"Echte Polemik nimmt ein Buch sich so liebevoll vor, wie ein Kannibale sich einen Säugling zurüstet", lautet die zehnte von insgesamt dreizehn Thesen, die Walter Benjamin unter der Überschrift "Die Technik des Kritikers in dreizehn Thesen" in der "Einbahnstraße" veröffentlichte. Mit einem Umschlag des Fotokünstlers Sasha Stone erschien das Buch 1928 im Rowohlt Verlag. Nun liegt es als dritter Band, in der Zählung der neuen Walter Benjamin Ausgabe als achter Band, vor. Diese "Kritische Gesamtausgabe" wird im Auftrag der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur von Henri Lonitz und Christoph Gödde in Zusammenarbeit mit dem Walter Benjamin Archiv herausgegeben. Sie umfasst die Werke und den Nachlass des 1892 in Berlin geborenen Autors, der sich 1940 auf der Flucht vor den Nazis in Port Bou das Leben nahm.
Bereits zwei Monate nach Benjamins Tod schrieb Theodor W. Adorno an Gershom Scholem – beide waren eng mit Benjamin befreundet – dass man alles von Benjamin Geschriebene zusammensuchen müsse, um eine Ausgabe seiner Gesammelten Schriften vorzubereiten. Sie erschien 1955 in zwei Bänden im Suhrkamp Verlag. Es war der editorische Beginn, um den im Nachkriegsdeutschland gänzlich unbekannten Walter Benjamin einem größeren Publikum vorzustellen. Dem stetig wachsenden Interesse an Benjamins Werk und an seiner Person trug der Suhrkamp Verlag in den 70er-Jahren mit einer Ausgabe seiner "Gesammelten Schriften" Rechnung.
1972 erschien der erste Band von insgesamt sieben. Diese Ausgabe wurde erst 1989 abgeschlossen, sodass es durchaus eine Überraschung war, als Jan Philipp Reemtsma im Mai 2005 ankündigte, das die von ihm geleitete Hamburger Stiftung eine neue Benjamin Werkausgabe im Suhrkamp Verlag herausgeben wird. Zu den Gründen, Erdmut Wizisla, Leiter des Bertolt-Brecht- und des Walter Benjamin Archiv.
Erdmut Wizisla, Leiter des Walter Benjamin Archivs
"Zunächst einmal ist die alte Benjamin-Ausgabe von der Geschichte geprägt, in der sie entstanden ist. Es ist eine Ausgabe, bei deren Beginn gar nicht abzusehen war, worauf sie hinausläuft. Viele Materialien waren den Herausgebern, Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, nicht zugänglich und sind im Laufe der Entstehungszeit erst zugänglich geworden. Das gilt vor allem für die damaligen Berliner und Potsdamer Bestände und dadurch sind die Bände zum Teil auch ein bisschen unübersichtlich geworden. Und es lag nahe, eine neu gegliedert, übersichtlichere Benjamin-Ausgabe zu machen. Zum zweiten laufen im Jahr 2011 die Rechte an Benjamin aus und die Inhaberin der Rechte, das ist die Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur, war interessiert daran, selbst eine haltbare Benjamin-Ausgabe zu iniziieren und das nicht anderen zu überlassen zu einem Zeitpunkt, wo es jeder machen kann."
Worin sich die neue Ausgabe von der alten unterscheidet, dazu Henri Lonitz, der neben Christoph Gödde einer der beiden Gesamtherausgeber der "Kritischen Gesamtausgabe" ist. Beide verfügen über Erfahrungen im Umgang mit Benjamins Texten, denn sie waren die Herausgeber der "Gesammelten Briefe" Benjamins, die zwischen 1995 und 2000 in sechs Bänden erschienen.
