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Ode an Odessa

"Die Fünf" ist mehr als 80 Jahre alt und erscheint nun in der Anderen Bibliothek erstmals auf Deutsch. Die Geschichte der fünf Geschwister einer reichen jüdischen Familie ist viel mehr als ein Familienroman. Auf schmalen 250 Seiten gelingt Vladimir Jabotinsky ein Meisterwerk, in dessen Zentrum Odessa steht.

Von Uli Hufen | 18.04.2013
    Es gibt Städte, die immer berühmt waren und es auch heute sind. Paris zum Beispiel oder London. Und es gibt Städte, die waren einmal groß und sehr bedeutend, und versanken dann in provinzieller Vergessenheit. So wie Odessa. Gegründet 1784 und erbaut von Italienern, Griechen, Franzosen, Russen und Juden stieg die Stadt am Schwarzen Meer innerhalb weniger Jahrzehnte zur europäischen Handels- und Kulturmetropole auf. Alexander Puschkin hielt Odessa schon 1823 für eine europäische Stadt, Mark Twain fand die flirrende Betriebsamkeit amerikanisch, der Italiener Concetto Pettinato schrieb 1913, Odessa sei nicht international, sondern a-national. Kurz danach war die Goldene Ära Odessas vorbei: Die Revolutionen von 1917, der Bürgerkrieg, Stalin und der Holocaust machten aus der internationalen Metropole Odessa ein sowjetisches Kaff. Ein fabelhaft schönes Kaff mit Charme und Geschichte, aber ein Kaff.

    Die Geschichte einer jüdischen Oberschichtfamilie
    Wer nun wissen wollte, wie Odessa war, bevor es ein Kaff wurde, der hatte in den letzten 100 Jahren zwei Möglichkeiten. Man konnte sich durch einen Berg historischer Fachliteratur wühlen. Oder man lass die "Odessaer Erzählungen" von Isaak Babel. Doch nun, fast 100 Jahre nachdem Babels Erzählungen erschienen, gilt es einen Roman anzuzeigen und zu preisen, der die Odessaer Erzählungen nicht nur aufs Großartigste ergänzt, sondern ihnen auch als Kunstwerk das Wasser reichen kann. Vladimir Jabotinskys "Fünf" entstand 1936, wenige Jahre vor Jabotinskys Tod, und erzählt die Geschichte einer Familie der jüdischen Oberschicht kurz nach 1900.

    "Fünf" heißt das Buch deshalb, weil es in der Familie Milgrom fünf Kinder gibt, mit denen der Erzähler, der mit Jabotinsky viele biografische Details teilt, nach und nach bekannt wird. Nun sind die diversen Milgroms für sich genommen schon faszinierend genug, aber wie jeder gute Familienroman erzählt natürlich auch Jabotinskys "Fünf" mehr als eine Familiengeschichte:

    "Aber eines ist sicher: Jene fünf sind mir nicht zufällig in Erinnerung geblieben; nicht nur weil ich Marussja und Serjosha sehr gern hatte und noch mehr ihre leichtsinnige, weise, leidgeprüfte Mutter - sondern weil in dieser Familie die ganze vorangegangene Epoche der jüdischen Russifizierung mit uns ihre - guten wie bösen - Rechnungen beglichen hat. Wie in einem Lehrbuch."

    Die älteste der fünf Geschwister ist die rothaarige Marussja, kühn gekleidet, noch kühner in ihrer Ausdrucksweise, "das beste Mädchen, das ich je getroffen habe", wie der Erzähler bemerkt.

    "Sie sind wundervoll Marussja, immer sagen Sie etwas, wofür ich Sie küssen möchte." -- "Ph, als ob das etwas besonderes wäre", entgegnete Marussja gleichgültig, "ohnehin gibt es auf der Deribassowka bald keinen einzigen Studenten mehr, der sich rühmen könnte, mich noch nie geküsst zu haben."

    Allerdings ist Marussja keineswegs ein leichtes Mädchen: Sie ist eine kluge, junge, moderne Frau, voller Neugier auf die Welt. Nur leider verteilt sie ihre Zuneigung und Zärtlichkeit mit der Gießkanne. So wie die Welt beschaffen ist, kann das nicht gut ausgehen. Dasselbe gilt für Marussjas Lieblingsbruder Serjosha - ein hochbegabter Draufgänger und Abenteurer, der, wie es heißt, 60 Jahre zu spät geboren ist. Dann sind da noch der rationale, strebsame Torik, der unstete Träumer Marko und die schöne, eiskalte Lika mit den abgekauten Fingernägeln und einem Ferdinand-Lassalle-Poster im spartanischen Zimmer.

    Das Poster des deutschen Arbeiterführers im Zimmer der Tochter eines reichen, assimilierten jüdischen Getreidehändlers ist nur eins von vielen kleinen Anzeichen dafür, dass die Zeiten sich ändern. Jabotinsky ist ein großartiger Stilist, der es meisterhaft versteht, den historischen Kontext anhand kleinster Details und in wenigen Sätzen klarzumachen. "Fünf" ist kein Schinken wie die "Buddenbrooks" sondern ein schmales Buch von 250 Seiten. Und doch ist das Bild der Epoche klar umrissen.

