Heinlein: Darüber müssen wir gleich noch reden. Nur noch einmal die Frage: Warum ging das gestern auf einmal so rasch? Nur eine Stunde wurde verhandelt, dann die Einigung. Wurde da im Vorfeld unnötig viel Wind gemacht? Wurden die Dinge dramatisiert?
Özdemir: Nach wie vor muss man ein bisschen den Kopf schütteln, warum überhaupt der Ehebruchs-Paragraph ins Strafgesetzbuch aufgenommen werden sollte. Herr Erdogan hat sich da mit Sicherheit selber keinen Gefallen getan. Vor allem innerhalb der Türkei hat er damit ein bisschen dazu beigetragen, dass liberale Kräfte doch ein bisschen auf Distanz zu ihm gegangen sind. Das war das erste Mal, dass Herr Erdogan selber Schaden genommen hat in seinem Ansehen. Warum es aber so schnell ging? – So genau weiß es niemand. Offensichtlich hat sich in der Türkei auch die Vernunft durchgesetzt, und Herr Erdogan hat verstanden, was für ihn selber auf dem Spiel steht, was den ganzen Reformprozess angeht. Vielleicht war er sich ein bisschen zu sicher, was die Reformen und die Zusage aus Brüssel angeht. Es ist gut, dass ihm noch einmal deutlich gemacht wurde, die Türkei muss das Strafgesetzbuch reformieren, das in der Türkei ja aus den 30er Jahren, aus der Zeit Mussulini-Italien stammt. Gleichzeitig ist jedoch auch klar: Ehebruchs-Paragraphen, die sich in das einmischen, was im Schlafzimmer passiert, haben in einer modernen Gesellschaft nichts verloren.
Heinlein: Das Ganze riecht doch aber, so ein bisschen wie eine politische Inszenierung, um dann am Ende um so spektakulärer gestern die Einigung präsentieren zu können?
Özdemir: Ich argumentiere vom Ziel her. Das Ziel ist, dass sich in der Türkei die Demokratie durchsetzt, dass in der Türkei moderne Verhältnisse durchgesetzt werden. Unter dem Aspekt ist es erfreulich, dass diese Einigung zu Stande kam. Es wäre ein Treppenwitz der Geschichte gewesen, wenn der ganze schwierige Reformprozess nichts gebracht hätte – denken Sie an die Zypern-Frage, wo die Türkei ihren Kurs radikal revidiert hat, denken Sie an die Kurden-Politik, früher ein absolutes Tabu, heute ist es eben nicht mehr so; es gibt kurdisches Programm im Fernsehen; denken Sie an die Bekämpfung der Folter, wo die Strafen drastisch erhöht worden sind, auch wenn es nach wie vor leider Folterfälle in vielen Gefängnissen gibt. All diese Dinge wären aufs Spiel gesetzt worden wegen einem einzigen Paragraphen, wo Herr Erdogan sich stur gestellt hatte. Das glaube ich, wäre absurd gewesen. Ich glaube auch, die Verantwortung vor der türkischen Gesellschaft, die sich ja nun für ähnliche Werte einsetzt, wie wir es tun, auch der Respekt vor dieser türkischen Zivilgesellschaft, die seit Jahren für Demokratie, für Gleichberechtigung für Mann und Frau kämpft, hat es meiner Meinung nach nötig gemacht, dass wir hier bis zum Schluss gekämpft haben.
Heinlein: Folter ist ein wichtiges Stichwort in diesem Zusammenhang. Nicht nur die Union stellt die Frage: Kann ein Land EU-Mitglied werden, in dem trotz aller Reformen laut den Berichten von Menschenrechtsgruppen Polizeifolter noch immer gängige Praxis ist?
Özdemir: Ich glaube, niemand hat ernsthaft erwartet, dass innerhalb von zwei Jahren ein Land, in dem systematisch gefoltert wurde, auf ein Niveau kommt, wie es beispielsweise in der Europäischen Union ist oder sein sollte. Es wird eine Weile brauchen, bis jeder einzelne Polizeibeamte verstanden hat, dass die Zeiten sich geändert haben, dass es nicht nur Kosmetik ist, dass es nicht nur eine vorübergehende Modeerscheinung ist, was Ankara macht. Natürlich ist es wichtig, dass auch das Gesetz exekutiert wird, das heißt, dass jeder einzelne Missbrauchsfall verfolgt wird, dass jeder Polizeibeamte, der foltert, tatsächlich vor Gericht landet und im Zweifelsfall auch seine Strafe bekommt. Da hat die Türkei noch einiges zu tun. Ich kann aber auch verstehen, dass es nicht einfach ist, wenn man eine Bürokratie hat, einen Justizapparat hat, der zum Teil versucht Gesetze, die von Ankara verabschiedet werden, zu verhindern. Lange Rede, kurzer Sinn: Wir müssen der Türkei helfen auf diesem Weg. Wer jetzt die Tür zuschlägt, der wird nicht weniger Folter bekommen, sondern der wird wieder alte Zustände bekommen.
