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Nur Pluralismus hilft weiter

Die Religion in Europa müsse sich aus ihrer Überinstitutionalisierung befreien, sagt der prominente spanisch-amerikanische Religionssoziologe Jose Casanova. Er plädiert für mehr Pluralismus. Doch damit tun sich die christlichen Kirchen schwer.

Von Henning Klingen | 29.08.2012
    Auch Klassiker können mal irren. Manchmal sogar gewaltig. So etwa im Fall des großen Soziologen Max Weber. Er gilt nicht nur als Vater der modernen Soziologie, sondern auch als Vater der "Säkularisierungstheorie". Diese bezeichnet die Trennung von Staat und Kirche nach dem Ende der Allianz von Thron und Altar – aber sie geht noch weiter. Denn sie sieht mit dem Aufstieg der modernen, ausdifferenzierten und wertpluralen Gesellschaften zugleich das Ende der Religion insgesamt eingeläutet.

    Dass diese Geschichte nur eine Geschichte, also ein Mythos ist und Max Weber also irrt, ist die Kernthese des gegenwärtig wohl prominentesten Grenzgängers zwischen Theologie, Soziologie und Philosophie: des spanisch-amerikanischen Religionssoziologen Jose Casanova. Religion und Moderne schließen sich für ihn nicht aus. Im Gegenteil:

    "In Europa das Wichtigste ist einfach, die Annahme in Frage zu stellen, dass Modernisierung unbedingt Säkularisierung bringt. Dann die Frage: Warum sind wir in Europa dann so säkular: Nicht weil wir modern sind! Wir könnten auch modern sein und religiös, aber de facto sind wir in Europa säkular und nicht religiös. Und dann lautet die Frage: wir sind säkular, weil wir es so wollten – und nicht, weil wir es mussten. Wenn du säkular bist, solltest du wissen, warum du säkular sein willst – nicht weil du modern sein willst. Und das ist für mich die Funktion meiner Kritik: diese Übereinstimmung von Moderne und Säkularität in Frage zu stellen. Die Leute in Europa sollten sich bewusst sein, dass religiös oder säkular eine Option ist, die man frei wählen kann."

    Religion als Option. Gewiss, ein Theologe würde vermutlich Casanova einen funktional verkürzten Religionsbegriff vorhalten. Doch das würde den innovativen Kern des Ansatzes von Casanova verfehlen: denn es geht dem 61-Jährigen, der selbst in den 1970er-Jahren in Innsbruck Theologie studierte, nicht um Religionskritik, sondern um die Befreiung der Religion in Europa aus institutionellen Zwängen:

    "Das Problem der Religion in Europa ist die Überinstitutionalisierung der Religion mit ekklesiastischen Institutionen. Und jetzt, wenn diese neuen Minderheiten kommen, stellt sich die Frage: Wie kann man innerhalb dieser institutionalisierten ekklesiastischen öffentlichen Beziehungen zwischen Staat und Kirchen auch Raum für diese neuen Minderheiten schaffen. Das ist etwas Neues in Europa. Die Frage ist: Was für ein Modell haben wir von Modernisierung? Eines von homogener Konfessionalität zu homogener Säkularität oder eines, wo es pluralistische Optionen für viele Religionen und auch säkulare Optionen gibt'"

    Beim Umgang mit dem Pluralismus sollte sich Europa, so Casanova, ein Beispiel an Amerika nehmen. Aber die historischen Erfahrungen einfach zu übertragen, hält er für unmöglich: jedes Land, jeder Kontinent muss seine eigene Geschichte des Verhältnisses zwischen Gesellschaft und Religion schreiben.

    "Das Modell war, dass Europa ist das Modell von Modernisierung und Amerika war die Ausnahme; und es gibt Leute, die wollen Amerika als Modell und Europa als Ausnahme und jetzt sollten alle amerikanisiert werden. Nein! China ist auch eine Ausnahme, Indien ist eine Ausnahme, der Islam ist eine Ausnahme: Wenn es so viele Ausnahmen gibt, dann ist das, was fehlt, das Modell. Es gibt kein einziges Modernisierungsmodell, das für alle richtig ist. Das sind Geschichten von Modernisierung. Natürlich können wir voneinander lernen. Aber wir müssen die Pluralität der Moderne akzeptieren."

    Doch wie soll angesichts des Wahrheitsanspruches von Religionen Pluralität möglich sein? Ist in einer pluralistischen Gesellschaft dem religiösen Relativismus Tür und Tor geöffnet? Nein, sagt Jose Casanova – und verweist abermals auf Amerika:

    "Keine der Denominationen in Amerika verliert ihren Wahrheitsanspruch, aber alle anerkennen auch die Wahrheitsansprüche der anderen. Und das führt nicht zu Relativismus. Immer wenn ich in Europa Wahrheitsanspruch höre, die Leute meinen: Wenn man viele Wahrheiten hat, die miteinander konkurrieren, dann muss das zu Relativismus führen. Aber soziologisch ist das nicht so: Die am meisten pluralistischen religiösen Gesellschaften – Amerika und Indien – sind überhaupt keine moralisch relativistischen Gesellschaften. Die ganze Menschheit muss akzeptieren: Wir haben miteinander Wahrheitsansprüche und jeder hat den Anspruch, auch universelle Wahrheit zu sein – und das müssen wir einfach akzeptieren."

    Schwierigkeiten mit dem Pluralismus hat vor allem die katholische Kirche. Das weiß auch der Katholik Casanova. Pluralismus ist mühsam, er verlangt von Hierarchie und Lehramt vor allem eines: den Andersdenkenden zu akzeptieren. Die Gläubigen könnten der Kirchenleitung dabei durchaus auf die Sprünge helfen – etwa mit einem "faithful dissent", wie es Casanova nennt, einem zivilen kirchlichen Ungehorsam – gewiss immer in Treue zur Kirche:

    "Die Frage ist gerade, wie kann man innerhalb der Kirche Raum schaffen für diese Pluralität. Es gibt die Verfahren, die viel mehr auf Dialog basieren. Das heißt nicht, dass alles klappen muss, es bleiben Meinungsunterschiede. Aber so lange wir treu zur Kirche bleiben wollen; die Hierarchie sollte ein bisschen mehr Dissens erlauben."

    Dissens bedeutet für Casanova eine ständige Frischzellenkur für die Kirche. Es gilt, sich die Tradition stetig neu anzueignen. Denn wer Tradition als starre, abgeschlossene Überlieferung sieht, verfehlt nach Casanova deren Kern:

    "Tradition ist nur lebendig, wenn Tradition sich immer erneuert und neu versteht. Die katholische Kirche ist noch da nach 2.000 Jahren, weil sie sich immer erneuert hat, in jedem Moment."