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Oettinger: Frankreich und Italien "in keinem Fall" unter den Rettungsschirm

Die zweit- und drittgrößten Volkswirtschaften der Eurozone dürften nicht auch noch "Programmländer" werden, sagt Günther Oettinger (CDU), EU-Kommissar für Energie. Außerdem glaubt er, dass Fracking auf dem europäischen Energiemarkt nur eine "ergänzende Rolle" spielen wird.

Günther Oettinger im Gespräch mit Jörg Münchenberg | 03.03.2013
    Münchenberg: Herr Oettinger, Italien hat gewählt und ist erst einmal unregierbar geworden. Es gibt keine klaren politischen Mehrheiten im Augenblick. Zwei europakritische Parteien haben sehr viel Zulauf bekommen. Die Börsen reagieren nervös, der Euro ist ein bisschen eingeknickt, die Zinsen für die Staatsanleihen sind schon wieder gestiegen. Wenn man das jetzt alles überträgt auf die Eurozone: Drohen uns jetzt doch sehr unruhige Zeiten nach dieser Italien-Wahl?

    Oettinger: Wir haben in einigen Mitgliedstaaten Wahlergebnisse, die einen besorgt stimmen könnten. So war das mit Wilders vor der letzten Wahl in Holland, und da ist ja auch Ungarn oder Slowenien aktuell oder Rumänien. Aber Europa hat immer die Kraft gehabt, gemeinsam die Probleme zu bewältigen. Und ich traue auch Italien zu, jetzt nach der Wahl zu begreifen, welche Pflichten Italien einging – Thema "Two-Pack", "Six-Pack", Schuldenbremse. Und ich bin mir sicher, dass die Partei von Herrn Berlusconi nach der Wahl sich weit eher europragmatisch einstellen wird, als es vor der Wahl der Fall gewesen war.

    Münchenberg: Sie haben gerade eben andere Länder genannt. Nun ist aber Italien immerhin die drittgrößte Volkswirtschaft der Eurozone, also hat dann doch ein ganz anderes Gewicht. Hier geht es um ganz andere Größenordnungen.

    Oettinger: Das stimmt, ja. Aber es gibt in Italien in allen Parteien genügend kluge Köpfe, die wissen, dass der Reformkurs sich fortsetzen muss, ohne oder mit Monti, und dass Italien – hier schon erkennbar – in der Vergabe von Staatsanleihen aufpassen muss. Ich bin mir sicher, dass Italien regierbar bleibt, wie es in den letzten 60 Jahren der Fall war. Und der Staatspräsident ist ein kluger, erfahrener Kopf. Der hat nichts zu verlieren, der ist willensstark. Ich traue ihm zu, alles zu tun, dass eine pragmatische Regierungsbildung möglich wird.

    Münchenberg: Das heißt, Sie sind überhaupt nicht beunruhigt?

    Oettinger: Ich bin schon in Sorge, aber ich male nicht schwarz. Das Glas ist halb voll – ich sage halb voll und nicht halb leer.

    Münchenberg: Vielleicht sollte man das trotzdem ein bisschen aus Brüsseler Sicht aufarbeiten. Man muss ja sagen Brüssel, aber auch andere Hauptstädte, Berlin zum Beispiel, die haben sich doch sehr stark für Monti positioniert bei dieser Wahl, der war der Wunschkandidat. Die Europäische Zentralbank hat auch bevorzugt italienische Staatsanleihen aufgekauft. Das hat alles nichts genützt. Inwieweit, muss man sagen, ist dieser Wahlausgang doch auch eine Absage an den bisherigen Kurs, den Europa verordnet hat? Inwieweit ist das auch eine Ohrfeige für Brüssel und Berlin?

    Oettinger: Es ist eine Aufgabe geworden für demokratisch gewählte Abgeordnete. Herr Monti war – auf Zeit – ein Quereinsteiger. Und er wurde nicht bestätigt. Aber ich traue trotzdem den führenden Köpfen Italiens zu, alles zu tun, und Italiens Probleme zu lösen. Die Wirtschaft Italiens ist mehr denn je politisch geworden. Der Fiat-Chef, der Chef der Industrie – ich habe viele Köpfe in Brüssel kennengelernt aus der Wirtschaft und aus der Industrie, die sich aktiv einschalten würden, auch in dem weiteren Prozess. Hinzu kommt: Italien macht ja aktuell wenig neue Schulden. Das Problem ist die Altverschuldung. Wir haben in Italien eine geringere Verschuldung der Bevölkerung – mit die geringste Europas. Wir haben eine geringe Neuverschuldung und eine hohe Altverschuldung. Also braucht Italien ein paar Reformen, namentlich auf dem Arbeitsmarkt. Und da muss sich die Wirtschaft einschalten, die Konzepte liegen auf dem Tisch. Und ich bin verhalten optimistisch, dass es gelingt, in einer neuen Regierung – egal von wem getragen – den Reformprozess fortführt und nicht, was Monti begonnen hat, zu stoppen.

