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Nur Schönes soll bleiben

Psychologie. - Lauscht man dem Stammtisch, dann wird schnell klar, dass Negatives offenbar schneller aus dem Gedächtnis entschwindet als schöne Erinnerungen. Neurowissenschaftler erforschen, wie Erinnerungen beim Abrufen verändert werden.

Von Volkart Wildermuth |
    Wenn wir etwas erleben, wenn wir etwas lernen, dann kommt die neue Information zunächst ins Kurzzeitgedächtnis. Die wirklich wichtigen Fakten werden dann im Lauf eines Tages in Langzeitgedächtnis übertragen und dort bleiben sie dann für alle Ewigkeit. So lautete das Standardmodell der Gedächtnisforschung. Mit seinen Experimenten an Ratten hat Dr. Karim Nader von der kanadischen McGill Universität dieses Modell erschüttert:

    "Erinnerungen sind keine Schnappschüsse, das Gedächtnis ist ein kreativer Prozess. Jedes mal, wenn wir etwas erinnern, verändern wir dabei die Erinnerung. Wir haben entdeckt, dass der Gedächtnisinhalt nach dem Erinnern neu abgespeichert werden muss. Wenn man dieses Prozess stört, dann verschwindet die Erinnerung."

    Karim Nader kann Ratten die Erinnerung an einen schmerzhaften Stromschlag völlig aus dem Gedächtnis tilgen. Um die so genannte Rekonsolidierung zu verhindern, muss er allerdings zu recht drastischen Mitteln greifen und die ganze Eiweißproduktion im Gehirn lahm legen. Normalerweise werden Gedächtnisinhalte nach Erinnern also nicht gelöscht, sie werden einfach wieder abgespeichert. Doch in dieser Phase des erneuten Ablegens kann das Gehirn die Information mit anderen Fakten verknüpfen, sie abschwächen oder verstärken, sie - kurz gesagt - an neue Gegebenheiten anpassen. Das ist nicht nur positiv: Psychologen haben immer wieder dokumentiert, wie leicht sich Erinnerungen durch gezieltes Einflüstern verfälschen lassen.

    Vor Gericht ist das ein ernstes Problem, unter dem Weihnachtsbaum führt dieser Prozess dazu, dass die alten Geschichten jedes Jahr noch schöner aufpoliert werden und sich später alle genau an den neuen Hergang der Dinge erinnern können. Die Rekonsolidierung ist ein aktives Forschungsgebiet geworden. Der Prozess konnte Ratten, Mäusen und sogar bei Menschen beobachtet werden und das nicht nur im Zusammenhand mit Furcht, sondern zum Beispiel auch bei Erinnerungen, die mit dem Gebrauch von Drogen verknüpft sind. Im Labor von Dr. Jonathan Lee im britischen Cambridge können sich Ratten per Tastendruck selbst Kokain verabreichen. Gleichzeitig leuchtet eine Lampe auf. Nach einigen Hundert Durchgängen ist schon das Licht allein ein ausgesprochen positives Signal für die Tiere. Doch die erinnerte Verknüpfung zwischen Licht und Kick kann Jonathan Lee aus ihrem Gedächtnis tilgen.

    "Alles, was wir tun müssen, ist die Erinnerung einmal aufzurufen und dabei die Rekonsolidierung zu blockieren. Das führt zu einem langfristigen Verschwinden der Erinnerung. Der Vorteil dieses Ansatzes bei einer Anwendung in der Klink wäre, dass die Patienten nur einmal zum Arzt kommen, nur einmal ein Medikament erhalten müssten, um diese starken Erinnerungen zu löschen."

    Cleane Drogenabhänige oder trockene Alkoholiker erleiden schnell einen Rückfall, wenn sie durch irgendetwas an ihre alte Sucht erinnert werden. Hier wäre Hilfe sicher dringend nötig. Allerdings sind die Drogen bei einem Süchtigen nicht nur mit einem Lämpchen, sondern mit vielen Aspekten seines Lebens verknüpft. Derzeit ist nicht so recht vorstellbar, wie das alles gelöscht werden könnte. Auf einem anderen Gebiet dagegen laufen schon die ersten klinischen Studien. Dabei geht es um Personen, die von traumatischen Erinnerungen verfolgt werden. Karim Nader ist davon überzeugt, dass sich solche vergleichsweise eng umschriebenen schädlichen Gedächtnisinhalte über die Rekonsolidierung beeinflussen lassen.

    "Wir wollen die Erinnerung aufrufen und ihnen dann ein Medikament geben, dass die Rekonsolidierung behindert. Dadurch wird die Erinnerung nicht gelöscht, sie ist aber nicht mehr so belastend. Wenn alles ideal läuft, fragen wir sie eine Woche später und sie erinnern sich an die Fakten, aber hoffentlich werden sie nicht mehr von ihnen überwältigt. "

    In den USA und Kanada haben erste Studien begonnen, ob die Blockade der Rekonsolidierung in der Praxis hält, was sie im Tierversuch verspricht, muss sich aber erst noch zeigen.