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Obdachlosenzählung
Berlin will wissen, wie viele Menschen kein Zuhause haben

680.000 Menschen in Deutschland sind ohne Bleibe, 40.000 leben dauerhaft auf der Straße, hat die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe hochgerechnet. Berlin verzeichnet in den letzten Jahren einen deutlichen Anstieg und will jetzt selber nachzählen - mit Hilfe von tausenden Freiwilligen.

Von Anja Nehls |
In einem Hauseingang in Berlin schläft ein Obdachloser in einem Schlafsack.
Obdachloser in der Uhlandstraße in Berlin - die Konkurrenz um sichere und ungestörte Schlafplätze ist inzwischen groß (picture alliance / dpa / M. C. Hurek)
"Gut, dann kommen wir noch zu was Wichtigem: Architektur. Jetzt mögen sie schmunzeln, was hat denn Obdachlosigkeit mit Architektur zu tun, das erklären wir ihnen."
Christine Grote von der Berliner Senatsverwaltung für Soziales erklärt mehreren Dutzend Freiwilligen, worauf es in der "Nacht der Solidarität" ankommt. Denn zwischen 22 und 1 Uhr werden in dieser Nacht Ende Januar über 3700 Berlinerinnen und Berliner ehrenamtlich die Obdachlosen zählen, die in irgendeiner Form im Freien schlafen.
"Da bitten wir zu unterscheiden: Bank, Boden, Zelt, Hütte, Auto, Gebäude. Wenn Sie eine Person angetroffen haben, die sich befragen lässt oder die Sie sehen konnten und daher gezählt haben, dann würden wir Sie bitten, einfach einen Strich zu machen. Die Person, die ich gesehen habe, lag auf einer Matratze, das ist dann hier, Bank, Boden."
Berlin brachte 30.000 Menschen in Wohnheimen unter
Niemand weiß genau, wie viele Menschen in Berlin obdachlos sind und dauerhaft auf der Straße leben: zwischen fünf- und zehntausend schätzen Hilfsorganisationen. Bekannt ist nur, dass über 30.000 Menschen in Berlin keine eigene Wohnung haben und mit Hilfe der Behörden zum Beispiel in Wohnheimen untergebracht sind.
In der "Nacht der Solidarität" sollen nun alle statistisch erfasst werden, die sich alleine durchschlagen wollen oder müssen weil sie zum Beispiel keinen Anspruch auf soziale Leistungen haben. Die Träger der Notunterkünfte zählen deshalb ihre Gäste, die im Rahmen der Kältehilfe bei ihnen übernachten, die Berliner Verkehrsbetriebe in U-Bahnhöfen und die Freiwilligen zählen auf der Straße.
Freiwillige Helfer zählen die Obdachlosen
Einige Studierende sind dabei, viele der Helfer sind bei sozialen Trägern tätig. Sibylle Schöffler etwa, sie arbeitet für die Bürgerhilfe im Bereich betreutes Wohnen im Berliner Ortsteil Gropiusstadt:
"Da gibt es halt diesen großen Platz am Gemeinschaftshaus, wo halt auch tagsüber viele Wohnungslose auf den Bänken verweilen, wo man jetzt nicht weiß, ob die da nachts dann auch noch sind, denn ich arbeite ja tagsüber und bin da nachts nicht so unterwegs. Aber das finde ich jetzt auch mal ganz spannend, das zu wissen, wie viele Menschen sind da tatsächlich auch in diesem Bereich auf der Straße und das hat sich wirklich sehr gewandelt, es sind viel mehr osteuropäische Menschen auf der Straße."
Mit Fragebögen die Bedürfnisse ermitteln
Per Fragebogen sollen die Freiwilligen außerdem Alter, Geschlecht und Nationalität der Obdachlosen ermitteln und seit wann der- oder diejenige keine Wohnung mehr hat. Sozialsenatorin Elke Breitenbach von der Partei Die Linke:
"Wir werden anhand der Ergebnisse an den Zahlen in etwa wissen, wieviel Menschen leben wo in dieser Stadt auf der Straße. Und anhand dieser Ergebnisse werden wir gucken, wo müssen wir die Wohnungslosenhilfe umsteuern, was sind die Bedarfe und die Bedürfnisse der obdachlosen Menschen selbst, deshalb befragen wir sie. Sie sind Expertinnen und Experten in eigener Sache."