Henri Lonitz zusammen mit Christoph Gödde Gesamtherausgeber der "Kritischen Gesamtausgabe Walter Benjamin Werke und Nachlass"
"Diese Ausgabe ist endlich die Einlösung des Versprechens einer historisch-kritischen Ausgabe. Der Charakter einer historisch-kritischen Ausgabe ist normalerweise der, dass dicke Bände entstehen, in denen alles irgendwie versammelt ist, und der Leser sich darin zurechtfinden muss. Wir haben eine andere Konzeption gewählt, nämlich die, die Bücher, die Benjamin zu Lebzeiten selbst veröffentlicht hat, intakt zu lassen und jeweils in einem Band zu präsentieren."
Als erster Band der neuen "Kritischen Gesamtausgabe Werke und Nachlass" erschien 2008 Benjamins 1920 veröffentlichte Dissertation "Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik". Benjamin hatte die Arbeit an der Universität in Bern eingereicht und, so ist aus dem Tagebuch von Gershom Scholem zu erfahren, Angst vor der mündlichen Prüfung. Als "schlechthin furchtbar und unerträglich" beschreibt Scholem die Haltung des Freundes, der schließlich das Doktorexamen im Juni 1919 mit der Note "summa cum laude" bestand. Der Bandherausgeber Uwe Steiner:
Uwe Steiner, Herausgeber des Bandes "Der Begriff der Kunstkritik in deutschen Romantik
"Der Textteil der neuen Buchedition "Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik" wird ergänzt durch einige wenige bisher nicht bekannte Manuskripte, die wir im Nachlass gefunden haben. Die Dissertation war, was Benjamin mehrfach betont hat, eine akademische Pflichtübung, aber sie trägt die Handschrift des Autors, der sich während seines Studiums kritisch mit der kantischen und der neukantianischen Philosophie beschäftigt hat."
Keine akademische Pflichtübung war für Benjamin die Herausgabe des Buches "Deutsche Menschen, das er 1936 unter dem Namen Detlef Holz im Schweizer Vita Nova Verlag veröffentlichte. Damit das Buch in jenem Deutschland eine Chance hatte, dass er 1933 als Jude gezwungen war zu verlassen, wählte Benjamin ein Pseudonym. Als in Deutschland der "Ungeist" regiert, erinnert Benjamin an die "wahre Größe" der deutschen Kulturnation. Auf dem Buchtitel der Ausgabe von 1936 ist als Motto zu lesen: "Von Ehre ohne Ruhm / Von Größe ohne Glanz / Von Würde ohne Sold."
Erdmut Wizisla, Leiter des Walter Benjamin Archivs
"Deutsche Menschen" bringt eben nicht nur das Buch von 1936 – es bringt es im Übrigen zum ersten Mal so, wie es 1936 erschienen ist, alles andere waren Bearbeitungen, z. T. Verschlimmbesserungen –, sondern es bringt die gesamte Geschichte des Projektes, indem es den Beginn dieser Briefedition aus der "Frankfurter Zeitung" dokumentiert, indem es die Wirkungsgeschichte im Exil zeigt. Also: "Deutsche Menschen" liest man anders, wenn man sich die Edition von Momme Brodersen ansieht."
Mit dem Band der "Einbahnstraße" liegt inzwischen der dritte von insgesamt 21 geplanten Bänden der "Kritischen Gesamtausgabe" vor. Der Bandherausgeber, Detlef Schöttker, präsentiert im Hauptteil nicht nur die Teile der Sammlung von Denkbildern, die Benjamin noch zu Lebzeiten veröffentlichten konnte, sondern im Hauptteil werden auch jene 43 Texte abgedruckt – Benjamin hat sie auf einer "Nachtragsliste" festgehalten –, die für eine Nachauflage der "Einbahnstraße" vorgesehen waren. Der etwa 600 Seiten umfassende Band bietet auf 254 Seiten alle Fassungen und Varianten, wobei der anschließende Kommentarteil neben den Kommentaren zu den einzelnen Stücken auch zeitgenössische Rezensionen versammelt.
