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O herrliche Natur!

Rothaarsteig, Rotwein-Wanderweg, Lahnwanderweg - Wandern ist eine alte Kulturtechnik, die früher eine andere Bedeutung. Heutzutage stehen beim Wandern Erlebnis und Gesundheit im Vordergrund.

Von Burkhard Müller-Ullrich |
    Man kann nicht sagen, dass für die Wanderer nicht viel getan werde in Deutschland. Es gibt 200.000 Kilometer Wanderwege, die von 20.000 ehrenamtlichen Wegewarten markiert und gepflegt werden. Der Deutsche Wanderverband vergibt für diese Wege Prädikate, wie man es von Restaurants und Weinen kennt. Das "Wandermagazin" veröffentlicht ausgefeilte Routenvorschläge, die vorher getestet wurden, und das Deutsche Wanderinstitut erforscht die Vorlieben, Erwartungen und sonstigen Charakteristika des wandernden Volks.

    Wanderer sind zu einer Zielgruppe geworden. Wanderer werden vom Marketing umworben - nicht nur, was Strecken und Ziele betrifft, sondern auch und vor allem: die Ausrüstung. Schon das aller einfachste Naturerlebnis in Form eines Waldspaziergangs hat einen professionellen Überbau bekommen, der technisch und logistisch vom Mondspaziergang der NASA-Astronauten nicht mehr weit entfernt ist. Jacken, Unterwäsche, Strümpf' und Schuh' sind wahre High-Tech-Wunder, im Windkanal getestet, auf Abrollverhalten geprüft. Das Wandern ist längst nicht mehr des Müllers Lust, sondern eine Frage von Planung und Training, von Infrastruktur und Transportmöglichkeiten.

    Diese atemberaubende Industrialisierung des freizeitlichen Naturgenusses findet in einer Düsseldorfer Messe Ausdruck, die den ein wenig nach Sprachstörung klingenden Namen TourNatur trägt. Zugleich zeigt die TourNatur einen grandiosen kulturellen Paradigmenwechsel an, denn Wandern ist inzwischen in, nachdem es eine zeitlang total out war. Vor 20 oder 30 Jahren stand Wandern unter Ideologieverdacht. Mit dem Denkbild der Wanderschuhe assoziierte man ein muffiges Heimatgewese, eine deutsche Bodenfixiertheit, die - wie überhaupt die ganze Waldhaftigkeit der deutschen Kultur - zu den prekären Erbstücken der Romantik zählt.

    Tatsächlich ist nicht nur die Überhöhung der Wanderlust, sondern unser heutiges Naturempfinden überhaupt romantischen Ursprungs. Jahrtausendelang hat der Mensch die Natur gefürchtet, doch seit der Romantik liebt er sie. Die Natur wurde zu einem psychohygienischen Therapeutikum, von dem der sich vor sich selbst ekelnde Kulturmensch Erlösung erhoffte. Im Zeitalter des Burnout-Syndroms und anderer Zivilisationsgebrechen hat sich dieses Denken weiter radikalisiert. Seitdem sich kaum noch jemand den kirchlichen Entsühnungsritualen unterzieht, richtet sich eine geradezu hysterische Erlösungserwartung auf den Sport.

    Nur so ist zu erklären, dass sich Menschen massenhaft lächerlich machen, indem sie mit absurden Stöcken durch die Landschaft schreiten und andere Zweibeiner daran erinnern, dass jedes Laufen eigentlich ein kontrolliertes Falles ist. Nordic Walking, ursprünglich das Ergebnis einer genialen Marketingkampagne eines Stockherstellers, zeigt deutlich die ideologische Dimension des medizinisch motivierten Bewegungsdrangs: Die Stöcke sind magische Zeichen dafür, dass man etwas Gesundes tut.

    Solche Fetischisierung des Zubehörs entspricht der Fetischisierung der Gesundheit in unserer Gesellschaft generell. Heutzutage muss Gesundheit geleistet werden, und zwar in einem ganz umfassenden Sinn. Dazu gehören auch kosmetische Hübschheit und psychische Belastbarkeit - alles, was man braucht, um den modernen Halluzinationen körperlicher Selbstverantwortung gerecht zu werden. Bald werde es Wandern auf Krankenschein geben, verkündete der Chefredakteur des "Wandermagazins", Michael Sänger, bei der Eröffnungspressekonferenz der TourNatur.

    So befindet sich der ganze Sektor auf einer interessanten Schneide zwischen Anstrengungskultur und Genusskultur. Harald Schmidts Bildschirmpartner Manuel Andrack, der - zusammen mit Heino - die TourNatur eröffnete, ist ein strahlender Vertreter dieser Bewegung; gerade hat der zweite seiner launigen Marschberichte den Buchmarkt erreicht. Sein Stil spiegelt das Wahrnehmungsprinzip des Wanderers wider, dem Fernes und Nahes, Allgemeines und Persönliches, Plan und Zufall durcheinander gehen. Vielleicht ist das der wichtigste Effekt des sportlichen Spazierengehens: die Schulung der Aufmerksamkeit.