"Ich möchte doch nur ein Foto von dir. Das ist alles." Jo beugte sich über Leahs Hand und küßte weich und behutsam die Handknöchel. "Aber ich möchte es nicht", sagte sie."
Jo, die eigentlich Christiane heißt, vor dem Fall der Mauer aus der DDR geflohen ist und sich immer wieder an einen Eselsritt auf die Wartburg erinnert, mag keine Bilder. Gemeinsam mit Jeff leitet sie im Village - 254 Barrow Ecke West Street - ein Theater und als erstes hat sie seinerzeit den Probenraum zugemauert, um das störende Licht und die Stadt auszusperren. So lässt Antje Strubel die Geschichte ihrer Heldin, ohne sie dabei zu denunzieren, doch erkennbar mit einer Versündigung gegen die Natur beginnen, die nicht zufällig an das trauende Unglück in Goethes "Wahlverwandtschaften" gemahnt. Wo bei Goethe die naturwidrige Verbindung zweiter Seen das Schicksal herausfordert, hat hier das Unheil in der Abwendung von der Stadt seinen Anfang. Wie dort ist auch hier Leitmotivik und Metaphorisierung so zurückhaltend und kunstvoll gesetzt, dass die Symbolisierungen den Plot nicht ersticken, sondern im ganz Gegenteil seine Wirklichkeitsanmutung noch potensieren und aufladen.
Diese Fokussierung lässt die Begegnung Christianes mit der jüngeren Leah in der für beide fremden Stadt und inmitten jener internationalen community aus Journalisten, Touristen und entwurzelten Eigenbrötlern fast von selbst zu einer seltsam verhaltenen amourfou werden. Leah ist Photographin, stammt aus Marburg, und hat erst nach dem Fall der Mauer eine Weile am Prenzlauer Berg gewohnt, bevor sie nach New York kam. Für sie ist New York ein Erkenntnisgegenstand ihrer Exerzitien des Lichts:
"Die Haute Couture unter den Bildern sind nämlich die, auf denen man nichts Bewegliches mehr sieht. Absolut nichts. Keine Bewegung, obwohl sich während der Aufnahme alles bewegt hat. Du siehst nichts außer statischen Linien; Gebäude, Plätze, von denen die Menschen wie weggewaschen sind. Da muß man mit Dauerbelichtung arbeiten; fünfzig, sechzig Minuten, solange, bis schließlich alles, was sich währenddessen vor der Kamera bewegt hat, verschwunden ist. Damit könnte man die Straßen hier fotografieren und hätte am Ende keinen Menschen mehr auf dem Bild."
Mit langen Belichtungszeiten und großer Tiefenschärfe spiegelreflektiert die Autorin New York in ihren Roman hinein und tut in aller Gelassenheit dabei so, als ließe sich all das noch einmal erzählen: der chinesische Waschsalon und das Off-Off-Theaters in Brooklyn mit den Backsteinmauem und dem kalten Wind vom Hudson herauf, die Lederschwulen der Christopher-Street und das europäisierte Cafe im Village mit dem echten Espresso und der tuntigen Bedienung, wobei sie sich der Gefahren wohlbewusst ist: "Du hast wohl zuviel Auster gelesen" mosert die eine ihrer Heldinnen einmal über die andere. Antje Strubel gliedert dabei die Liebesgeschichte der beiden so unterschiedlichen Frauen in zwölf Kapitel, deren Titel wiederum andere Titel zitieren. Von Johnsons "Jahrestagen", über Maxi Wanders "Guten Morgen, du Schöne" und Michail Solochovs berühmtem Donkosaken-Roman "Neuland unterm Pflug", bis zu Christa Wolfs "Was bleibt" werden ostdeutsche Literaturkennmarken einerseits, mit Benjamins "Passagen", Antonionis "Blow up" und Roland Barthes "Die helle Kammer" westliche Bild-Ikonen andererseits aufgerufen und die Heldinnen so mit möglichen intellektuellen Biographien versehen. Diese Verankerung der Figuren ist notwendig, weil Antje Strubel so beiläufig wie möglich zeigen will, dass die Projektionen eigener Identität in Deutschland noch immer an jener dead line des Mauerfalls umgelenkt werden. "Offene Blende" erzählt eine Liebesgeschichte, die von den entsprechenden Brechungen bestimmt wird, und die Autorin verrügt über eine so lichtempfindliche Sprache, dass es ihr gelingt, auch winzigste Abschattungen abzubilden. Ihre Sprachkraft trägt nicht nur souverän durch die Geschichte, sondern durch feine Sprachkorrekturen setzt sie dieser auch immer wieder ganz besondere Glanzlichter der Genauigkeit auf. Da ist dann davon die Rede, wie jemand "die Tür zuklinkte", es wird eine Kassiererin im Supermarkt beschrieben, die "mit den Fingernägeln Zahlen in die Kasse geschnäbelt" habe, und "im Schlaf", heißt es, "halten sich die Ängste wie Gefrorenes". Diese Sprache speist sich unverkennbar aus Sehnsucht und kann nicht anders, als wundervoll von Liebe zu sprechen:
"Eine, die langsam und aufrecht näherkam, zwischen den beiden Bäumen hindurch und die Bluse verschwenderisch bis zum Brustansatz aufgeknöpft. Die Haut darunter eine schmale Orchidee. Sie griff der Frau in den Nacken, hastig vor Sehnsucht nach Berührung, umfasste mit beiden Händen ihre Gelenke, die Rippen, eine Gradwanderung: die Rippen der Nacht waren durchsichtig. Die Frau beugte den Nacken kaum merklich, im Einverständnis sich zu küssen; auf die Schulterblätter unter dem Satin der Bluse, auf die Nackenwurzel, unters Haar. Sie träumte vom langsam Aufknöpfen der Bluse, wie der Zeigefinger über die Haut ging. Sie waren beide ernst, zwei Schritte voneinander entfernt, mit geschminkten Lippen und konzentriert, als unternähmen sie eine Reiseplanung. Die Reise ging durch die kleine Kuppe des Zeigefingers. Sie träumte die Fährten der Frau, den Druck ihrer Lippen, das Risiko ihres blauen Satins, während sie Knopf für Knopf die Bluse löste, Liebhaberinnen der Langsamkeit. Einer endlosen Langsamkeit."