    Münchenberg: Aber muss es nicht auch ein Stück weit eine Neuorientierung in Brüssel selber geben? Dass man trotzdem mal überlegt, diesen Kurs, den man gefahren hat und der eben zum Beispiel in Italien doch auf klare Skepsis, um es mal freundlich zu formulieren, gestoßen ist – also muss nicht auch Brüssel sich neu positionieren und den Krisenländern auch ein Stück weit entgegen kommen? Wir haben die Diskussion ja schon lange. Der Vorwurf, der jetzt auch vom EU-Parlamentspräsidenten erneuert worden ist: Der Kurs, den Europa fährt – striktes Sparen, Reformen, das ist zu einseitig.

    Oettinger: Wir haben keine andere Wahl. Da kann man über eine Verlängerung um ein Jahr reden, wie es in Frankreich geschieht und in Spanien geschieht. Aber die Europäische Union hat mit ihren Mitgliedsstaaten jetzt fast 12.000 Milliarden Schulden. Der Betrag durch sechs Jahre geteilt, da Staatsanleihen im Schnitt sechs Jahre lang gegeben werden, dann werden pro Tag – pro Arbeitstag – etwa zehn bis zwölf Milliarden neu vergeben. Wir brauchen also neue Anleger. Jeden Tag müssen wir so gut sein, dass die Welt uns zehn bis zwölf Milliarden gibt. Und das geht nur, indem wir die neuen Schulden langsam gegen Null bringen und damit Vertrauen für die Altschulden und deren Umschuldung erhalten. Die Märkte sind unbarmherzig, denn Versicherungen aus Chicago und New York, Staatsfonds aus Peking und die Scheichs aus Arabien geben uns nur Geld, wenn sie uns vertrauen, dass wir es bedienen und zurück bezahlen. Und deswegen kann man über eine gewisse Verlängerung der Bremslinie reden, aber der Bremsweg muss dort hinführen, dass wir aus der Schuldenfalle herauskommen, und zwar jeder Mitgliedsstaat, auch Deutschland.

    Münchenberg: Sie haben auch andere Länder angesprochen. Spanien zum Beispiel – auch Frankreich – stehen vor großen Herausforderungen. Aber gerade aus Paris kommt die Forderung, eher auf altbekannte Konzepte zu setzen, die auch Geld kosten – in Richtung staatliche Beschäftigungsprogramme zum Beispiel. Hat man Ihrer Einschätzung nach in Paris wirklich erkannt, dass da dringender Reformbedarf besteht? Immerhin geht es da um die zweitgrößte Volkswirtschaft der Eurozone.

    Oettinger: Frankreich ist ein starkes Land und ein stolzes Land – La Grande Nation. Und sicher haben viele Franzosen noch nicht in dem Maße, wie es die Portugiesen, die Spanier, die Iren, die Griechen lernen mussten, anvisiert, dass ihr Land auch Reformbedarf hat, nämlich hin zur längeren Wochenarbeitszeit, hin zu längerer Lebensarbeitszeit, hin zu mehr Innovationen und zu wenigen neuen Sozialleistungen. Man könnte es auch in Produkten ausdrücken: Renault, Peugeot und Citroën sind derzeit auf dem Weltmarkt zu schwach. Und Frankreich hat zu wenig Mittelstand und keine duale Ausbildung. Also eigentlich muss Hollande genau das machen, was Deutschland unter Gerhard Schröder, auch ein Sozialdemokrat, gemacht hat.

    Münchenberg: Aber sehen Sie Anzeichen dafür, dass auch er dazu bereit ist, das auch politisch durchzusetzen?

