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Öffentlichkeit für ein Tabuthema

Etwa zwölftausend Menschen nehmen sich jedes Jahr in Deutschland das Leben. Auf jeden tödlichen Verkehrsunfall kommen statistisch zwei Selbsttötungen, die Dunkelziffer ist bedeutend höher. Die meisten Suizide werden vorher angekündigt und - von der Umgebung nicht ernst genug genommen. Selbst Ärzte verkennen oft die Lebensgefahr, in der sich ihre Patienten befinden. Selbstmord ist immer noch ein Tabuthema. Es ins öffentliche Bewusstsein zu bringen ist ein Anliegen der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde.

William Vorsatz |
    "Du willst Dich umbringen, dann lies das mal hier." So beginnt im Internet ein anonymer Schreiber, der sich "Todesengel" nennt. Es folgen Hinweise zu diversen Giften und Tipps, wie diese aufzutreiben sind und ob sie auch effektiv genug töten. Gefährdete werden in solchen frei zugänglichen Online-Foren geradezu animiert, Hand an sich zu legen, und niemand greift ein, um sie zu schützten. Die komplette Einwohnerzahl einer durchschnittlichen Kleinstadt verschwindet jedes Jahr durch Selbsttötung, doch das Thema wird kollektiv verdrängt. Psychiatrie-Professor Jürgen Fritze von der Universität in Frankfurt:

    Die Gründe für das sich selbst Töten sind zu 60 Prozent Depression. Wobei erschreckend ist, das 90 Prozent dieser sich selbst tötenden depressiv Kranken in den 4 Wochen vor ihrer Selbsttötung mit irgendeinem Arzt Kontakt hatten.

    Der diagnostiziert dann verschiedene körperliche Symptome und behandelt diese vielleicht auch richtig. Allzu oft erkennt er jedoch nicht die darunter liegende Depression als wahre Ursache.

    Es ist zu verzeichnen, dass die Depression zunimmt. Jüngere Jahrgänge haben ein höheres Depressionsrisiko als ältere Jahrgänge. Also um es anders zu sagen: Jemand, der im Jahr 1920 geboren war, hatte über sein Leben ein geringeres Risiko, eine Depression zu erleiden, als jemand, der im Jahr 1980 geboren wurde.

    Warum das so ist, wissen die Experten noch nicht. Zu vielfältig sind die Wechselbeziehungen zwischen individueller Disposition und äußeren Faktoren. Manchmal geben alte Dokumente zufällig Aufschluss über kausale Zusammenhänge. So ist beispielsweise die Selbstmordrate in der DDR während des Prager Frühlings auffällig gesunken, und nach dem blutigen Ende um so steiler nach oben geschnellt. Neben Depressionen lösen auch Süchte und Schizophrenie Selbsttötungen aus. Hier scheinen äußere Faktoren eine stärkere Rolle zu spielen, als früher angenommen. Professor Peter Falkai, Klinikdirektor der Psychiatrie an der Saarland-Universität, verweist auf afrokaribische Immigranten in London. Die haben ein achtfach erhöhtes Risiko, an Schizophrenie zu erkranken:

    Da hat man sich natürlich gefragt, wo kommt denn das her. Und interessanterweise haben besonders solche ein erhöhtes Risiko, die nämlich in sagen wir Siedlungen wohnen, wo es vor allen Dingen Weiße gibt. Und der Schluss ist daraus, dass ein erhöhter sozialer Druck natürlich durchaus einen Risikofaktor darstellt.

    Detaillierte Untersuchungen der Uni-Klinik in Köln mit schizophrenen Jugendlichen bestätigen erneut den Verdacht, dass Schizophrenie auch durch Cannabis-Konsum auslöst werden kann. Wer regelmäßig Haschisch oder Marihuana raucht, hat ein vierfach höheres Schizophrenie-Risiko als ein Nichtkonsument. Schuld daran ist das körpereigene so genannte Cannabinoid-System. Normalerweise für den Abbau von Angst zuständig, wird es durch Cannabis angeregt. Bei schizophrenen Psychosen sind die angstlösenden Botenstoffe aber sowieso schon achtfach zu hoch konzentriert. Auch wenn die Psychose schon ausgebrochen ist, verschlechtert Cannabiskonsum den Verlauf der Schizophrenie weiter. Aber die aktuelle Forschung geht auch in den nano-Bereich:

    Wir haben in den letzten Jahren eigentlich nicht nur dieses Risiko identifiziert, sondern wir sind darüber hinaus, und können sagen, es gibt einzelne Risikogene. Die zweite Frage wird aber sein, es werden ja nicht einzelne Gene sein, wir werden ja nicht fünf oder DAS Depressions-Gen oder DAS Suizidalitäts-Gen haben, sondern 50 bis 100 Gene wahrscheinlich.

    Diese in ihrem komplexen Zusammenspiel zu verstehen, das ist Forschungsarbeit für die nächsten zehn bis fünfzehn Jahre. Um dann die genetischen Ursachen von Depression, Sucht oder Schizophrenie ursächlich zu beeinflussen, wo bisher lediglich Symptome kuriert werden. Aber schon heute könnten ein Gen-Check verraten, wer depressionsgefährdet ist. Risiko-Personen wären dann rechtzeitig in der Lage, den richtigen Umgang mit Konflikten zu trainieren. Denn hinter Depressionen stecken immer Gefühle von Ohnmacht. Depressive interpretieren Situationen falsch. Neue Reaktionsmuster funktionieren allerdings nicht von einem Tag auf den andern. Und wer akut depressiv ist, muss dies zunächst überhaupt erkennen. Professor Falkai:

    Mir geht’s dann schlecht. Selbst wenn ich sag, ich will nicht, das es mir schlecht geht, mir geht’s weiter schlecht. Das heißt man muss anerkennen, es gibt dort eine Ebene, die ist willentlich nicht beeinflussbar. Wenn ich das anerkenne, ist dann der nächste Schritt, wo kommt es her. Wichtig ist, zu gucken, sind die Symptome mindestens 14 Tage vorhanden, also nicht aus dem Bett kommen, seinen Kram nicht erledigen, schlechte Stimmung, grundlos über 14 Tage, muss nachgeguckt werden. Nachgucken heißt, einmal beim Hausarzt durch untersuchen, gibt’s irgend eine körperliche Erkrankung gibt’s eine Reihe von körperlichen Erkrankungen, die durchaus solche Symptomatiken machen, schwere Infekte zum Beispiel. Wenn da nichts ist, dann muss sozusagen ein Fachmann aufgesucht werden. Meines Erachtens ein Nervenarzt, auch von mir aus ein psychologischer Psychotherapeut mit der entsprechenden Erfahrung, d.h. jemand, der das Krankheitsbild Depression kennt, und der muss eine Therapie einleiten.

    Den meisten Erfolg verspricht eine Kombinationstherapie. Ausreichend dosierte und lange genug verabreichte Psychopharmaka. Bei leichten bis mittleren Depressionen auch pflanzlich, zum Beispiel Johanneskraut. Dazu magnetische Stimulationen der für Depressionen verantwortlichen Gehirnareale. Und das alles flankiert von einer Psychotherapie. In vier bis sechs Wochen muss es den Patienten besser gehen, sonst wächst die Suizidgefahr, weil zur Depression auch noch die hoffnungslose Gefühl kommt: niemand kann mir mehr helfen, also bring ich mich um.

    Website des Kompetenznetztes Depression: www.buendnis-depression.de

    Beitrag als Real-Audio

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