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Ölboom in Aberdeen

Aberdeen im schottischen Nordosten ist das Herz der Ölförderung in der Nordsee. Und der Öl-Branche geht es dieser Tage mal wieder glänzend. Also geht es auch in Aberdeen bergauf. Das Wohlergehen der Stadt ist wie kaum ein anderes an das Auf und Ab des Ölpreises gebunden. Martin Alioth berichtet.

    Die Kathedrale St. Mary’s in Aberdeen zählt die Stunden noch, im Gegensatz zu den meisten öffentlichen Uhren der aus Granit gebauten Stadt, die ermattet stillstehen; vielleicht ist ihnen der Alltag in dieser Ölstadt, dem größten Hafen Schottlands, wo der Ablauf der Zeit in Ölfässern gemessen wird, zu hektisch geworden.
    Die Ölfelder in der Nordsee beschäftigen etwa 140.000 Leute im Raume Aberdeen, in der Stadt selbst ist das ein Viertel aller Arbeitsplätze; dafür beträgt die Arbeitslosenquote nur zwei Prozent. Im Hafen werden Frachtgüter auf Lastwagen geladen; alles hier ist eine Nummer zu groß. Ankerketten türmen sich zu rostigen Gebirgen, jedes Kettenglied hat den Durchmesser einer Toilettenschüssel, denn sie müssen mobile Bohrinseln auch im Sturm vertäuen. Aber wie lange noch?

    Der steigende Ölpreis hat sich in Aberdeen als Lebenselixier entpuppt. Um Aufschluss über die Befindlichkeit der britischen Ölförderung zu bekommen, gibt es in Aberdeen eigentlich nur eine Adresse: Das bis zur Decke mit Papieren vollgestopfte, winzige Büro von Alexander Kemp, dem Ölprofessor Schottlands:
    "Die Ölförderung erreichte 1999 ihr Maximum und sinkt seither stetig. "

    So decke das Vereinigte Königreich gegenwärtig gerade mal seinen eigenen Bedarf an Öl; Gas dagegen muss bereits importiert werden, weil die Nachfrage für die saubere Stromerzeugung enorm angestiegen ist. Kemp hat ausgerechnet, dass in den letzten 40 Jahren etwa 36 Milliarden Fass Öl aus dem britischen Sektor der Nordsee gepumpt wurden. Gesichert seien Vorräte von rund 20 Milliarden Fass.
    "Aber wenn man die noch zu entdeckenden Vorkommen dazuzählt, da liegt grob gesagt noch einmal etwa gleichviel unter dem Meeresboden wie schon gefördert wurde."
    Aber die neuen Vorkommen sind durchwegs kleiner und daher kostspieliger. Trotzdem rechnet Kemp damit, dass das Nordseeöl auch noch in 25 Jahren sprudelt – wenn auch weniger reichlich.
    Der Aufschwung lässt sich überall hören und sehen; pausenlos starten und landen die Helikopter am Flughafen von Aberdeen. Alles ist knapp geworden: die Bohrinseln, die Versorgungsschiffe, die Arbeitskräfte und der Wohnraum. Im edlen Büro des Anwalts und Immobilienhändlers Tony Dawson im Stadtzentrum wird die Wirtschaftsblüte eifrig gemessen:
    "Seit einem Jahr explodierten die Preise, namentlich für Ein- bis Zweizimmerwohnungen."
    Der Kaufpreis liege oft 50 Prozent über dem Schätzpreis. Alle seien vom Ungestüm der Preisspirale überrascht worden.
    Der Brennpunkt des Wohlstandes liegt hier, im 800 Jahre alten Hafen von Aberdeen. Ein kleiner Fischkutter verlangt gerade Einlass vom Kontrollraum.
    Douglas Craig ist der wachhabende Offizier: 80% der Schiffbewegungen, schätzt er, dienen der Ölindustrie, und duetet auf ein Versorgungsschiff im Hafen.

    Vom Balkon des Kontrollraumes aus lässt sich die norwegische Island Patriot betrachten, ein bulliges Versorgungsschiff, das gerade in majestätischer Ruhe ausläuft. Was mag es zu den Bohrtürmen bringen?

    Vom Toilettenpapier bis zum Teelöffel, alles, dazu Trinkwasser, Zement und all die andern Chemikalien, die bei der Ölförderung gebraucht werden.
    In diesen Tagen ist schottisches Öl nicht nur Profit sondern auch Politik. Der britische Fiskus – also London – kassiert 50 Prozent Körperschaftssteuer von den Ölfirmen, das macht gegenwärtig immerhin etwa 15 Milliarden Euro im Jahr aus. Die schottische Regierung erhält keinen Penny davon, obwohl 90% der Vorkommen in ihren Gewässern liegen.

    Aber umgekehrt subventioniert London den üppigen Staatssektor in Schottland großzügiger, als das etwa in England der Fall ist. Der Streit während des Wahlkampfes dreht sich um die geheimnisvolle Frage, ob ein unabhängiges Schottland reicher oder ärmer wäre. Und: wie dauerhaft wären solche Rechnungen? Sicher ist nur eines: Ohne Öl wäre der Traum von der Unabhängigkeit bestimmt ein Verlustgeschäft.