Erdmut Wizisla, Leiter des Walter Benjamin Archivs
"Individualisierung ist ein entscheidendes Stichwort. Es gibt die Bücher wieder für sich "Einbahnstraße", "Deutsche Menschen", der "Begriff der Kunstkritik" oder das "Baudelaire"-Buch und es gibt die Akzentuierung des Entstehungsvorgangs. Also: ein Text, an dem Benjamin so viel gearbeitet hat, dass deutlich voneinander unterscheidbare Fassungen entstanden sind, wird zum Beispiel in der neuen Ausgabe in allen Fassungen gegeben. Das heißt, wir sind sehr zurückhaltend, was die Verzeichnung von Varianten im Apparat anbelangt. In der neuen Ausgabe wird man auch gestrichene Stellen als gestrichene Stellen lesen können. Benjamin ist ein Autor, bei dem es sich lohnt, sich auch die gestrichenen Stellen anzusehen. Er ist praktisch in jeder Notiz präsent und wenn er sich gegen eine Notiz entscheidet, heißt das nicht, dass sie missraten ist, sondern in den Varianten und gestrichenen Stellen verbergen sich oft Entdeckungen. Das ist vielleicht der letzte, zu nennende wichtige Vorzug der neuen Ausgabe, dass es Benjamin-Reproduktionen gibt, dass man also nicht dem Leser das Fertige, das Edierte, den bearbeiteten Text gibt, sondern dass man es so gibt, wie es der Autor überliefert hat."
Die Herausgeber der "Kritischen Gesamtausgabe haben sich dagegen entschieden, Benjamins Schriften in einer streng chronologischen Ausgabe zu präsentieren. Auf den ersten Blick wäre eine solche Ausgabe durchaus reizvoll gewesen, da sie die Aufmerksamkeit auf Texte gelenkt hätte, die in unmittelbarer zeitlicher Nachbarschaft entstanden sind. Warum sich die Herausgeber gegen eine chronologische Ausgabe entschieden haben, dazu Jan Philipp Reemtsma, Stifter und Vorstand der 1984 gegründeten Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur, ohne deren finanzielle Zuwendungen die Ausgabe nicht würde erscheinen können.
Jan Philipp Reemtsma, Stifter und Vorstand der "Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur"
"Es gibt gravierende Argumente, die gegen eine Chronologie sprechen. Bei einem Schriftstellerleben, das davon geprägt ist, an eigenen Dingen zu sitzen und Brotarbeiten zu machen sowie von außen Auftragsarbeiten anzunehmen und, und; versammelt man so Heterogenes, was durch die bloße Kontingenz des Lebens zusammengebracht ist und nicht aus einer inneren Werklogik, sodass das, was sie da erwarten und erhoffen, nur der pure Schein ist. Diese chronologische Ausgabe hätte für den Benjamin-Leser, der alles von Benjamin will und sich nur für den Autor interessiert, einen großen Reiz – für den Benutzer einer Ausgabe, der sagt, mich interessieren Teile des Werks, für den ist das eine absolute Zugangssperre, weil der sich nicht Zusammengehöriges als Einzelband herausnehmen kann."
Die Aufhebung der "Entindividualisierung" von Texten, die in Gesamtausgaben ihres singulären Wertes und ihrer Aura verlustig gehen, ist einer der entscheidenden Vorteile der neuen "Kritischen Walter Benjamin Gesamtausgabe". Benjamins Bücher, die zu Lebzeiten erschienen sind und die, die zum Druck vorgesehen waren, erscheinen in einzelnen Bänden, was den Umgang mit und den Zugang zu seinem Werk erleichtert. Auch die Entscheidung, alles von Benjamin Geschriebene im Hauptteil zu präsentieren und keine Entwürfe oder Fassungen in den Kommentarteil zu verbannen, ist ein Plus der neuen Ausgabe. Sie ist entschieden Nutzerfreundlicher als die – man kommt nicht umhin, es zu sagen – verdienstvolle "alte" Ausgabe der "Gesammelten Schriften".