    Oettinger: Ja, wir sehen Anzeichen. Es wurden ein paar falsche Entscheidungen getroffen, weil sie Wahlversprechen gewesen sind. Es wurden erste richtige Entscheidungen eingeleitet, und Hollande hat auch keine andere Chance, und er hat die Grundlage dafür. Er ist für fünf Jahre gewählt und er hat eine klare Mehrheit, wie kein zweiter Regierungschef in Europa – in beiden Parlamenten. Er ist unbeliebt, er kann nur noch unbeliebter werden. Aber er kann in drei Jahren beliebt zurückkehren. Das heißt, er muss einfach für sich eine Strategie entwickeln für seine Partei und sein Land, die heißt: Jetzt das machen, was nötig ist, jetzt zu sehen, auch wenn die Saat unpopulär ist, damit er vielleicht dann für eine Wiederwahl in vier Jahren Früchte ernten kann, die dann sichtbar werden. Diese lange Zeit hat kein anderer in Europa. Er ist eigentlich vor schwierigen Aufgaben, aber eigentlich ein glücklicher Mensch, weil er, wenn er will, ein Drehbuch hat, das ihm hilft.

    Münchenberg: Wie gefährlich könnte Frankreich für die Eurozone werden, wenn eben doch nichts passiert?

    Oettinger: Sehr gefährlich. Der Zweitgrößte im Verbund kann nicht noch ein Programmland werden. Unsere ganzen Rettungsschirme sind für Länder wie Irland, Portugal, Griechenland gestrickt, vielleicht sogar für die spanischen Banken, aber in keinem Fall für Frankreich, Deutschland, Italien.

    Münchenberg: Im Interview der Woche im Deutschlandfunk heute Günther Oettinger, EU-Energiekommissar. Herr Oettinger, lassen Sie uns ganz kurz einen Blick nach vorne werfen. Es sind 28 Länder, jetzt kommt ja das nächste Mitgliedsland auf die Europäische Union zu. Kroatien wird beitreten. Wird damit aber die EU nicht noch unregierbarer? Das ist dann noch ein Nationalstaat mehr mit eigenen Interessen, mit eigenen Vorstellungen. Wird das nicht noch alles komplizierter – und das vor allen Dingen in der jetzigen Krisensituation, die uns noch eine Weile begleiten wird?

    Oettinger: Wir müssen jetzt, glaube ich, als Nachkriegsgeneration schon einmal das Geschichtsbuch aufblättern. Der Erste Weltkrieg hat eine Ursache im Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn und in der Religionsgrenze zwischen Ljubljana, Zagreb und Belgrad. Und das Jugoslawien der Vergangenheit war ein kommunistisches Land mit vielen Kulturen und Religionen. Es war ein Kriegsgebiet. Und Slowenien ist Mitglied, Kroatien wird Mitglied. Serbien ist Beitrittskandidat. Das mag zwar alles Entwicklungshilfe sein, das heißt, es geht ums Geld. Aber es ist alles Geld in Richtung Friedenssicherung.

    Münchenberg: Aber auf der anderen Seite – Stichwort Rumänien, Bulgarien – werden die Stimmen immer lauter, die sagen: Dieser Beitritt 2007, der war viel zu früh!

    Oettinger: Der war früh, aber was in Sofia gerade geschieht, nämlich ein Aufstand wegen mangelnden wirtschaftlichen Erfolges, ist kein Thema Europas. Denn Bulgarien kam so früh, weil Korruptionen, Rechtsstaat und eine qualifizierte Verwaltung nicht ganz stimmte und nachgeholt werden muss, weswegen wir auch in Ungarn durch die Kommission eine Beobachtung durchführen. Nur, wenn ich mir anschaue, wie Herr Putin, den ich achte, die alte Hemisphäre wieder erneuern will, nämlich das Gebiet der Sowjetunion und der GUS-Staaten, da kann man doch sagen: Wäre Bulgarien damit außerhalb der Europäischen Union, dann wäre das Land längst wieder Richtung Moskau unterwegs. Und ich glaube schon, dass unsere Werte, europäische Werte – Rechtsstaat, soziale Marktwirtschaft, Meinungsfreiheit, Eigentumsschutz, Gewaltenteilung, unabhängige Gerichte –, dass dies allen angeboten werden muss und der Prozess dann sicherlich Jahre, Jahrzehnte dauert. Aber die Richtung stimmt, und Rückschläge muss man einkalkulieren.

