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"Odyssee Europa" im Ruhrgebiet

Fernab von Griechenland lauten die Stationen der "Odyssee Europa": Moers, Oberhausen, Essen, Bochum, Dortmund und Mühlheim. Sechs Orte, sechs Autoren darunter Peter Nadasz, Christoph Ransmayer oder Roland Schimmelpfennig, sechs verschiedene Episoden der Odyssee – und das Ruhrgebiet bildet den örtlichen Rahmen.

Von Karin Fischer | 01.03.2010
    Der Mann am Check-In-Schalter zeigt lächelnd auf ein Foto, das zum Survival-Kit für meine persönliche Odyssee gehört: "Sie werden über einem Torbogen übernachten!" Der Gutshof aus dunklem Klinker steht für jene ländlichen Ecken des Ruhrgebiets, die es wieder zu entdecken gäbe – jenseits von Industriekultur und Arbeitersiedlungen, von gesichtslosen Einkaufszentren oder unendlich mäandernden Autobahnen. Zur Ausrüstung gehört eine Art altmodische Schatzkarte, eine Schlafmaske und ein Stück Knäckebrot in der Tüte mit dem Aufdruck "Schaf". Übrigens übernachte ich nicht über einem alten Torbogen, sondern in einem modernen Einfamilienhaus in Duisburg-Weedau, aber "Irren" ist ja ein Hauptmotiv dieser Theater-"Irrfahrt", bei der das Gastmahl und die Gastgeber zusätzliche Hauptrollen übernehmen.

    "Ich habe gerade auch eine kleine Odyssee hinter mir, bin im Stau gestanden auf der Autobahn, und das Grillo-Theater war auch nicht ausgeschildert." – Wo kommen Sie her?" – Na aus Dortmund, also praktisch von nebenan!"

    Ulrike, Grafikdesignerin, meine Gastgeberin. Sie hat Krapfen für mich gebacken, die wir im "Unperfekthaus" in Essen verspeisen, einem privat finanzierten Ort für Kreative, Künstler, Seminare et cetera. Im Gespräch werden auch gleich ein paar liebgewonnene Vorurteile zerstört – zum Beispiel das über das "graue" Ruhrgebiet:

    "Bei uns waren das nicht Zechen, sondern Hütten. Da hat man auch gutes Geld verdient, wenn man da Stahl abgestochen hat. Aber dadurch war die Luft zu meiner Zeit wirklich grauenhaft. Wenn man im Stadtteil Hochfeld die Wäsche raus gehängt hat, dann war die rot, weil die Kupferhütte soviel Dreck raus geblasen hat, dass die rot war."

    Vorher gab es aber schon das erste Stück, "Areteia". Der polnische Autor Grzegorz Jarzyna hat eine Familiengeschichte am Hof der Penelope geschrieben und mit düsteren Sound- und Lichteffekten eine stimmige Inszenierung geschaffen. Eine Coming-of-Age-Geschichte der Gewalt, deren einfache Botschaft er allerdings auch bedeutungsschwanger aufbläst: Töten ist erblich. Mythischer Fluch oder Wiederholungszwang – hier lässt jedenfalls Freud grüßen:

    Theater-Ton: "Ich will so sein wie du."

    Roland Schimmelpfennig hat auch die Ausweglosigkeit zum Ziel seiner Reise genommen und zeigt Odysseus im Hades. "Der elfte Gesang" konfrontiert ihn mit seinen Opfern, die ihre Geschichte selbst erzählen und sich im Traum neu entwerfen dürfen. Oder ihren Tod rückgängig machen wollen wie Achill:

    Theater-Ton: "Preise mir jetzt nicht den Tod, ruhmvoller Odysseus."