Die "Kritische Gesamtausgabe Walter Benjamin Werke und Nachlass" erscheint im Suhrkamp Verlag. Bisher sind drei Bände dieser Ausgabe erhältlich: 2008 erschien "Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik", herausgegeben von Uwe Steiner. Ebenfalls 2008 kam der von Momme Brodersen edierte Band "Deutsche Menschen" heraus und 2009 wurde der Band "Einbahnstraße" publiziert, den Detlev Schöttker unter der Mitarbeit von Steffen Haug herausgegeben hat. Die einzelnen Bände kosten zwischen 34,80 und 36,80 Euro.
Bereits zwei Monate nach Benjamins Tod schrieb Theodor W. Adorno an Gershom Scholem – beide waren eng mit Benjamin befreundet – dass man alles von Benjamin Geschriebene zusammensuchen müsse, um eine Ausgabe seiner Gesammelten Schriften vorzubereiten. Sie erschien 1955 in zwei Bänden im Suhrkamp Verlag. Es war der editorische Beginn, um den im Nachkriegsdeutschland gänzlich unbekannten Walter Benjamin einem größeren Publikum vorzustellen. Dem stetig wachsenden Interesse an Benjamins Werk und an seiner Person trug der Suhrkamp Verlag in den 70er-Jahren mit einer Ausgabe seiner "Gesammelten Schriften" Rechnung.
1972 erschien der erste Band von insgesamt sieben. Diese Ausgabe wurde erst 1989 abgeschlossen, sodass es durchaus eine Überraschung war, als Jan Philipp Reemtsma im Mai 2005 ankündigte, das die von ihm geleitete Hamburger Stiftung eine neue Benjamin Werkausgabe im Suhrkamp Verlag herausgeben wird. Zu den Gründen, Erdmut Wizisla, Leiter des Bertolt-Brecht- und des Walter Benjamin Archiv.
Erdmut Wizisla, Leiter des Walter Benjamin Archivs
"Zunächst einmal ist die alte Benjamin-Ausgabe von der Geschichte geprägt, in der sie entstanden ist. Es ist eine Ausgabe, bei deren Beginn gar nicht abzusehen war, worauf sie hinausläuft. Viele Materialien waren den Herausgebern, Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, nicht zugänglich und sind im Laufe der Entstehungszeit erst zugänglich geworden. Das gilt vor allem für die damaligen Berliner und Potsdamer Bestände und dadurch sind die Bände zum Teil auch ein bisschen unübersichtlich geworden. Und es lag nahe, eine neu gegliedert, übersichtlichere Benjamin-Ausgabe zu machen. Zum zweiten laufen im Jahr 2011 die Rechte an Benjamin aus und die Inhaberin der Rechte, das ist die Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur, war interessiert daran, selbst eine haltbare Benjamin-Ausgabe zu iniziieren und das nicht anderen zu überlassen zu einem Zeitpunkt, wo es jeder machen kann."
Worin sich die neue Ausgabe von der alten unterscheidet, dazu Henri Lonitz, der neben Christoph Gödde einer der beiden Gesamtherausgeber der "Kritischen Gesamtausgabe" ist. Beide verfügen über Erfahrungen im Umgang mit Benjamins Texten, denn sie waren die Herausgeber der "Gesammelten Briefe" Benjamins, die zwischen 1995 und 2000 in sechs Bänden erschienen.
Henri Lonitz zusammen mit Christoph Gödde Gesamtherausgeber der "Kritischen Gesamtausgabe Walter Benjamin Werke und Nachlass"
"Diese Ausgabe ist endlich die Einlösung des Versprechens einer historisch-kritischen Ausgabe. Der Charakter einer historisch-kritischen Ausgabe ist normalerweise der, dass dicke Bände entstehen, in denen alles irgendwie versammelt ist, und der Leser sich darin zurechtfinden muss. Wir haben eine andere Konzeption gewählt, nämlich die, die Bücher, die Benjamin zu Lebzeiten selbst veröffentlicht hat, intakt zu lassen und jeweils in einem Band zu präsentieren."