    Münchenberg: Im Interview der Woche des Deutschlandfunks heute Günther Oettinger, EU-Energiekommissar. Herr Oettinger, lassen Sie uns hier einen gedanklichen Strich ziehen und mehr auf Ihr originäres Themenfeld schauen – Energie und auch Klimaschutz. Nabucco ist ja ein großer Traum der Europäer, sich mehr unabhängig zu machen von den russischen Gaslieferungen – diese Pipeline, die im Südosten Europas gebaut werden soll. Nun gibt es erhebliche Probleme, das Projekt kommt nicht so recht voran. Es soll ja ursprünglich 2018 mal fertig sein. Wie ist im Augenblick der aktuelle Stand?

    Oettinger: Die eigenen Gasvorkommen Europas gehen ihrem Ende entgegen, Großbritannien und Holland in 20 Jahren, und Fracking, das heißt Schiefergas, wird nur eine ergänzende Rolle spielen. Und die Vorbehalte sind sehr groß, leider, sehr groß. Also müssen wir unsere Gasstrategie weiter entwickeln. Die größten Gasvorkommen neben Russland liegen im Irak, Turkmenistan, Usbekistan und Aserbaidschan. Und 2018 haben Sie als Stichwort genannt. Wir werden 2018, das steht jetzt fest, nennenswerte Gasmengen aus Aserbaidschan über ein neues Pipelinesystem Aserbaidschan – Georgien – Türkei nach Europa bekommen.

    Münchenberg: Aber nicht unbedingt über Nabucco?

    Oettinger: Nicht unbedingt. Das wird Nabucco sein - also sprich Bulgarien, Rumänien, Ungarn, Österreich oder aber Griechenland, Albanien, Italien. Nur wenn wir einen Binnenmarkt haben für Gas und immer mehr Pipelines, die über alle Grenzen hinweggehen, ist mir eigentlich die Frage, ob das neue Gas, die neue Quelle nach Brindisi geht oder ob sie nach Wien geht, weitgehend egal.

    Münchenberg: Aber können Sie nicht trotzdem eine Prognose wagen? Das Problem sind die Lieferländer, da steht die Entscheidung in diesem Jahr aus. Wird es Nabucco überhaupt geben?

    Oettinger: Das Konsortium wird entscheiden. Das heißt, die, die im kaspischen Raum investieren, und zwar über 20 Milliarden, um das Gas zu fördern, die Verhandlungen laufen. Da habe ich als Kommissar neutral zu sein. Und noch mal, es ist in jedem Fall ein Fortschritt.

    Münchenberg: Sie haben das Thema Fracking vorhin schon einmal genannt. Das ist in Amerika ein enormer Erfolg, hat auch dazu geführt, dass der Gaspreis enorm gesunken ist. In Europa oder gerade in Deutschland ist es ein sehr heißes und heftig kontrovers umstrittenes Thema. Es gibt Bedenken auf der Umweltschutzseite, dass man sagt, wir wissen noch gar nicht, was für Auswirkungen das letztlich hat. Auf der anderen Seite verspricht es natürlich auch neue Gaspotenziale. Wie kann man da einen Mittelweg finden zwischen beiden berechtigten Interessen?

    Oettinger: Das Ganze ist ja Technik und keine Religion. Das heißt, wir sollten strenge Vorgaben machen. Zum Beispiel in Wasserschutzgebieten kommt es nicht infrage. Und ansonsten, Trinkwasser- und Grundwasserschutz geht vor. Aber das Grundwasser ist in drei Meter oder zehn Meter Tiefe und die Gasvorkommen sind in 1000 bis 5000 Meter. Und wir haben ja im Bergbau große Erfahrung, "Onshore" und "Offshore". Das heißt, ich rate uns, strenge Sicherheitsvorgaben zu machen, Standards vorzugeben, aber dann Demonstrationsprojekte zu ermöglichen. Da werden die Polen vorangehen, Ukraine vorangehen, Lettland, Litauen, Estland vorangehen. Und in Deutschland wird man das beobachten und mein Rat ist, sich jetzt nicht festzulegen. Es kann sein, dass man in fünf Jahren froh ist, entlang der nachweisbar erfolgreich und umweltverträglichen Bohrungen in Nachbarländern dasselbe bei uns auch zu machen und damit die hundertprozentige Abhängigkeit von Importen und hohen Kosten zu lindern und damit für bezahlbare Wärme- und Stromproduktion in Deutschland einen wichtigen eigenen Beitrag zu leisten.

