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Oberflächlich anspruchsvoll

Der französische Choreograf Angelin Preljocaj hat bei den Ruhrfestspielen Recklinghausen erstmals das Ballet "Sonntags-Abschied" gezeigt. Die Musik steuerte kein geringerer als Karlheinz Stockhausen bei. Preljocaj verfehlt es, die Atmosphäre der Musik dazu zu nutzen, eine fremdartige Welt zu entwerfen.

Von Wiebke Hüster |
    Die Uraufführung "Sonntags-Abschied" beginnt mit einem faszinierend rätselhaften und schönen Bild. Die Große Bühne im Festspielhaus ist umstellt von zwölf übermannsgroßen, grauen Tafeln. Vor jeder dieser massiv wirkenden Stellwände steht ein Tänzer, unbeweglich wie eine halb in eine steinerne Nische eingelassene Statue. In Kopfhöhe entspringen auf den Wänden reliefartige Rosetten. Vor ihnen stehend sehen die Tänzer aus wie avantgardistische Nachfahren des Sonnenkönigs in Versailles. Um die Körperumrisse jedes Tänzers leuchten Hunderte winziger, in die Wand eingelassener Glühbirnen.

    Wenn sich der Vorhang öffnet, schimmern die reglosen, vom schwachen Schein der kleinen Lichter umflorten Körper wie geheimnisvolle Statuen eines seltsamen außerirdischen Kultes. Diese Art Esoterik von in die Moderne gebeamten Azteken mit Steckdosen könnte ausgezeichnet zu Karlheinz Stockhausens Musik passen, aber der Ton muss auf seinen Einsatz erst noch warten. Drei elegischen Frauenduetten hintereinander gibt Preljocaj in absoluter Stille Zeit, sich zu ausgedehnten Adagios zu entfalten. Erst mit dem Auftritt des vierten weiblichen Paars setzt auch die Musik ein.

    Stockhausen hat für Preljocaj eine ältere Komposition umgearbeitet. Ursprünglich für fünf getrennte Chöre geschrieben, transponierte er "Sonntags-Abschied" für den Computer. Jetzt klingen in der elektronischen Komposition nur noch ganz vereinzelt Frauenstimmen durch. Stattdessen heulen Klänge auf, die von durchdrehenden einarmigen Banditen stammen könnten. Diese computergenerierte Musik ist nicht neu in ihrem Ansatz, aber spannungsreich und fantasieanregend - sehr bühnentauglich also, sollte man meinen. Aber nach etwa der Hälfte des Stücks verliert die anfangs so geheimnisvolle Akustik an Spannung.

    Aus der Tatsache, dass Stockhausen hier mit fast ironischem Gestus etwas inszeniert, das die Klangkulisse einer intergalaktischen Geisterbahn sein könnte, macht der Choreograf so gar nichts. Aus der berückenden Anfangsszene allerdings auch nicht. Preljocaj verfehlt es, die Atmosphäre der Musik dazu zu nutzen, eine fremdartige, von ästhetischen Blitzen durchzuckte andere Welt zu entwerfen, deren Bewohner in einer reizvoll schwer verständlichen Sprache, dem Tanz, kommunizieren. Stattdessen reiht er in der Manier eines Eklektizisten aneinander, was bereits zu den Konventionen des zeitgenössischen Tanzes gehört. Von allem ein bisschen: Zärtliche gleichgeschlechtliche Duette kommen genauso vor wie erotische Begegnungen zwischen Mann und Frau, von vier Paaren parallel dargestellt. Die durchscheinenden hautfarbenen Trikots der sechs Frauen und sechs Männer verhüllen kaum etwas, geschmückt sind sie mit weißen Stoffrosetten. Besonders die Frauenkörper werden in ihnen mit durchscheinenden Brustwarzen und extensiv zum Publikum ausgerichteten gespreizten Beinen als Objekte erotischen Interesses inszeniert. Zu Ketten und schließlich einem scheinbar unauflöslichen Knäuel finden sich die Tänzer später zusammen. Doch selten choreographiert Preljocaj für das gesamte Ensemble. Wer nicht gebraucht wird, geht ab oder stellt sich vor einer der Wände auf und verrenkt sich dort in Zeitlupe. Am Ende steht jeder Tänzer wieder im Dunkeln in seinem beleuchteten Körperumriss.

    Als in der gleichen routinierten, leicht gelangweilten und oberflächlichen Weise geschaffen präsentierten sich die vorangestellten älteren Stücke. György Ligetis Musik rauschte förmlich am Ohr vorbei, so abgeschmackt und belanglos bewegten sich die beiden Kentauren-Darsteller in ihren knappen, lederumgürteten Beintrikots dazu. Schmusende Männeroberkörper auf imaginierten Pferdeunterkörpern sind schon eine sehr spezielle Fantasieleistung. Die beiden Frauen im Eingangsstück "Annonciation", Verkündigung, tauschten gar einen leidenschaftlichen Bühnenkuss miteinander.

    Seit mehr als 20 Jahren bespielt Preljocaj inzwischen mit solchen oberflächlich anspruchsvollen Stücke die größten Bühnen Frankreichs und Europas. Braver, durchaus gekonnter Barfußtanz von streng athletisch trainierten Tänzern exakt aufgeführt und mit prätentiösen Gesten leidenschaftlichen Ausdrucks durchsetzt, ohne dass man je wüsste, worin genau das Drama besteht. Angelin Preljocaj bleibt der Dekorateur unter den Avantgardisten.