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Ökonom zu Unterschieden Ost-West
"Was in Ostdeutschland völlig fehlt sind die absoluten Spitzenreiter"

Woran liegt es, dass die Wirtschaft im Osten sich noch immer langsamer entwickelt als im Westen? Es fehle an überdurchschnittlichen Wirtschaftsräumen, wie es sie in Bayern und Baden-Württemberg gebe, sagt der Hallenser Ökonom Oliver Holtemöller. Es sollte daran gearbeitet werden, dass das Klima für Innovationen optimal ist.

Oliver Holtemöller im Gespräch mit Sina Fröhndrich | 02.10.2018
    Betriebsassistent Peter König präsentiert ein Glas mit recyceltem Altöl am 21.07.2014 in der Puralube GmbH in Elsteraue in Sachsen-Anhalt.
    Die Wirtschaft in Ostdeutschland entwickelt sich noch immer langsamer als im Westen (dpa / Jan Woitas)
    Sina Fröhndrich: 29 Jahre ist es her, dass die Mauer gefallen ist. 29 Jahre – und noch immer viele Unterschiede zwischen Ost und West. Die Wirtschaft wächst etwas weniger, es gibt mehr Arbeitslose – die Löhne sind niedriger. Sind Ost und West wirtschaftlich noch getrennt? Das habe ich Oliver Holtemöller vom Institut für Wirtschaftsforschung Halle gefragt. Viele Unterschiede, aber der Osten hat auch aufgeholt. Ist die Ost-West-Betrachtung unter wirtschaftlichem Gesichtspunkt noch zeitgemäß?
    Oliver Holtemöller: Die Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland bei der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit sind noch beträchtlich und werden auch noch lange fortdauern. Deshalb ist es auch nach mehreren Jahrzehnten immer noch sinnvoll, zwischen Ost und West zu unterscheiden. Die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit im wirtschaftsstärksten ostdeutschen Bundesland liegt immer noch unter derjenigen im wirtschaftsschwächsten westdeutschen Bundesland.
    Fröhndrich: Aber wenn wir uns mal die Arbeitslosenquote anschauen – im Osten liegt sie bei 7,6 Prozent, im Westen bei 5,3. Wenn wir jetzt aber zum Beispiel mal nur nach Bundesländern unterscheiden – da stehen etwa Sachsen und Thüringen besser da als Hamburg, Nordrhein-Westfalen oder auch das Saarland.
    Im Osten fehlen die Zugpferde
    Holtemöller: Der große Unterschied zwischen Ost- und Westdeutschland ist nicht das Vorhandensein von strukturschwachen Regionen. Es gibt sowohl in Ostdeutschland als auch in Westdeutschland Regionen, die als strukturschwach gelten und es gibt auch in Westdeutschland Regionen, in denen die Arbeitslosenquote etwas höher ist.
    Was in Ostdeutschland aber völlig fehlt sind die absoluten Spitzenreiter, also Wirtschaftsräume, wie wir sie in Bayern oder Baden-Württemberg oder auch in Hessen sehen, in denen die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit weit überdurchschnittlich ist.
    Wenn Sie sich angucken, was sind die Erfolgsrezepte im Osten, was sind die Bereiche, die besonders gut dastehen, dann kommen Sie auf Städte wie Jena, die sich prächtig und hervorragend entwickelt haben. Aber Jena liegt im Moment gerade etwas über dem Bundesdurchschnitt, beim Indikator Bruttoinlandsprodukt je Einwohner beispielsweise, während die westdeutschen Spitzenregionen bei diesem Indikator deutlich weiter vorne liegen.
    "Engpass-Faktor ist die demographische Entwicklung"
    Fröhndrich: Wie können wir denn in Zukunft solche Spitzenreiter, solche wirtschaftlichen Zugpferde im Osten überhaupt sehen? Was muss dafür passieren?
    Holtemöller: Der Engpass-Faktor in Ostdeutschland ist die demographische Entwicklung, verbunden mit der Qualifikation der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Wir haben einerseits immer noch im Osten eher Tätigkeiten, die nicht so hochwertig sind wie Tätigkeiten, die in Westdeutschland ausgeführt werden. Das trifft insbesondere zu für den Bereich der privaten Forschung und Entwicklung. Und das kann man stärken, indem man insbesondere die Universitäten besser aufstellt, so dass sie im Bereich, wo es um Spitzenforschung geht, wettbewerbsfähiger werden.
    Fröhndrich: Mal angenommen, wir würden jetzt die ostdeutschen Hochschulen besser ausstatten, wo gehen dann die gut qualifizierten Studienabgänger hin? Fehlen da nicht doch die Arbeitsplätze im nächsten Schritt?
    Holtemöller: Nein. Es geht darum, die Gründungsaktivitäten und die Innovationsaktivität aus den Hochschulen heraus zu stärken. Es ist wichtig, dass ein Teil der Absolventen einen Arbeitsplatz woanders finden wird. Auf der anderen Seite kommen aber auch Menschen von anderen Regionen an attraktive Standorte hinzu. Das ist ein Wechselspiel. Und auch Menschen, die hier in Ostdeutschland ausgebildet werden und anschließend eine Tätigkeit woanders aufnehmen, sind ein Gewinn für die Region, weil sie zu Botschaftern werden und woanders davon berichten, wie gut oder auch wie nicht gut die Zustände sind.
