder nicht an diese andere Kultur verlieren.
Heinlein: Was sind die Motive, dass man sich so abschottet von der deutschen, von der westlichen Kultur und diese archaischen Ehrbegriffe und die Tradition der Zwangsheirat auch in der zweiten, dritten Generation aufrecht erhält?
Kelek: Die archaischen Kulturen sind halt kollektiv bestimmt, das heißt das Individuum hat kein Recht auf sich selbst. Und die Mehrheitsgesellschaft lebt halt sehr selbstbestimmt, das heißt Individualismus widerspricht gegen jeden Kollektivismus. Und wenn sie lernen, ihren eigenen Weg zu gehen, müssen sie auch ihre Eltern verlassen, das heißt diese Strukturen verlassen, das passt diesen Menschen nicht, daher versuchen sie mit allen Mitteln, ihre Kinder in der Großfamilie zu halten.
Heinlein: Wird der Begriff der Ehre und diese Großfamilientradition besonders hochgehalten, um sich von den Deutschen zu unterscheiden, mit denen man vielleicht wirtschaftlich oder beruflich nicht mithalten kann?
Kelek: Das kommt sicherlich dazu. Aber das führt eben dazu, wenn man sagt, das Kind ist die Ehre der Familie und nicht das Kind, damit fängt das ja schon an. Sie gehört sich ja nicht selbst, wenn sie Ehre ist, und ihre Sexualität die Ehre des Mannes ist und nicht ihre eigene Sexualität. Damit geht es ja eigentlich schon los, wenn ich das beschützen muss, damit ich meine eigene Ehre nicht verliere, dann kann dieses Kind ja mit der anderen, das heißt Mehrheitsgesellschaft nichts zu tun haben.
Heinlein: Welche Rolle spielt der Islam, die Religion? Im Koran gibt es ja keine Rechtfertigung für Ehrenmorde.
Kelek: Also, für Ehrenmorde sicherlich nicht. Aber der Nährboden, dass ich traditionell, das heißt im Kollektiv leben muss und nach Gottes Gesetzen leben muss, das heißt, dass ich mich unterwerfen muss, was die Älteren sagen und die, die halt behaupten, mehr zu wissen als ich, wenn ich mich dem unterwerfen muss und nicht nach meiner eigenen Verantwortung leben kann, - das sagt der Islam und da sehe ich Zusammenhänge.
Heinlein: Sind die Phänomene, sind die Tatsachen, über die Sie schreiben und über die jetzt berichtet wird, nicht die Ausnahme? Der überwiegende Teil der türkischen Familien lebt doch schon seit Jahren, seit Generationen zum Teil, fest integriert in die deutsche Gesellschaft.
Kelek: Das ist eine Lebenslüge. Die Mehrheit lebt unter sich. Und die paar Prozent, die tatsächlich also selbstbestimmt leben, modern leben - so bezeichne ich das - für die habe ich das Buch auch nicht geschrieben, ich hoffe sie lesen das und unterstützen halt dieses Buch. Aber das behaupte ich nicht, dass diese Leute nicht für sich selbst sprechen können, das können sie selbst, aber das ist die Minderheit.
Heinlein: Muss eine tolerante Gesellschaft wie die deutsche nicht gewisse kulturelle Unterschiede aushalten und ertragen, auch wenn sie den eigenen Werten und Normen widerspricht?
Kelek: Also, Kultur ist ja für mich ein Begriff, der nicht positiv besetzt ist - leider. In der europäischen Aufklärung auf jeden Fall verbinden wir ja Zivilisation damit. Das heißt ein faires, ein humanistisches Miteinander. Aber wenn Kulturen ihre eigenen Kinder unterdrücken und misshandeln, dann müssen wir nicht von Kulturen sprechen, dann müssen wir von Umständen sprechen, die wir verhindern müssen mit der europäischen Kultur, die das verhindern muss.