Als erster Band der neuen "Kritischen Gesamtausgabe Werke und Nachlass" erschien 2008 Benjamins 1920 veröffentlichte Dissertation "Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik". Benjamin hatte die Arbeit an der Universität in Bern eingereicht und, so ist aus dem Tagebuch von Gershom Scholem zu erfahren, Angst vor der mündlichen Prüfung. Als "schlechthin furchtbar und unerträglich" beschreibt Scholem die Haltung des Freundes, der schließlich das Doktorexamen im Juni 1919 mit der Note "summa cum laude" bestand. Der Bandherausgeber Uwe Steiner:
Uwe Steiner, Herausgeber des Bandes "Der Begriff der Kunstkritik in deutschen Romantik
"Der Textteil der neuen Buchedition "Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik" wird ergänzt durch einige wenige bisher nicht bekannte Manuskripte, die wir im Nachlass gefunden haben. Die Dissertation war, was Benjamin mehrfach betont hat, eine akademische Pflichtübung, aber sie trägt die Handschrift des Autors, der sich während seines Studiums kritisch mit der kantischen und der neukantianischen Philosophie beschäftigt hat."
Keine akademische Pflichtübung war für Benjamin die Herausgabe des Buches "Deutsche Menschen, das er 1936 unter dem Namen Detlef Holz im Schweizer Vita Nova Verlag veröffentlichte. Damit das Buch in jenem Deutschland eine Chance hatte, dass er 1933 als Jude gezwungen war zu verlassen, wählte Benjamin ein Pseudonym. Als in Deutschland der "Ungeist" regiert, erinnert Benjamin an die "wahre Größe" der deutschen Kulturnation. Auf dem Buchtitel der Ausgabe von 1936 ist als Motto zu lesen: "Von Ehre ohne Ruhm / Von Größe ohne Glanz / Von Würde ohne Sold."
Erdmut Wizisla, Leiter des Walter Benjamin Archivs
"Deutsche Menschen" bringt eben nicht nur das Buch von 1936 – es bringt es im Übrigen zum ersten Mal so, wie es 1936 erschienen ist, alles andere waren Bearbeitungen, z. T. Verschlimmbesserungen –, sondern es bringt die gesamte Geschichte des Projektes, indem es den Beginn dieser Briefedition aus der "Frankfurter Zeitung" dokumentiert, indem es die Wirkungsgeschichte im Exil zeigt. Also: "Deutsche Menschen" liest man anders, wenn man sich die Edition von Momme Brodersen ansieht."
Mit dem Band der "Einbahnstraße" liegt inzwischen der dritte von insgesamt 21 geplanten Bänden der "Kritischen Gesamtausgabe" vor. Der Bandherausgeber, Detlef Schöttker, präsentiert im Hauptteil nicht nur die Teile der Sammlung von Denkbildern, die Benjamin noch zu Lebzeiten veröffentlichten konnte, sondern im Hauptteil werden auch jene 43 Texte abgedruckt – Benjamin hat sie auf einer "Nachtragsliste" festgehalten –, die für eine Nachauflage der "Einbahnstraße" vorgesehen waren. Der etwa 600 Seiten umfassende Band bietet auf 254 Seiten alle Fassungen und Varianten, wobei der anschließende Kommentarteil neben den Kommentaren zu den einzelnen Stücken auch zeitgenössische Rezensionen versammelt.
