Freitag, 03. Mai 2024

Obdachlosigkeit
Nichts geht über eine eigene Wohnung

Wohnen ist ein Menschenrecht, doch in Deutschland steigt die Zahl der Menschen, die keine eigene Wohnung haben. 50.000 von ihnen leben auf der Straße. Um ihnen zu helfen, gibt es verschiedene Möglichkeiten.

20.01.2024
    Unter einer Unterführung in München sind Menschen. Einige von ihnen sitzen auf Matratzen.
    Arm in einem reichen Land: Kann die Bundesregierung ihr Vorhaben verwirklichen, die Obdachlosigkeit bis 2030 zu überwinden? (imago images / Wolfgang Maria Weber / Wolfgang Maria Weber via www.imago-images.de)
    Mehr als 600.000 Menschen waren laut Berechnungen der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e.V. im Verlauf des Jahres 2022 ohne Wohnung. Davon hatten 50.000 Menschen keine Unterkunft in Hilfseinrichtungen oder bei Freunden und Bekannten – sie lebten auf der Straße.
    Angesichts von Wohnungsknappheit und steigenden Preisen dürfte die Zahl von wohnungslosen und obdachlosen Menschen weitersteigen – trotz des von der Bundesregierung angestrebten Ziels, bis 2030 die Obdachlosigkeit in Deutschland zu überwinden. Einige Beispiele, wie Obdachlosen geholfen werden kann.

    Inhalt

    „Housing First“ als erster Schritt aus der Obdachlosigkeit

    „Nichts geht ohne eine Wohnung“, sagt Dierk Borstel von der Fachhochschule Dortmund. Der Professor für praxisorientierte Politikwissenschaften hat mit seinem Team 2019 zu Wohnungs- und Obdachlosigkeit geforscht. Er unterstreicht, dass die eigene Wohnung nur ein Anfang sein kann. Denn Wohnungslosigkeit ist „das Ergebnis eines krisenhaften Prozesses, nicht der Beginn“.
    Mit einer eigenen Wohnung könnten Antworten für die sehr individuellen Ursachen der Wohnungslosigkeit gefunden werden, so Borstel. Dafür steht der Ansatz von „Housing First“. Ein Vorbild dafür ist in Europa Finnland, wo Obdachlosigkeit stark gesenkt werden konnte. In vielen deutschen Städten wird der Ansatz versucht. So wurde beispielsweise ein Modellprojekt in Leipzig im vergangenen Jahr verlängert.

    Kompetente soziale Arbeit als Hilfe

    Die Gründe für Wohnungslosigkeit und Obdachlosigkeit sind sehr individuell, meist hängen sie mit persönlichen Schicksalsschlägen zusammen. Probleme werden durch die prekäre Lage verschärft, Diskriminierungen führen zudem zu schwindendem Selbstbewusstsein. Dierk Borstel von der Fachhochschule Dortmund spricht sich deswegen für eine „fähige, kompetente und gut ausgestattete soziale Arbeit“ aus, um den Betroffenen zu helfen.
    Hinzukomme eine „lebensnahe Kommunikation mit der Verwaltung“, sagt Borstel. Denn eine Wohnung hängt oftmals von staatlichen Stellen und Hilfsleistungen ab, wenn etwa Wohngeld oder Bürgergeld beantragt werden müssen. So könnten die Wege ins Wohnen erst wieder ermöglicht werden.

    Kältebus und Wärmestuben

    Viele obdachlose Menschen meiden Notunterkünfte, denn dort haben sie keine Privatsphäre, sind Gewalt ausgesetzt oder haben Angst vor Diebstählen und der Willkür des Personals. Außerdem sind solche Einrichtungen oft nach Geschlechtern getrennt, weswegen Paare sie nicht nutzen, oder die Mitnahme von Hunden ist verboten. Deswegen sind Orte wichtig, wo sich Obdachlose im Winter aufwärmen bzw. unkompliziert Hilfe erhalten können.
    In Wärmestuben gibt es neben warmen Getränken und Mahlzeiten auch sozialen Austausch oder Hilfsangebote. Dort können sich Menschen, die auf der Straße leben, im Sommer zudem der Hitze entziehen.
    Dagegen suchen Kältebusse die Orte auf, an den sich Obdachlose aufhalten. Dort können Bedürftige warme Getränke, Suppe, Hygieneartikel und Kleider bekommen. Kältebusse gibt es in vielen deutschen Großstädten, sie können von Passantinnen und Passanten für hilfsbedürftige obdachlose Menschen gerufen werden. Wichtig ist dabei, dass vorher nachgefragt wird, ob die oder der Betroffene die Hilfe braucht und überhaupt will.

    Respekt und eine solidarische Gesellschaft

    Obdachlose Menschen werden nicht nur übersehen, sie sind aufgrund ihrer Schutzlosigkeit von Gewalt bedroht und betroffen. Viele Übergriffe sind nicht bekannt, denn Obdachlose melden diese oft nicht. Betroffene berichten von Diskriminierung und Abwertung. Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e.V. hat 13 Todesfälle im Jahr 2022 gezählt, im Jahr zuvor waren es 18.
    Die Gründe für die Gewalt seien auch bei der hohen Inflation und hohen Mieten zu finden, denn dies führe zu Abstiegsängsten und Abgrenzung gegen Armut, vermutet Oliver Ongaro von der Hilfseinrichtung Fiftyfifty in Düsseldorf. Er spricht im Zusammenhang mit dem Erstarken rechter Parteien von „Sozialrassismus“. Wenn gegen Geflüchtete gehetzt würde, seien Obdachlose nicht weit davon entfernt.
    Der Dortmunder Forscher Dierk Borstel verweist zudem darauf, dass Obdachlosen kaum mit Respekt und ehrlichem Interesse an deren Lebenssituation begegnet werde. Das betreffe auch verantwortliche Stellen, die den Betroffenen helften solten.
    Momentan sei die Würde von Obdachlosen nicht geschützt. Bei der Frage, wie mit wohnungs- und obdachlosen Menschen umgegangen wird, zeige sich „die Qualität unserer Gesellschaft“, so Borstel: „Also wollen wir eine soziale und solidarische Gesellschaft sein?“

    rzr

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