    Klima für mehr Innovationen schaffen
    Fröhndrich: Welche Rolle spielen denn da vielleicht auch große Unternehmen, wenn wir jetzt gar nicht so sehr an Innovationen denken, sondern eher an große Konzerne? Es gibt ja auch in Sachsen mit Siemens und mit VW Konzerne, die dort Niederlassungen oder Standorte haben. Rechnen Sie damit, dass wir da in Zukunft noch mal Ansiedlungen haben, oder glauben Sie, der Zug ist abgefahren?
    Holtemöller: Große Konzerne spielen vor allem eine Rolle, wenn wir uns über die Höhe der Gehälter unterhalten. Es ist richtig: Für den Befund, dass die durchschnittlichen Gehälter in Ostdeutschland noch niedriger sind als in Westdeutschland, spielt das Fehlen von großen Konzernzentralen eine wesentliche Rolle. Aber langfristig gesagt ist die Innovationstätigkeit, die Innovationsintensität ein wichtigerer Faktor, und bahnbrechende Innovationen finden nicht unbedingt in großen Unternehmen statt. Häufig sind das kleine Unternehmen, auch neu gegründete Unternehmen, und solche Unternehmen wachsen dann entweder, oder sie werden gekauft. Man sollte vielleicht in Ostdeutschland nicht darauf setzen, dass sich große Konzerne hier ansiedeln werden, sondern man muss sehr langfristig daran arbeiten, dass das Klima so ist, dass für junge Unternehmen, die neu gegründet werden, gute Wachstumsbedingungen vorherrschen.
    Fröhndrich: Wie sehr bremst da dieses Lohngefälle? Kann das aufgefangen werden durch vielleicht niedrigere Lebenshaltungskosten? Oder gilt das gar nicht? Jetzt hat das Statistische Bundesamt beispielsweise gesagt, dass im Osten wie Westen gleich viel ausgegeben wird für Miete und für Lebenshaltungskosten.
    Holtemöller: Na ja. Die Datengrundlage für den Vergleich der Lebenshaltungskosten in Ost- und Westdeutschland ist relativ schwach. Wir können darüber nicht allzu viel sagen. Wir wissen aber, dass der Unterschied bei den verfügbaren Einkommen zwischen Ost und West gar nicht mehr allzu groß ist, auch unter Außerachtlassung von dem Preisniveau. Das liegt daran, dass wir große Transferzahlungen haben über das Rentenversicherungssystem, aber auch Pendlereinkünfte, die das Lohngefälle und auch die immer noch höhere Arbeitslosenquote ein Stück weit ausgleichen. Auch das progressive Einkommenssteuersystem, das wir in Deutschland haben, der Länderfinanzausgleich, all das sind Dinge, die dazu beitragen, dass die Lebensqualität gemessen am Einkommen zwischen Ost und West gar nicht so weit auseinander liegt. Es geht tatsächlich um die Wirtschaftsstärke, um die Stärke des Standortes, innovativ zu sein, sich weiterzuentwickeln, und da sind Maßnahmen erforderlich, die an der Qualifikation der Menschen hier und an der Attraktivität für hochqualifizierte Zuwanderung ansetzen.
    Regionen brauchen mehr gleichberechtigte Chancen
    Fröhndrich: Jetzt haben Sie vorhin einen Punkt angesprochen. Da ging es darum, dass Menschen, die im Osten studiert haben, auch zu Botschaftern im Westen werden können. Wenn wir uns jetzt mal die Eliten in Deutschland anschauen, dann sind es noch immer wenige. Bei denjenigen, die mal DAX-Vorstand waren, sind es weniger als zehn, die aus dem Osten kommen. Fehlt diese Erfahrung in einigen Unternehmen vielleicht auch?
    Holtemöller: Wenn man sich diese Repräsentanzfrage anschaut, muss man auch noch ein bisschen die Altersstruktur im Blick haben. Natürlich brauchen Sie auch ein gewisses Lebensalter, um in die Führungspositionen zu gelangen, und da ist der Zeitraum, den wir jetzt wiedervereinigt sind in Deutschland, vielleicht doch ein bisschen zu knapp, um das abschließend zu beurteilen. Aber insgesamt muss natürlich mehr dafür getan werden, dass alle Regionen in Deutschland gleichberechtigte Chancen haben in der Repräsentation. Wir sehen ja zum Beispiel auch bei dem Standort von Bundesbehörden, dass da noch eine Unterrepräsentanz in Ostdeutschland vorherrscht.
    Fröhndrich: Wie ist denn Ihre Prognose? Sagen wir mal in 30, 40 Jahren, wo wird der Osten dann stehen und werden wir immer noch über Unterschiede sprechen?
    Holtemöller: Strukturelle Unterschiede zwischen den Regionen wird es immer geben. Vielleicht wird die Himmelsrichtung Ost-West dann nicht mehr ganz so bedeutend sein. Aber wir reden hier von sehr langwierigen Aufholprozessen. Sie können sich das als Referenzmaßstab mal innerhalb Westdeutschlands anschauen. Es ist auch in Westdeutschland selten, dass Regionen, die beispielsweise in den 1960er- oder 70er-Jahren strukturschwach waren, großartig aufgeholt haben. Es ist davon auszugehen, dass manche, insbesondere ländliche Regionen nicht weiter aufholen werden, und in Ostdeutschland sind Jena, Leipzig, Dresden, aber natürlich auch als Hauptstadt Berlin diejenigen Standorte, die langfristig die besten Voraussetzungen haben, noch weiter aufzuschließen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.