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Odyssee der Habenichtse

Der Luxusdampfer Serpa Pinto war 1942 auf der Route Rio de Janeiro - Lissabon - New York unterwegs. Auf dem Weg nach Lissabon brachte die Serpa Pinto sogenannte Auslandsdeutsche "heim ins Reich", wo sie für Hitler in den Krieg ziehen wollten. In umgekehrter Richtung, auf der Fahrt nach New York, flüchteten Juden aus dem von Deutschland besetzten Belgien nach Amerika.

Von Henry Bernhard |
    "Das Schicksalsschiff" der belgischen Autorin Rosine de Dijn ist kein Buch über ein Schiff. Es ist ein Buch über die Passagiere des portugiesischen Ozeandampfers "Serpa Pinto", der im Jahre 1942 den Atlantik überquert hat. In beide Richtungen. Das Schiff ist für die Autorin das Vehikel, die Lebensgeschichten der Passagiere zu erzählen. Dabei ächzt es leider manchmal bedenklich in den Spanten. Denn die eigentlichen Geschichten, spielen in Brasilien, Belgien, Frankreich und Deutschland. Nur das Schicksal - oder genauer gesagt: Krieg und Nationalsozialismus - haben sie nacheinander auf dieses Schiff geführt.

    Rosine de Dijn beschreibt eine doppelte "Odyssee der Habenichtse": Zunächst die deutsche Auswandererwelle, die dem Ersten Weltkrieg folgte: Arme Menschen, von Krieg, Inflation, Not und Verzweiflung getrieben, gehen den Werbern aus Brasilien auf den Leim und setzen ihr Letztes auf die Auswanderung: Dort, im fernen Süden Amerikas, erhoffen sie sich einen Ausweg aus dem Elend. Anhand von konkreten Familienschicksalen werden die Hoffnungen, Mühen und Enttäuschungen besonders deutlich - auch im Konflikt mit den deutschstämmigen Brasilianern der früheren Ausreisewellen im 19. Jahrhundert.

    Nicht nur die ungewohnten Lebensbedingungen in dem tropischen Land machten den "Reichsdeutschen" in Brasilien das Leben schwer. Darüber hinaus verstanden sie die merkwürdige Sprache der Deutschbrasilianer nicht und fühlten sich nicht akzeptiert. Nicht selten begegnete man Neid und Missgunst, denn die Neuankömmlinge waren zum Teil gewandter, besser ausgebildet, hatten meistens schon eine Lehre hinter sich.
    Manch einer der Emigranten schiffte sich später noch einmal auf der Serpa Pinto ein. Als Rückwanderer, heim ins Reich, 1942.

    Die zweite Odyssee der Habenichtse beschreibt den bedrückenden Weg von Juden aus dem von Deutschland besetzten Belgien über Vichy-Frankreich, Spanien und Portugal bis in die rettende Freiheit, die USA.

    Die Besatzer nahmen die Vichy-Regierung in die Pflicht. Die nach Frankreich geflohenen Nazi-Gegner und auch die heimatlosen Juden waren Freiwild.
    Einzeln betrachtet sind dies zwei äußerst spannende und erschütternde Episoden der Emigration aus der von Kriegen zerrütteten und von mörderischen Ideologien gepeinigten Welt des 20. Jahrhunderts. Doch sie wollen nicht so recht zusammengehen. Zu fern sind die Geschichten voneinander, zu unterschiedlich, als dass das Schiff als belastbarer Dreh- und Angelpunkt der Geschichte ausreichen würde.

    Die Einzelgeschichten jedoch sind äußerst lesenswert und wären vielleicht jeweils für ein eigenes Buch gut gewesen. Da ist zum einen die Geschichte der sehr großen deutschen Gemeinde in Brasilien, die Konflikte zwischen Alt- und Neu-Emigranten, die sich wenig mischten - und schon gar nicht mit Brasilianern. Alle hießen sie weiter Hans, Fritz und Hilde; sie besuchten deutsche Schulen, deutsche Gaststätten, aßen, sprachen und sangen Deutsch und gründeten deutsche Vereine. Von Assimilation konnte keine Rede sein. Die ferne Heimat, Deutschland, blieb das Bezugssystem. Also auch die NSDAP, die 1928 einen brasilianischen Ableger gründete.

