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Ode an die Ehrlichkeit?

Mit seinem neuen Essay "Lüge als Prinzip" hält der Soziologe Wolfgang Engler ein Plädoyer für ein Mehr an moralischer Aufrichtigkeit unter Finanzjongleuren im globalisierten Kapitalismus. Nicht immer gelingt ihm das vollkommen überzeugend.

Von Wolfram Schütte | 21.12.2009
    "Aufrichtigkeit als Aufklärung für den sozialen Hausgebrauch befriedigt ein Bedürfnis, das unauslöschlich in uns allen steckt. (...) Damit kommen wir auf die Welt. Aufrichtigkeit ist Teil unserer Grundausstattung. Alles andere ist Faselei."

    Das sind klare Worte. Der 1952 in Dresden geborene Soziologe Wolfgang Engler, der seit 2005 Rektor der Schauspielschule "Ernst Busch" ist, geht in seinem jüngsten Buch "Lüge als Prinzip" von dieser anthropologischen Grundthese aus, wenngleich er, wie der Untertitel seines weit in die europäische Geschichte zurückgreifenden Essays konstatiert, die "Aufrichtigkeit im Kapitalismus" in einer prekären Verfassung sieht. Eben deswegen befinde sich der "allerneueste Kapitalismus" ja aber auch in einer weltweiten Krise des Vertrauensverlustes, behauptet der Ostberliner Soziologe.

    Dabei war einmal "Aufrichtigkeit" im privaten, persönlichen und familiären Leben ebenso wie im öffentlichen Raum sowohl die Lebens- als auch die Geschäfts-Grundlage der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer Ökonomie. Sie hat dieses Prinzip gegen die "lügnerische", höfische "Verstellung", sprich: die ritualisierte "Unaufrichtigkeit" des Adels in einem langen historischen Prozess der Emanzipation und Aufklärung durchgesetzt. Es war dies zugleich die Geschichte der bürgerlichen Individualisierung und (wie Kant forderte) des "Ausgangs aus selbstverschuldeter Unmündigkeit", die der Kulturhistoriker Engler ebenso kundig wie brillant im zentralen Teil seines Essays an vielen Beispielen nacherzählt und diskutiert. Dabei lässt er beim Erglänzen des aufklärerischen Lichteinfalls jedoch auch die Schattenseiten eines Tugendterrors im Namen der Aufrichtigkeit – vor allem in der Pädagogik - nicht aus den Augen.

    Ohne Paradoxien, Widersprüche und Übertreibungen, gegen die Engler als einzige Lösungsmittel immer wieder Lebenserfahrung und pragmatische Klugheit anführt, geht es auch bei dieser Dialektik der Aufrichtigkeit als einer Ethik menschlichen Zusammenlebens nicht ab. Idealistische Blauäugigkeit, Eindimensionalität oder blinden Moralismus kann man Engler bei seiner historischen Darstellung vom Aufstieg der Aufrichtigkeit bis zu ihrem heutigen Verfall in eine sich rigoros selbstverwirklichende "Authentizität" nicht vorwerfen.

    "Das kostbarste Firmenkapital besteht aus Vertrauen", das über Jahre und Jahrzehnte gewachsen ist: das galt für die Geschäftspraxis im "alten", gewissermaßen "seriösen" Kapitalismus. Dieser "aufrichtige" Kapitalismus war, in Englers Worten, eine "profitträchtige Bedürfnisbefriedigungsmaschine"; und solange sie "funktionierte", hätten alle an ihr Beteiligten Gewinn daraus gezogen. "Mehr oder minder" – würde jedoch ein Marxist Englers Idealbild korrigieren, in dem es keine "Ausbeutung" gibt. Aus diesem rational-pragmatischen, moralisch grundversicherten Kapitalismus, der einem von Adam Smith prognostizierten ökonomischen Paradies entsprach, seien wir erst kürzlich in die derzeitige Hölle vertrieben worden. "Alles begann", so lautet Englers Introitus der Schwarzen Messe des von ihm sogenannten "Abstrakten Kapitalismus" - : "Alles begann mit "der Heraufkunft und Machtergreifung eines neuen Unternehmertypus: des sozial frei schwebenden Finanzjongleurs. Er degradiert Produktion zum lästigen Umweg der Gewinnmaximierung und wälzt deren Risiken ebenso geschickt wie unbarmherzig auf den Endverbraucher ab".

    Zwar erklärt der Soziologe nicht, woher & warum dieser orts- & bindungslose "Unternehmer ohne Unternehmen" herauf gekommen sei. Nämlich aus einer weltweiten Akkumulation von überschüssigem Privat-Kapital. Den Sirenengesängen der Finanzjongleure folgte es nur zu gerne, weil sie durch extreme Risikofreude und spielerischer Lust am Wetten und Spekulieren ununterbrochene Wertschöpfung ex nihilo versprachen. Allerdings gingen dabei Vertrauen, Kontinuität und Seriosität flöten und durch strukturellen Betrug wurde die Lüge zum Geschäftsprinzip, bis keiner mehr das irrationale Universum dieses Casinokapitalismus durchschaute.

    An seiner Undurchschaubarkeit war aber kürzlich erst die "organisierte Verantwortungslosigkeit" des durchbürokratisierten Staatssozialismus zugrunde gegangen. Dessen ideologische Leerformeln "Plane mit! Entscheide mit! Regiere mit!" klingen im deregulierten Turbokapitalismus mit seinen flachen Hierarchien, der Dezentralisierung und Selbstorganisation operativer Teams vielversprechender. Individuelle Leistung in permanenter Konkurrenz & ohne moralische Skrupel zahlt sich nämlich unmittelbar aus: in Provisionen, Bonuszahlungen und Aktienoptionen auf den eigenen Betrieb. Das stärkt sowohl den Corpsgeist als auch die Simulation eines Unternehmer-Egos, dessen "sozialmoralische Enthemmung" jedoch Nutznießer wie davon Ausgenutzte in einem System kapitalistisch "organisierter Verantwortungslosigkeit" auf Gedeih & Verderb an einander bindet.

    Wolfgang Englers Plädoyer für ein Mehr an moralischer Aufrichtigkeit unter Finanzjongleuren im globalisierten Kapitalismus klingt dagegen wie das "Pfeifen im Walde". Ein versprengter Moralist des Bürgertums macht sich Mut.

    Wolfgang Engler: "Lüge als Prinzip. Aufrichtigkeit im Kapitalismus". Aufbau Verlag, Berlin 2009. 214 Seiten, 19.95 Euro.