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Oceano Mare. Das Märchen vom Wesen des Meeres.

Das Meer gehört seit Homer zu den unerschöpflichsten, poetischen Projektionsflächen, und die Grenzenlosigkeit der Ozeane ist immer noch eine der machtvollsten Chiffren für das Dasein. Melville überführte den Mythos des Meeres in die Moderne einer noch intuitiven Psychologie, indem er mit seinen gewaltigen Roman-Phantasmagorien den Meeresspiegel in einen Spiegel der menschlichen Seele verwandelte, damit die realen mit den imaginären Ozeanen kurz schloß und die Erfahrung innerer und äußerer Meere zur Grundvoraussetzung literarischer Produktion erklärte. "Warum", heißt es gleich zu Beginn von Moby Dick, "warum überlegte der arme Dichter aus Tennessee, als er unverhofft ein paar Silberdollar in die Hand bekam - warum überlegte er, ob er sich den Rock, den er bitter nötig hätte, kaufen oder für sein Geld lieber (...) an den Meeresstrand pilgern solle?" Weil bekanntlich, so Melville, Wasser und schöpferischer Geist auf ewig miteinander verbunden seien. Weil aber das Meer nie auszuloten, sondern immer nur neu zu er- und befahren ist, strahlt das Sujet nach wie vor ungebrochene Faszination aus - Romane, Erzählungen und Gedichte von Wasser und Meer strömen unablässig an die Gestade des Buchmarkts.

Klaus Modick |
    Der italienische Romancier Alessandro Baricco, der in Deutschland vor allem mit seiner gleichfalls meerbewegten Erzählung Novecento bekannt geworden ist, legt mit Oceano Mare nun ein Buch vor, das im Titel und, noch programmatischer, im Untertitel Das Märchen vom Wesen des Meeres den geradezu hybriden Anspruch anmeldet, das unauslotbare Verhältnis von Mensch, Meer und Literatur erschöpfend zu bestimmen. Und die für eine solche, sozusagen poetische Phänomenologie des Meeres entscheidenden und letzten Fragen werden auch sogleich aufgeworfen: "Wovon sprechen wir, wenn wir ,Meer' sagen? Sprechen wir von dem mächtigen Ungeheuer, das alles zu fressen imstande ist, oder von der Welle, die perlend unsere Füße umschäumt? Vom Wasser, das man in der hohlen Hand halten kann, oder von dem für niemanden sichtbaren Abgrund? Sagen wir alles mit dem einen Wort, oder verbergen wir alles in dem einen Wort?"

    Wer die Segel seines Erzählens derart entschieden setzt, der muß, um nicht Schiffbruch zu erleiden, sein Geschichtenschiff sicher manövrieren können. Doch erweist sich Baricco schnell als zuverlässiger Kapitän, der uns - als Passagiere an Bord gegangene - Leser zwar gelegentlich mit seiner überbordenden Redseligkeit rhapsodischer Redundanz schwindelig macht, dessen Garn jedoch, je länger er es spinnt, uns bestens amüsiert, unterhält und auch nachdenklich stimmt. Angesiedelt ist die Geschichte, die aus verschiedenen Erzählungen zusammengewebt wird, auf der Schwellenlandschaft zwischen Meer und Land, nämlich in einer Pension am Strand eines imaginären Landes. Hier trifft eine bunt zusammengewürfelte, skurrile Gesellschaft zusammen. Der kleinste, gemeinsame Nenner all dieser Charaktere ist ihr Verhältnis zum Meer: Ein Mädchen sucht Heilung, ein Forscher will es ermessen, ein Maler es auf Leinwand bannen, ein Seemann sucht Vergessen. Die Schicksale dieser Figuren werden auf vielfältige, einfallsreiche Weise von Baricco miteinander verknüpft, wodurch sich jeweils andere Perspektiven bei der Frage nach dem Wesen des Meeres ergeben. Im Zentrum des wogenden Hin und Hers steht jedoch, intrikat verknüpft mit der Gesamtkonstruktion, die dramatische Episode vom Floß der Medusa, dieser zum Mythos gewordene Schiffbruch, den Gericault malte und der bereits vor Baricco zweimal literarisches Ereignis wurde: Zum ersten nämlich in Peter Weiss' Ästhetik des Widerstands, zum zweiten in Julian Barnes' Eine Geschichte der Welt in 10 ½ Kapiteln. Während Weiss sich jedoch für eine bestimmte Rezeptionsweise von historischem Vorgang, Gemälde und Mythos interessierte und Barnes der Frage nachging, wie aus Katastrophen Kunst wird, verschiebt Baricco die Geschichte zurück ins Existentielle und Elementare. Ihn interessiert, inwieweit das Unfaßbare des Meeres auf die Psychologie und die Phantasien der Schiffbrüchigen ein- und nachwirkt.

    Bariccos Märchen vom Wesen des Meeres könnte nun als altmodisches Unternehmen erscheinen, weil es die ziemlich obsolete Gattung des Kunstmärchens neu belebt und die Welt dieses Buchs mit ihren Kutschen, Prinzessinen, Segelschiffen, Gesellschaftsmalern und schrulligen Enzyklopädisten - aller zeit- und ortlosen Irrealität zum Trotz - deutlich im 19. Jahrhundert siedelt. Doch braucht der Erzählgestus des Märchens die Vergangenheit, die unwiderbringliche und also nicht mehr überprüfbare Versunkenheit, da es anders seine konstitutiven Unwahrscheinlichkeiten nicht zu legitimieren vermag. Zudem gewinnt das Ganze durch das Floß der Medusa-Motiv eine gewisse historische Bodenhaftung.

    Die literarische Konstruktion freilich ist alles andere als altmodisch. Sie ist modern. Sie ist sogar, wenn denn noch einmal ins Nebelhorn dieses keineswegs unbrauchbaren Begriffs gestoßen werden darf, im besten Sinne postmodern. Denn Bariccos Märchen ist eine raffinierte Konstruktion aus dem Strand- und Treibgut zahlreichen Geschichten, Berichten und literarischen Traditionen. Diese Intertextualität und ein gelegentlich ins Essayistische drängender Erzählgestus erinnern an Milan Kundera, mehr noch an Italo Calvino, und aus den zahlreichen Meermotiven und -metaphern tauchen immer wieder Joseph Conrad und Herman Melville auf. Die ganze Melange gleicht einem Luftschloß, wie Almayer es sich in Conrads Roman phantasierte. Und so ist es nur konsequent, wenn Bariccos Pension am Meer Pension Almayer heißt.