    "Monate vergingen. Ich verreiste und kam wieder und verlor die Familie Milgrom oft für lange Zeit aus den Augen. Von Zeit zu Zeit wurde irgendwo auf Gouverneure geschossen, wurden Minister getötet. Erstaunlich mit welch unverhüllter Freude diese Ereignisse von der ganzen Gesellschaft aufgenommen worden."

    Dann kommt die Revolution von 1905, plötzlich liegt der berühmte Panzerkreuzer Potemkin vor Odessa auf Rede, Pogrome drohen, die jüdischen Bürger bewaffnen sich. Und inmitten der historischen Umwälzungen kommen die Milgrom Kinder jedes auf seine Weise nach und nach unter die Räder. Jabotinsky erzählt die tragische Geschichte der Familie im typisch Odessaer Russisch, das Beisprengsel diversester Sprachen vom Jiddischen und Ukrainischen über das Italienische bis hin zum Deutschen enthält, und von Ganna-Maria Braungardt fabelhaft ins Deutsche gebracht wurde. Und wie von Zauberhand gerät Jabotinsky die tragische Geschichte der Milgroms zu einer Ode an seine Heimatstadt, ihre Straßen und Strände, ihre Cafes und Theater, an ihre Sprache, ihre Umgangsformen und ihre Rituale. Nicht zuletzt enthält "Fünf" einen Raubüberfall, wie er nur in Odessa denkbar ist und wie ihn sich Isaak Babel und sein Gaunerkönig Benja Krik nicht schöner hätten ausdenken können:

    Er überlegte noch einmal, dann lachte er und sagte: "Hören Sie, junge Leute: Wollen Sie fünfzehntausend haben statt fünftausend? Gehen Sie zu meinem Bruder Bejresch, zeigen Sie ihm ihre Kanonen und erleichtern Sie ihn um zehntausend. Danach kommen Sie zu mir: Wenn Sie mir seine Zehntausend zeigen, kriegen Sie meine Fünftausend."

    Sie machten große Augen; natürlich argwöhnten sie, dass er nach der Polizei schicken würde. Für den Rat vielen Dank, sie würden zu Bejresch gehen, aber das Geld bitte sofort auf den Tisch.

    "He", erwiderte er, "wenn man mit Ihnen redet wie mit Menschen, dann benehmen Sie sich nicht wie Abschaum! Ich stehe zu meinem Wort! Jeder Bankier in Odessa würde mir auf mein Wort hin ohne Unterschrift 50.000 geben, und Sie sind nur zwei Rotzlöffel. Verschwinden Sie oder tun Sie, was ich Ihnen sage. Ihre Pistolen? Ich pfeife darauf; wegen Bomben hab ich keine Angst. Aber wenn Sie mir das Vergnügen mit Bejresch machen, dann ist dieses "Ja" fünftausend wert."

    Warum aber erscheint ein Meisterwerk wie "Fünf" erst heute, fast 80 Jahre nach seiner Veröffentlichung auf Deutsch? Nun, die Antwort ist einfach: Vladimir Jabotinsky war zwar ein begnadeter Schriftsteller, Feuilletonist und Essayist, aber nur im Nebenberuf. Im Hauptberuf war Jabotinsky Politiker. Er gilt als einer der Begründer des modernen Zionismus und machte sich in den 20er und 30er Jahren einen Namen als radikaler Kämpfer für einen jüdischen Nationalstaat. In seiner Heimat Russland wurden seine Werke darum erst vor wenigen Jahren veröffentlicht.

    In Israel hingegen sind heute mehr Straßen und Plätze nach Jabotinsky benannt, als nach irgendeiner anderen Figut aus der israelischen oder jüdischen Geschichte. Jabotinskys Allianz der revisionistischen Zionisten aus den 20er-Jahren gilt als Vorläufer des heutigen Likud. Doch so umstritten der Politiker Vladimir Jabotinsky zeitlebens war und bis heute geblieben ist, daran dass der Schriftsteller Vladimir Jabotinsky ein großer Meister war, kann kein Zweifel bestehen. Dass sein Roman "Fünf" nun auch auf Deutsch vorliegt ist ein Fest, wie es in der Literatur und Buchwelt nur selten vorkommt.

    Vladimir Jabotinsky: Die Fünf. Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt, Die Andere Bibliothek, 268 Seiten, 36 Euro
    Diese Postkarte aus dem 19.Jahrhundert zeigt die Potemkinsche Treppe von der Altstadt Odessas zum Hafen
    Diese Postkarte aus dem 19.Jahrhundert zeigt die Potemkinsche Treppe von der Altstadt Odessas zum Hafen (Detroit Publishing Company)