    Münchenberg: Stichwort Innovation, da würde ich ganz gerne noch einen Punkt ansprechen. CO2-Handel in Europa, das gilt ja auch als Vorzeigeprojekt. Nun ist das Problem - es sind zu viele Verschmutzungsrechte im Umlauf, der Preis ist dramatisch gesunken. Das heißt, diese Lenkungswirkung, die man sich von diesem Instrument erhofft hat, die ist verpufft. Deswegen will die Kommission die Zahl der Zertifikate verringern. Reicht das letztlich aus, oder muss eigentlich nicht das gesamte System dieses Handels eigentlich neu auf neue Beine gestellt werden?

    Oettinger: Wir sollten unser Handelssystem für CO2-Emissionen erhalten. Es ist marktwirtschaftlich, es ist unbürokratisch, und eigentlich funktioniert es ja auch. Damals, als man es eingeführt hat, 2003 und 2005, gab es zwei tragende Argumente. Nämlich die C02-Emission um 20 Prozent zu verringern, wenn man die Emissionen 1990 zu dem, was in sieben Jahren erreicht sein muss, vergleicht, und zweitens kosteneffizient. Da ist eigentlich der Preis, egal ob 18, 14, sechs, acht oder drei Euro, egal, es funktioniert. Wir werden die 20 Prozent erreichen. Europa wird in sieben Jahren die CO2-Emissionen um 20 Prozent reduzieren. Deutschland liegt schon bei minus 25 Prozent. Das heißt, wenn wir grade mehr Kohle verstromen, dann werden wir von minus 25 vielleicht auf minus 23 Prozent zurückfallen, aber die 20 werden erreicht. Nur wir haben kein Preissignal. Das heißt, es gibt derzeit keinen Anreiz, in karbonarme Technik zu investieren. Wenn man dieses Argument dazu nimmt, dann ist unser Vorschlag wichtig, Backloading, nämlich Mengen vom Markt zu nehmen. Und wir sollten jetzt früh über ein neues Reduktionsziel für 2030 sprechen. Wenn Sie einmal anschauen im Verkehrssektor, die Forschung, oder aber im Energiesektor, Kraftwerke oder Windparks, das sind alles Investments für 20, 30, 40 Jahre. Also brauchen wir Investoren, und der Staat hat kein Geld. Es müssen private Investments sein, wir brauchen langfristige Klarheit und Planungssicherheit. Deswegen ist die Fortschreibung unserer Ziele und die Frage, welche verbindlichen Ziele gehen wir an, für das nächste Jahrzehnt die entscheidende Aufgabe.

    Münchenberg: Nun gibt es ja einen berühmten Brief, den Sie geschrieben haben letztes Jahr, an Volkswagen. Und in dem Brief stand drin, dass die Aussicht besteht, dass es eben 2025 keine noch strengeren Auflagen gibt für die Autoindustrie, was jetzt den C02-Ausstoß angeht, gemessen auf die Flotte und gemessen auf 100 Kilometer. Also, man wirft Europa oder der Kommission oft vor, doch zu wenig anspruchsvoll zu sein, dass man der Industrie doch zu stark entgegen kommt.

    Oettinger: Wenn ich einen Brief bekomme, beantworte ich ihn, egal ob von VW, Daimler oder von Greenpeace. Und wenn dann nachgefragt wird, dann haben wir in der Kommission perfekte Transparenz. Da werden alle Briefe veröffentlicht. Und wir haben mit der C02-Gesetzebung klare Ziele. Wir werden im Jahre 2015 bei 130 Gramm und im Jahre 2020 bei 95 Gramm sein.

    Münchenberg: Aber da gibt es im Augenblick eine Debatte über Ausnahmen, wie stark die Elektrofahrzeuge gewichtet werden. Man könnte ja auch sagen, das Ganze führt zu einer Verwässerung.

    Oettinger: Das stimmt. Aber da geht es um Innovationen. Wenn ich zum Beispiel Elektromobile mehrfach bewerte, ist der Anreiz durch Forschung, vielleicht auch durch Marktförderung, durch Steuererleichterung Elektromobile zu fördern, viel stärker. Und damit kommt eine Bewegung ins Spiel, die sonst nicht der Fall wäre.

    Münchenberg: Noch mal: Der Vorwurf lautet, durch die Mehrfachanrechnung der Elektrofahrzeuge wird das ganze Klimaschutz-Ziel letztlich doch verwässert, weil die Industrie eigentlich auch in der Lage wäre, das auf normalem, konventionellem Wege durchaus zu schaffen.