    Das Stück ist ein strenges Sprachwerk, das stark nach Homer klingt und das Lisa Nielebock ebenso streng und karg und fast statisch inszeniert hat. Dass Schimmelpfennig seinen Text Menschen von heute in den Mund legt – dem Mann vom Lottoladen, der übergewichtigen Frau an der Fleischtheke, dem Soldaten, dem Chirurgen – kommt in Bochum dabei zu wenig zum Tragen. So wirkt das Stück hermetisch und ohne jede Chance für Mehrfach-Spiegelungen, die ja mit gedacht sind.

    Sehr passend geht es danach aufs Schiff. Industrie-Areale, die im Dunkeln gespenstisch leuchten, sind die Schattenwelt des Ruhrgebiets. Auf dem Rhein-Herne-Kanal liegen selbst die Reklametafeln der Einkaufszentren als Leuchtbojen der Moderne weit hinter uns. Das Boot bringt uns durch eine Schleuse bis Oberhausen. Es wird gegessen, erste Erfahrungen werden ausgetauscht: Gibt es die weltbeste Currywurst wirklich in Wattenscheid Ost?

    "Kleine Umfrage zum Thema Currywurst, wo gibt es die beste?" – "In Köln Hauptbahnhof!"

    Die Männer, die uns im Stück von Enda Walsh begegnen, haben gerade ihre letzte Wurst gegrillt. Vier Homer'sche Freier leben in einem heruntergekommenen Swimmingpool vor Penelopes Villa und versuchen, die Dame ihres Herzens mit immer neuen Aktionen zu becircen. Dafür verabschieden Sie sich sogar vom Konkurrenzgedanken:

    Theater-Ton: "Es gibt eine neue Ordnung. Jetzt ist Zusammengehörigkeit angesagt. Jetzt hältst du die Fresse, hörst auf zu Trinken und machst mit!"

    Der irische Dramatiker Enda Walsh ist ein Profi seines Fachs, er hat ein schnelles, tolles Stück über Eitelkeit, Hass, Selbsterkenntnis, Männerfreundschaft, vor allem aber über die Liebe geschrieben, das in Oberhausen effektvoll, quirlig und manchmal zu laut über die Bühne geht, aber sicher gerne nachgespielt werden wird.

    Tag zwei der Theater-Odyssee beginnt in der Theaterhalle Moers, mit einer Reise durch verschiedene Bühnenräume und Kulturen. Emine Sevgi Özdamar lässt ein junges türkisches Mädchen, Períkizi, aufbrechen, nach Deutschland. Özdamar verknüpft die Odyssee mit Dichtung von Shakespeare bis Hölderlin, die armenischen Toten mit dem Integrationsdiskurs, türkische Tradition und deutsches Gutmenschentum. Es gibt Fantastisches wie sprechende Tiere und Realistisches wie Benimmregeln für die erste Gastarbeitergeneration:

    Theater-Ton: "In Europa laufen Sie bitte auf dem Bürgersteig rechts. – Wenn der Europäer nicht will, dass Sie sein Essen bezahlen, müssen Sie das akzeptieren. – Bitte klopfen Sie nicht an der Nachbartür, um Petersilie, Zwiebeln, Gabeln oder Löffel zu leihen, oder Tomatenmark. – Europäer machen nur Freitags und Samstags abends Liebe."

    Die Inszenierung von Ulrich Greb setzt den schwierigen Text kongenial um. Poetische Bilder, zeichenhafte Requisiten, gut erdachte, mit Kirchenbänken oder Pritschen wie im Asylantenlager ausgestattete Räume, die auch die Zuschauer in Bewegung bringen. In Moers findet das Theater-Erlebnis der "Odyssee Europa" statt.