Erdmut Wizisla, Leiter des Walter Benjamin Archivs
"Individualisierung ist ein entscheidendes Stichwort. Es gibt die Bücher wieder für sich "Einbahnstraße", "Deutsche Menschen", der "Begriff der Kunstkritik" oder das "Baudelaire"-Buch und es gibt die Akzentuierung des Entstehungsvorgangs. Also: ein Text, an dem Benjamin so viel gearbeitet hat, dass deutlich voneinander unterscheidbare Fassungen entstanden sind, wird zum Beispiel in der neuen Ausgabe in allen Fassungen gegeben. Das heißt, wir sind sehr zurückhaltend, was die Verzeichnung von Varianten im Apparat anbelangt. In der neuen Ausgabe wird man auch gestrichene Stellen als gestrichene Stellen lesen können. Benjamin ist ein Autor, bei dem es sich lohnt, sich auch die gestrichenen Stellen anzusehen. Er ist praktisch in jeder Notiz präsent und wenn er sich gegen eine Notiz entscheidet, heißt das nicht, dass sie missraten ist, sondern in den Varianten und gestrichenen Stellen verbergen sich oft Entdeckungen. Das ist vielleicht der letzte, zu nennende wichtige Vorzug der neuen Ausgabe, dass es Benjamin-Reproduktionen gibt, dass man also nicht dem Leser das Fertige, das Edierte, den bearbeiteten Text gibt, sondern dass man es so gibt, wie es der Autor überliefert hat."
Die Herausgeber der "Kritischen Gesamtausgabe haben sich dagegen entschieden, Benjamins Schriften in einer streng chronologischen Ausgabe zu präsentieren. Auf den ersten Blick wäre eine solche Ausgabe durchaus reizvoll gewesen, da sie die Aufmerksamkeit auf Texte gelenkt hätte, die in unmittelbarer zeitlicher Nachbarschaft entstanden sind. Warum sich die Herausgeber gegen eine chronologische Ausgabe entschieden haben, dazu Jan Philipp Reemtsma, Stifter und Vorstand der 1984 gegründeten Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur, ohne deren finanzielle Zuwendungen die Ausgabe nicht würde erscheinen können.
Jan Philipp Reemtsma, Stifter und Vorstand der "Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur"
"Es gibt gravierende Argumente, die gegen eine Chronologie sprechen. Bei einem Schriftstellerleben, das davon geprägt ist, an eigenen Dingen zu sitzen und Brotarbeiten zu machen sowie von außen Auftragsarbeiten anzunehmen und, und; versammelt man so Heterogenes, was durch die bloße Kontingenz des Lebens zusammengebracht ist und nicht aus einer inneren Werklogik, sodass das, was sie da erwarten und erhoffen, nur der pure Schein ist. Diese chronologische Ausgabe hätte für den Benjamin-Leser, der alles von Benjamin will und sich nur für den Autor interessiert, einen großen Reiz – für den Benutzer einer Ausgabe, der sagt, mich interessieren Teile des Werks, für den ist das eine absolute Zugangssperre, weil der sich nicht Zusammengehöriges als Einzelband herausnehmen kann."
Die Aufhebung der "Entindividualisierung" von Texten, die in Gesamtausgaben ihres singulären Wertes und ihrer Aura verlustig gehen, ist einer der entscheidenden Vorteile der neuen "Kritischen Walter Benjamin Gesamtausgabe". Benjamins Bücher, die zu Lebzeiten erschienen sind und die, die zum Druck vorgesehen waren, erscheinen in einzelnen Bänden, was den Umgang mit und den Zugang zu seinem Werk erleichtert. Auch die Entscheidung, alles von Benjamin Geschriebene im Hauptteil zu präsentieren und keine Entwürfe oder Fassungen in den Kommentarteil zu verbannen, ist ein Plus der neuen Ausgabe. Sie ist entschieden Nutzerfreundlicher als die – man kommt nicht umhin, es zu sagen – verdienstvolle "alte" Ausgabe der "Gesammelten Schriften".
Die "Kritische Gesamtausgabe Walter Benjamin Werke und Nachlass" erscheint im Suhrkamp Verlag. Bisher sind drei Bände dieser Ausgabe erhältlich: 2008 erschien "Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik", herausgegeben von Uwe Steiner. Ebenfalls 2008 kam der von Momme Brodersen edierte Band "Deutsche Menschen" heraus und 2009 wurde der Band "Einbahnstraße" publiziert, den Detlev Schöttker unter der Mitarbeit von Steffen Haug herausgegeben hat. Die einzelnen Bände kosten zwischen 34,80 und 36,80 Euro.