    Oettinger: Also, da kann ich nur eines raten: Wenn Sie Fahrzeugbau in Deutschland halten wollen, und Kleinstfahrzeuge werden auf Dauer nicht in Deutschland hergestellt werden. Wenn Sie also akzeptieren, dass es eine E-Klasse, eine S-Klasse, einen 5er-BMW oder auch einen Tuareg gibt, der in der Welt gekauft wird, aber in Europa eben auch da sein soll, dann werden wir gewisse Kompromisse eingehen müssen. Deutschland lebt vom Thema Fahrzeugbau und Zulieferung und Elektrotechnik. Und deswegen, das Ganze ist ein Mittelweg zwischen Industrie und Arbeitsmarktpolitik und Umweltpolitik.

    Münchenberg: Also wird es dazu kommen, dass Elektrofahrzeuge mehrfach angerechnet werden können, damit auch die deutsche Automobilindustrie mit ihren Oberklassenautos letztlich auch gut da steht und diese Klimavorgaben erfüllen kann?

    Oettinger: Es wäre klug, wenn wir die nächste Generation von Fahrzeugen, egal ob Brennstoffzelle, Wasserstoff, Hybrid, und das von einer Batterie angetriebene Auto mit Elektromotor mehrfach bewerten, damit den Durchbruch ermöglichen und dann in zehn Jahren dies ein Standard wird, der für alle bezahlbar wird.

    Münchenberg: Herr Oettinger, zum Schluss noch eine persönliche Frage: Sie waren ja auf beiden Seiten. Sie kennen als ehemaliger Ministerpräsident mehr die regionale Schiene, jetzt kennen Sie die internationale, die europäische Ebene, von der Sie aus Politik machen. Wo lässt sich mehr gestalten letztlich? Sozusagen eine vorgezogene Bilanz, weil nächstes Jahr in der Tat auch eine neue Kommission gewählt wird.

    Oettinger: Ich war liebend gerne in der Landespolitik als Abgeordneter und auch fast fünf Jahre als Regierungschef. Aber ich habe den Wechsel nie bereut und fühle mich in Brüssel, in Europa sehr wohl. Und was ich in Baden-Württemberg gelernt habe, Verwaltung, Vollzug von Gesetzen, wie müssen Behörden arbeiten oder auch wie werden Richtlinien umgesetzt oder wie wird ein Land verkörpert nach innen und außen, war für mich in Brüssel wichtig. Aber umgekehrt, man hat in Europa schon mehr Handlungsmöglichkeiten. Die Landespolitik wird immer mehr Vollzug und Repräsentation. Und das Management, die Geschäftsführung wird immer mehr von Berlin und von Brüssel aus kommen.

    Münchenberg: Aber es gibt auch den Vorwurf, Brüssel sei eine Art Raumschiff wie früher das Raumschiff Bonn, nur natürlich noch viel stärker potenziert. Brüssel sei zu weit weg von den Menschen. Auch diese Kritik ist ungerechtfertigt?

    Oettinger: Da ist immer was dran. Wenn Sie in Biberach Handwerksmeister sind, sagen Sie, die Bürokraten in Stuttgart. Wenn Sie in Stuttgart im Landtag sitzen, sagen Sie, die wichtigen Köpfe da in Berlin. Man schimpft immer gegen oben. Und wir haben die mediale Sprachgrenze. Das heißt, man kann in Deutschland Themen leichter erklären, als von Brüssel aus für alle Europäer mit 24 Heimatsprachen. Aber ich kann sagen, die Qualifikation der Beamten in Brüssel ist sehr, sehr hoch. Die Sachbezogenheit ist sehr stark. Parteien spielen keine Rolle. Vielleicht sind sie ein bisschen weg von produzierenden Betrieben, aber mein Arbeitsmonat ist zur Hälfte in Brüssel und zur Hälfte außerhalb, in Stuttgart, Düsseldorf, in Biberach, in Berlin, gestern in Aberdeen und in Edinburgh. Ich glaube, da tut man uns ein bisschen Unrecht. Aber noch mal, wenn die Lage schwierig ist, wenn eine Krise ist, dann schimpft man liebend gern gegen die oben oder die ganz oben, wie in Brüssel.

    Münchenberg: Herr Oettinger, vielen Dank.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

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