Heinlein: Also es gibt nach wie vor, wenn ich Sie richtig verstehe, diesen garstigen Graben zwischen Gesetzeslage und Lebenspraxis? Peter Hintze von der CDU hat es so formuliert.
Özdemir: Es gibt ihn in vielen Bereichen, genauso wie es ihn in Spanien, Portugal und Griechenland gab, als diese Länder eingetreten sind, und wie wir genau wissen auch in vielen Ländern Osteuropas. Ich bitte Herrn Hintze, keine anderen Maßstäbe an die Türkei anzusetzen wie gegenüber diesen Ländern. Sonst muss ich den Gegenvorwurf erheben, dass es offensichtlich darum geht, dass die Türkei die falsche Religion hat. Das hat aber mit den Werten der römischen Verträge, mit dem, wofür Europa steht, dann nichts mehr zu tun.
Heinlein: Wie steht es denn um die Pressefreiheit, um die Wahrung der Menschenrechte insgesamt im politischen Alltag der Türkei?
Özdemir: Es gibt in vielen, vielen Bereichen in der Türkei nach wie vor Handlungsbedarf. Dazu zählt sicherlich auch die Pressefreiheit, wenn Sie an die Bildung von Monopolen denken. Auf der anderen Seite hat sich in der Türkei eine sehr selbstbewusste Presse gebildet mit sehr selbstbewussten Journalisten. Gerade beim Thema Ehestreit konnte man sehen, wie scharf die Kritik am Ministerpräsidenten war, wie die Opposition ihre Rolle wahrgenommen hat, aber auch die Zivilgesellschaft. Denken Sie an die sehr vitale, sehr aktive Frauenbewegung. Wenn die Reformen ausschließlich von Ankara erfolgen würden, dann müsste man sich Sorgen darüber machen, wie tief sie verankert sind, vor allem ob sie bleiben bei schwierigen Zeiten. Das Gute ist, dass die türkische Gesellschaft diese Reformen auch übersetzt in den Alltag und selber auf die Straßen geht, Druck macht, damit Ankara im Zweifelsfall weitergeht.
Heinlein: Gibt es denn diese Zivilgesellschaft, diese Frauenbewegung auch in Anatolien und anderen entlegenen Provinzen des Landes?
Özdemir: Sie ist sicherlich auf dem kleinen Dorf nicht so stark, wie sie das in der Großstadt ist, aber auch das wird eine Weile brauchen, bis es so weit ist. Jetzt geht es erst einmal darum, dass diese Demonstrationen helfen, damit die Gesetze umgesetzt werden. Ich will ein Beispiel nennen: Schulpflicht in der Türkei gibt es seit vielen, vielen Jahren, aber es gab bislang so eine Art unausgesprochenen Konsens, dass im Südosten des Landes die Schulpflicht zur Erntezeit beispielsweise nicht so genau genommen wird und bei Mädchen sowieso nicht so genau umgesetzt wird. Das führte dazu, dass auf einmal in manchen Schulklassen so gut wie kein Mädchen saß, obwohl es auch in diesem Dorf ja offensichtlich Mädchen gab. Das ändert sich gegenwärtig. Der Staat hat erkannt: Wenn die Türkei eine Chance haben will zu konkurrieren, wenn die Türkei eine Chance haben will, nicht unterzugehen in Europa, dann braucht sie sehr gut ausgebildete Mädchen. Dazu gehört halt die Umsetzung der Schulpflicht und das passiert gegenwärtig so langsam.
Heinlein: Frage zum Schluss. Anfang Oktober kommt die Empfehlung der EU-Kommission. Was ist Ihre Erwartung? Wird darin klipp und klar stehen, wir fangen an, mit der Türkei über eine Mitgliedschaft zu verhandeln, oder wird es oder sollte es Einschränkungen geben?
Özdemir: Ganz so wird es nicht darin stehen vermute ich, sondern es wird darin die Empfehlung der Aufnahme von Beitrittsverhandlungen stehen. Danach wird aber eine lange Liste von Spiegelstrichen kommen, wo die Türkei noch nachbessern muss, wo sie noch einiges tun muss.
Heinlein: Der grüne Europa-Abgeordnete Cem Özdemir, vielen Dank für das Gespräch.