    Im schmucken Städtchen Blumenau mit seinen prachtvollen Fachwerkhäusern und traditionsbewussten Vereinen übernahm der viel gelesene "Urwaldbote" die Informations- und Werbearbeit für die NSDAP und orientierte sich in seiner antidemokratischen, antisemitischen und antikommunistischen Ausrichtung voll und ganz am nationalsozialistischen Gedankengut. Man bekannte sich politisch zur alten Heimat. Ab 1933 überschüttete der Volksbund für das Deutschtum im Ausland die deutschen Firmen und Schulen buchstäblich mit Propagandamaterial. Deutsche Schulen, Turn-, Gesangs- und Geselligkeitsvereine hissten selbstbewusst ihre Hakenkreuzflaggen.
    Die brasilianische Landesgruppe der NSDAP war die größte und bedeutendste im Ausland - und das schon Jahre vor der Machtübernahme der Nazis in Deutschland. Historiker gehen davon aus, dass etwa 80 Prozent der fünf Millionen Deutschstämmigen in Südbrasilien mit den Nationalsozialisten sympathisierten. Es gab allerdings auch eine rechtsextreme brasilianische Bewegung, den Integralismo. Es bleibt eine Ironie der Geschichte, dass ausgerechnet diese faschistische Gruppierung dem Deutschtum in Brasilien einen empfindlichen Schlag beibringen sollte. Der Grund lag im brasilianischen Nationalismus: Mit dem Aufstieg der Integralisten mussten die Deutschen immer mehr nationale Eigenheiten aufgeben: Ihre Schulen, ihre Muttersprache, ihre Vereine, ja gar ihre deutschen Vornamen und ihre politischen Aktivitäten - sogar die der NSDAP. Gleichzeitig kooperierte die brasilianische Geheimpolizei mit der deutschen Gestapo, wurde Juden die Einwanderung immer mehr erschwert.

    Im August 1942 beugte sich Brasilien jedoch dem amerikanischen Druck und erklärte Deutschland den Krieg. Es folgten Razzien und Internierungslager für die Deutschstämmigen - der endgültige Startschuss für die Rückreise vieler deutscher Emigranten via Portugal in die alte Heimat. Sie reisten mit der Serpa Pinto, dem Schicksalsschiff. Nach nur wenigen Tagen im Lissabonner Hafen lief die Serpa Pinto wieder aus - diesmal mit Hunderten jüdischer Flüchtlinge auf dem Weg nach New York, nur weg aus Europa, wo Verfolgung und Tod drohten.

    Seit Anfang des Krieges wurden die portugiesischen Reedereien dem Riesenansturm kaum noch Herr, und die Plätze auf den Dampfern waren zum Teil bis auf die nächsten neun bis zehn Monate ausverkauft. Die Postämter waren überfüllt. Die portugiesischen Beamten wussten oft kaum Rat. Briefe, Telegramme und "Kabel" aufgeregter Menschen wurden in allen möglichen Sprachen um die Welt geschickt. Und es ging immer nur um eins, um das Visum. Und man wartete. Immer wieder warten.
    Sehr lebensnah und berührend schildert die Autorin das Schicksal zweier jüdischer Familien aus Belgien, die sich auf der Flucht vor dem Rassenwahn der Nazis durch ganz Europa schlagen, immer in der Gefahr, von Denunzianten und Kollaborateuren an die Deutschen ausgeliefert zu werden. Rosine de Dijn gelingt eine präzise Schilderung des flämischen Antisemitismus, aber auch die Würdigung von Helden des Alltags, die vielen belgischen Juden das Überleben ermöglichten. Hier liegen die Stärken des Buches, hier sind persönliche Geschichten und die große Geschichte ineinander verwoben, was in anderen Teilen des Buches weniger gut gelungen ist. Noch einmal werden wir Zeuge nicht nur der Jagd auf Juden, sondern ihrer vorherigen systematischen Ausplünderung durch die deutschen Besatzer mit Unterstützung von Einheimischen.

    Wir lesen später, wie die nach Amerika emigrierten Juden nie richtig heimisch wurden, wie sie trotz beruflicher Erfolge an Trauer und Albträumen zerbrachen.

    Auch sie, die mit der Serpa Pinto den Teufeln entkommen war, konnte mit ihrem Schicksal keinen wirklichen Frieden schließen. Trennung von allem und jedem, Entwurzelung und Unsicherheit bestimmten ihr Leben. Sie war nie richtig weg. Sie ist nie richtig angekommen. Hitler hat ihr diese Einsamkeit auferlegt. Für immer. Am anderen Ende des Ozeans.

    Auch die aus Brasilien zurückgekehrten Zehntausenden Deutschen waren falschen Versprechungen aufgesessen: Das Deutschland, das sie vorfanden, war ein anderes als das der Propaganda; viele kehrten nach dem Krieg dem Verliererland Deutschland wieder den Rücken und kehrten nach Brasilien zurück.

    Die Serpa Pinto, die der Erzählung Struktur und Titel stiftet, kommt im Text erstaunlicherweise nur gelegentlich und eher am Rande vor. In diesen Passagen wird der Text oft schwammig, die Autorin fabuliert und fantasiert, weil es kaum Fakten gibt, die sie transportieren kann. Stattdessen: Viele Exkurse und ein mäandrierender Erzählstil. Ärgerlich ist zudem, dass manche Sätze wortgleich an mehreren Stellen des Buches auftauchen.

    Die einzelnen Familiengeschichten jedoch sind eine plastische Illustration für die Schrecken und Wirrnisse, für Irrwege, Hoffnungen und geplatzte Sehnsüchte der mörderischen Zeit des Naziregimes - auf beiden Seiten der Front.

    Henry Bernhard über Rosine de Dijn: "Das Schicksalsschiff". Die Geschichte der Serpa Pinto, die Juden rettete und Nazis aus Brasilien nach Europa brachte. Erschienen in der Deutschen Verlagsanstalt, mit 280 Seiten, für Euro 19,95.