Wie die Berliner Reaktion auf die Zahlen konkret aussehen könnte, steht allerdings bisher nicht fest. Ob die meisten Obdachlosen gefunden werden und sich befragen lassen, bleibt ebenfalls abzuwarten.
Viele Obdachlose aus Osteuropa sprechen kein Deutsch
Viele der Obdachlosen kommen aus Osteuropa und sprechen kein Deutsch. Zwar sind die Fragebögen auch in anderen Sprachen verfasst, aber wie viele beantwortet werden, ist unklar. Viele der Menschen haben psychische Probleme, sind alkohol- oder drogenabhängig, oder können gar nicht lesen. Wieder andere würden als Obdachlose gar nicht erkannt werden, meint Klaus Seilwinder. Er hat selbst einige Jahre auf der Straße gelebt. Jetzt will er sich in der Nacht der Solidarität als Helfer engagieren.
"Mich hätte man damals auch nicht als Obdachlosen eingeschätzt, das hätte keiner gewusst. Viele wollen ja auch gar nicht an ihren Schlafplätzen entdeckt werden, das soll eben geheim bleiben, weil das ist auch eine Frage der Sicherheit, ich habe ja auch zugesehen, dass keiner mitkriegt, wo du eben bist."
Sensibles Vorgehen ist gefragt
Die Privatsphäre der Obdachlosen zu achten, ist für die Organisatoren und Helfer wichtig. Niemand wird zum Interview gezwungen, niemand wird aufgeweckt, keiner fotografiert, nur öffentlich zugängliche Grundstücke dürfen betreten werden. Abbruchhäuser und das Innere von Zelten sind tabu.
Dennoch ist Klaus-Peter Licht, der die Zählung seit Monaten organisiert, optimistisch. In einem großen Raum unter dem Dach der Sozialverwaltung läuft er über eine riesige am Boden liegende Karte von Berlin:
"Wir haben hier einen Stadtplan erstellt, 1:5000, der ist fünfmal elf Meter glaube ich, das heißt man kann jedes einzelne Haus erkennen. Und dann haben wir die Experten der Bezirke eingeladen zu jeweils einem Bezirksworkshop und dann haben die Fachleute auf die Pläne alles geschrieben, was sie zur Obdachlosigkeit wissen, also wo sind obdachlose Menschen, wo schlafen vielleicht viele im Auto, wo sind Zelte, wo ist eine Zeltstadt entstanden, wo sind auch Orte, die vielleicht in der Nacht gefährlich sein könnten, also wo sollte man kein Freiwilligen-Team hinschicken."
Kottbusser Tor und Bahnhof Lichtenberg
Das gilt zum Beispiel für die Gegend rund ums Kottbusser Tor oder den Bahnhof Lichtenberg. Auch aus Sicherheitsgründen sollen die Teams immer nur zu dritt oder viert unterwegs sein und dann in drei Stunden einen von über 600 extra gebildeten Zählbezirken ablaufen. 60 Zählbüros koordinieren die Helfer. Klaus-Peter Licht vermutet, dass es besonders bei den Zählungen in den Außenbezirken Überraschungen geben könnte:
"Vor einigen Jahren sah das noch anders aus, da war auch die Auffassung der Fachleute, Obdachlosigkeit, Straßenobdachlosigkeit ist vor allem innerhalb des S-Bahn-Rings und das hat sich deutlich verändert, dass auch obdachlose Menschen an den Stadtrand gedrängt werden.
Konkurrenz um sichere Schlafplätze ist groß
Unter anderem, weil die Konkurrenz um sichere und ungestörte Schlafplätze inzwischen groß ist.
Vorbild für die Berliner Aktion ist die Nacht der Solidarität in Paris, daher auch der Name. Nachdem die Ergebnisse der Zählung vorlagen, wurde dort zum Beispiel eine Übernachtungsmöglichkeit für obdachlose Frauen eingerichtet. In Paris werden die obdachlosen Menschen bereits zum dritten Mal gezählt, in diesem Jahr genau eine Nacht später als in Berlin. Ob in Berlin die Erfassung ebenfalls wiederholt wird, um ein genaueres Bild über die Entwicklung der Straßenobdachlosigkeit zu bekommen, steht bislang noch nicht fest.