Wer die Segel seines Erzählens derart entschieden setzt, der muß, um nicht Schiffbruch zu erleiden, sein Geschichtenschiff sicher manövrieren können. Doch erweist sich Baricco schnell als zuverlässiger Kapitän, der uns - als Passagiere an Bord gegangene - Leser zwar gelegentlich mit seiner überbordenden Redseligkeit rhapsodischer Redundanz schwindelig macht, dessen Garn jedoch, je länger er es spinnt, uns bestens amüsiert, unterhält und auch nachdenklich stimmt. Angesiedelt ist die Geschichte, die aus verschiedenen Erzählungen zusammengewebt wird, auf der Schwellenlandschaft zwischen Meer und Land, nämlich in einer Pension am Strand eines imaginären Landes. Hier trifft eine bunt zusammengewürfelte, skurrile Gesellschaft zusammen. Der kleinste, gemeinsame Nenner all dieser Charaktere ist ihr Verhältnis zum Meer: Ein Mädchen sucht Heilung, ein Forscher will es ermessen, ein Maler es auf Leinwand bannen, ein Seemann sucht Vergessen. Die Schicksale dieser Figuren werden auf vielfältige, einfallsreiche Weise von Baricco miteinander verknüpft, wodurch sich jeweils andere Perspektiven bei der Frage nach dem Wesen des Meeres ergeben. Im Zentrum des wogenden Hin und Hers steht jedoch, intrikat verknüpft mit der Gesamtkonstruktion, die dramatische Episode vom Floß der Medusa, dieser zum Mythos gewordene Schiffbruch, den Gericault malte und der bereits vor Baricco zweimal literarisches Ereignis wurde: Zum ersten nämlich in Peter Weiss' Ästhetik des Widerstands, zum zweiten in Julian Barnes' Eine Geschichte der Welt in 10 ½ Kapiteln. Während Weiss sich jedoch für eine bestimmte Rezeptionsweise von historischem Vorgang, Gemälde und Mythos interessierte und Barnes der Frage nachging, wie aus Katastrophen Kunst wird, verschiebt Baricco die Geschichte zurück ins Existentielle und Elementare. Ihn interessiert, inwieweit das Unfaßbare des Meeres auf die Psychologie und die Phantasien der Schiffbrüchigen ein- und nachwirkt.
Bariccos Märchen vom Wesen des Meeres könnte nun als altmodisches Unternehmen erscheinen, weil es die ziemlich obsolete Gattung des Kunstmärchens neu belebt und die Welt dieses Buchs mit ihren Kutschen, Prinzessinen, Segelschiffen, Gesellschaftsmalern und schrulligen Enzyklopädisten - aller zeit- und ortlosen Irrealität zum Trotz - deutlich im 19. Jahrhundert siedelt. Doch braucht der Erzählgestus des Märchens die Vergangenheit, die unwiderbringliche und also nicht mehr überprüfbare Versunkenheit, da es anders seine konstitutiven Unwahrscheinlichkeiten nicht zu legitimieren vermag. Zudem gewinnt das Ganze durch das Floß der Medusa-Motiv eine gewisse historische Bodenhaftung.
Die literarische Konstruktion freilich ist alles andere als altmodisch. Sie ist modern. Sie ist sogar, wenn denn noch einmal ins Nebelhorn dieses keineswegs unbrauchbaren Begriffs gestoßen werden darf, im besten Sinne postmodern. Denn Bariccos Märchen ist eine raffinierte Konstruktion aus dem Strand- und Treibgut zahlreichen Geschichten, Berichten und literarischen Traditionen. Diese Intertextualität und ein gelegentlich ins Essayistische drängender Erzählgestus erinnern an Milan Kundera, mehr noch an Italo Calvino, und aus den zahlreichen Meermotiven und -metaphern tauchen immer wieder Joseph Conrad und Herman Melville auf. Die ganze Melange gleicht einem Luftschloß, wie Almayer es sich in Conrads Roman phantasierte. Und so ist es nur konsequent, wenn Bariccos Pension am Meer Pension Almayer heißt.