    Wohl auch deshalb, weil an Peter Nadas' Text "Sirenengesang" jeder Regisseur hätte scheitern müssen. So auch Roberto Ciulli in Mülheim. Nadas hat kein Drama geschrieben, sondern ein wütendes Weltgedicht, besser vielleicht: Weltgericht. Zur Verhandlung steht die europäische Gewaltgeschichte samt aller Kriege und Revolutionen, an dessen Beginn das Homersche Gemetzel steht. Der ungarische Schriftsteller über die Erfahrung seiner Re-Lektüre der "Odyssee":

    "Das war erschütternd, denn ich habe sie jetzt ganz anders gelesen. Ich konnte das Gemetzel, das ständig veranstaltet wird, nicht mehr ernst nehmen. Ich habe Archetypen gesucht, was die europäische Geschichte ausmacht, in Verhalten oder Verhaltensweisen, männliche oder weibliche Rollenspiele, und damit habe ich den alten Text konfrontiert, auch in seiner Lächerlichkeit."

    Das geschichtsgesättigte Satyrspiel ist ein ganz neues Epos – und endet hinter dem Mülheimer Theater auf einer künstlichen Müllkippe. Daneben grasen Schafe auf einer Weide. Das Bild ist ein Schock, gerade noch wurden im Theater Frauen vergewaltigt, aber es wirkt. Das Knäckebrot aus dem Survival-Kit ist für die Schafe gedacht. Jan Liesegang von "raumlabor Berlin" erklärt diesen merkwürdigen Landschaftsgarten:

    "Das ist ja auch so eine romantische 19. Jahrhundertidee. Wir wollten das durch die Schafe noch verstärken, und man merkt dann gleich, dass man danach das Schaf auch isst, wie in der Odyssee, wo ja immer Schafe oder Rinder geschlachtet werden. Das war unser Anliegen, darauf hinzuweisen, dass das was man isst, auch geschlachtet wird."

    Nach einem überbordenden Gastmahl in einem alten Eisenbahndepot in Dortmund gibt es Christoph Ransmayrs Stück "Odysseus, Verbrecher" in schlanker, schöner Inszenierung. Ransmayr schildert Odysseus Heimkehr im politischen Kontext: Ithaka ist zugemüllt, Reformer sind an der Macht und verteilen die Pfründe neu. Athene ist Strandläuferin, die vom angeschwemmten Treibgut aus Schiffwracks lebt, ein Chor der Krüppel und Gefallenen kommentiert – in Dortmund strukturiert er den Abend mit schön-schrägem Falsett-Gesang.

    Alle Figuren haben papierene Masken auf, die optisch exakt in der Mitte zwischen antikem Kriegshelm und dem Mullbindenverband von Kriegsversehrten liegen. Die Inszenierung von Michael Gruner hebt das Stück einerseits wohltuend ins Abstrakte. Andererseits wirkt Jakob Schneider als gebrochener, heiser krächzender Jammerlappen-Odysseus doch zu maniriert.

    Die "Odyssee Europa" ist mit riesigem Anspruch an den Start gegangen: Homers Epos für heute neu zu erzählen und dabei das Theater neu zu erfinden, indem man den Zuschauer als Akteur in den künstlerischen Prozess einbindet. Tatsächlich ist die kulturinteressierte Bürgerschaft miteinander ins Gespräch gekommen, zum Beispiel über "Heimat". Dass der Theater-Marathon eine grandiose Überforderung darstellt, kann einfach konstatiert werden. Dieses Mal fand der Stau im Gehirn statt. Wobei im so mit sich selbst dissoziierten Zuschauer sicher eine charmante Übereinstimmung mit dem reisenden Odysseus liegt. Schade nur, dass die Kunst damit zur Insel wird, zu der man nicht heimkehrt, sondern an der man strandet. Was aber bleibt, sind große neue Texte und ein wichtiges Signal für die Theater der Region. Marietta Piekenbrock von "Ruhr.2010":

    "Für die Kulturhauptstadt ist es eines der wichtigsten Identitätsprojekte. Wir haben ja eine reiche Kulturhauptstadt, aber gerade ereignen sich vor unserer Haustüre ja große Warnkatastrophen, Wuppertal muss sein Theater schließen, Moers und Oberhausen leben in prekären Verhältnissen. Die 'Odyssee Europa' ist ein großes Signal und Manifest auch für die Theaterlandschaft in der Region."