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Nur noch das Allernötigste

In den Niederlanden löst am 1. Januar eine Bürgerversicherung mit Kopfpauschalenprinzip das bisherige Krankenversicherungssystem ab. Der rechtsliberale Gesundheitsminister Hoogervorst hat mit dem Erfolg des Projekts sogar sein politisches Überleben verbunden. Doch inzwischen steigt die Skepsis: Selbst in seiner eigenen Partei verliert er an Unterstützung. Und einer Untersuchung zufolge sind mittlerweile 56 Prozent aller Bürger gegen die Reform. Kerstin Schweighöfer berichtet aus Den Haag.

    Ribanne van Vliet arbeitet in einer kleinen Boutique in einem Haager Vorort. Normalerweise unterhalten sich ihre Kunden über Rocklängen und aktuelle Modefarben, erzählt die temperamentvolle Brünette. Doch in der letzten Zeit gehe es um ein ganz anderes Thema: die Gesundheitsreform und das neue Krankenversicherungssystem. Das zeige doch, wie unsicher und beunruhigt die Leute seien, schimpft Ribanne. Sie selbst lässt kein gutes Haar an der Reform: Unübersichtlich sei sie, da blicke niemand mehr durch! Dass man das den Bürgern ausgerechnet zum Jahreswechsel antun müsse!

    Bislang war in den Niederlanden alles so wie in Deutschland geregelt: Es gab Privatversicherte und Kassenpatienten. Diese Zweiteilung jedoch wird abgeschafft und statt dessen eine Mischform aus Bürgerversicherung mit Kopfpauschalenprinzip eingeführt: die sogenannte Basis-Pflichtversicherung. Jede Versicherung berechnet einen eigenen Satz, der für alle Versicherten dann gleich ist – ganz egal wie alt oder gesund sie sind. Dabei stehen die Versicherer in direkter Konkurrenz miteinander und müssen um ihre Kunden buhlen. Die neue Basisversicherung kostet jeden, der älter ist als 18 Jahre, rund 1.000 Euro pro Jahr. Hinzu kommt eine vom Einkommen abhängige Prämie, die vollständig vom Arbeitgeber beglichen wird. Selbständige zahlen etwas weniger. Und einkommensschwache Familien bekommen einen so genannten Versorgungszuschlag. In TV-Spots werden die Bürger auf die Reform vorbereitet.

    Der Inhalt des Basispakets entspricht den heutigen Leistungen der Krankenkassen, und die beschränkten sich auf das Allernötigste: Arztkosten, Krankenhausbehandlung, bestimmte Medikamente. Für den Zahnarzt musste man sich in den letzten Jahren bereits zusatzversichern. Diese magere Grundversorgung soll der Versicherte im neuen System je nach Wunsch wie ein Baukasten mit Zusatzversicherungen ausbauen.

    Ziel der Reform: die Kostenexplosion im Gesundheitswesen dämpfen – und gleichzeitig für mehr Solidarität sorgen. Es sei für alle bezahlbar, betont Gesundheitsminister Hoogervorst. Und für alte Menschen und chronisch Kranke werde es obendrein gerechter.

    Genau das wird allerdings von Kritikern bezweifelt. Zwar müssen die Versicherer bei der Basisversorgung jeden Patienten akzeptieren, egal welche Kosten er verursacht. Und dürfen höchstens 10 Prozent Rabatt geben. Bei den Zusatzversicherungen hingegen können sie Gewinne machen: Sie können Patienten ablehnen, ohne gesetzliche Beschränkungen Rabatte geben oder mit dem Preis in die Höhe gehen.

    Chronisch oder Schwerkranke könnten bei den Zusatzversicherungen grosse Probleme bekommen, fürchtet Hausarzt Pim Samson aus Delft. Er glaubt nicht an mehr Solidarität. Es wird erwartet, dass die Privatversicherten am meisten von der Reform profitieren – vor allem, wenn sie Kinder haben, denn die sind bis zur Volljährigkeit gratis mitversichert. Viele bisherige Kassenpatienten aber müssen tiefer in die Taschen greifen.

    Neben den meisten Hausärzten sind deshalb auch die linken Oppositionsparteien vehement gegen die Reform. Ihre grösste Sorge ist es, dass die Versicherungsgesellschaften zuviel Macht bekommen und den Versicherten schon bald vorschreiben, welche Ärzte sie aufsuchen und welche Medikamente sie schlucken dürfen. Gegner der Reform fürchten auch, dass es nicht bei den rund 1000 Euro bleibt, sondern die Prämie in den nächsten Jahren drastisch steigen könnte.

    Ausserdem, findet Hausarzt Samson, hätten die Gesetze der Marktwirtschaft im Gesundheitswesen nichts verloren. Das neue System sei von Juristen und Wirtschaftsexperten in den Ministerien ausgeheckt worden; die hätten von Gesundheit keine Ahnung, sondern nur von Geld. Wobei allerdings abzuwarten bleibe, ob die Reform auch wirklich zu Einsparungen führe. Jetzt schon eine genaue Prognose abzugeben, sagt Pim Samson, sei wie Lesen im Kaffeesatz.