Nun ließe sich einwenden, dass - bei entsprechender Langsamkeit - alles schließlich endlos wird. Doch im Kontext der Photographie, und damit für die verliebte Leah, bedeutet dies: Bei einer endlos offenen Blende wird auch die Tiefenschärfe unendlich und damit die Kontur, die alles von allem abgrenzt, zum unüberwindlichen Todesstreifen. Nicht umsonst heißt selbst das Bier, das Leah trinkt, Corona. Ihr gehasstes Ideal der Helligkeit ist das Funktionieren der Welt im Sinne einer universalen Austauschbarkeit:
"Es war die Schattenlosigkeit der Dinge, die das Einfügen nahtlos möglich machte."
Ein Verlust jener klaren Konturen in der Dämmerung ist ihre größte Angst und Sehnsucht zugleich. Und so führt der Roman Leah zielgenau in jene twilight zone, in der endlich unentscheidbar ist, wo die eigene Haut endet und das fremde Leben beginnt.
"Der Mond, dachte Leah, immer war es der Mond, der die Sätze im Ungewissen enden ließ, nie die Sonne. Deshalb wurden Fotos, die nachts gemacht wurden, nie gut. Man mußte mit geborgtem Licht arbeiten wie der Mond, un die Bilder sahen alles gestellt aus und falsch. Man durfte sich selbst nicht trauen im Mond. Sich nicht und den Sätzen nicht, die gesagt wurden gegen die Wärme, gegen die Linien der Haut, die nur im Mond so ununterbrochen schienen."
Am Ende der Lektüre weiß man, dass die Ruhe dieses Erzählens sich aus der vollendeten Vergangenheit seiner Geschichte speist und aus einem Verhängnis, das nur abgewendet werden könnte, wenn es tatsächlich möglich wäre, ein Leben in ein anderes zu übersetzen. Denn natürlich ist es "Offene Blende" in vielfältiger Weise um "Übersetzung" zu tun. Um die unsichtbare zunächst, die sich hinter der Tatsache verbirgt, dass der Roman zwei Frauen deutsch sprechen läßt, die eigentlich englisch miteinander sprechen, weil sie ihre Herkunft voreinander verbergen. Dann um die Übersetzung von Bildern, und zwar nicht nur derjenigen, die Leah photographiert, sondern auch der, die die Schauspieler inszenieren, und schließlich um jene Bilder des Radarschirms, die Leahs Mutter als Fluglotin "liest". Und wieder scheinen die "Wahlverwandtschaften" im Hintergrund dieses Romanes aufzuleuchten, denn auch bei Goethes geht es darum, Bilder der Kunst richtig zu deuten und von Schauspielern inszenierte "lebende Bilder", und wie in jenem Roman fällt auch in diesem der Glanz auf die Dinge von jenseits des Todes. Und ein Glanz ist es in der Tat - ein manichäischer Licht-Glaube geradezu -, der diesen Roman bis zu seinem Schluß im wahrsten Sinn des Wortes erhellt.
"Sie steht eine Weile einfach nur da, hoch über dem Fluss und sieht den Möwen zu, die sich überall auf den glänzenden Bänken breitmachen. Der East River treibt Papierfetzen in Richtung der Südspitze Manhattans, wo sie ins offenen Meer gespült werden. In der Feme hebt sich die Brooklyn Bridge aus dem Dunst. Leah macht ihre Jacke zu, weil der Wind kalt ist, wenn er so direkt kommt. Hier, über der freien Wasserfläche hat er noch den Winter in sich, den Geruch nach Teer und Smog. Unter der Jacke spürt sie noch die Wärme der letzten Nacht, Umarmungen, die nichts mehr versprechen müssen. Sie sind ein Nachhall, wie das blaue Licht in der Straße; leicht und unfassbar. Das sich durch die Menschen atmet, und manchmal, wenn man Glück hat, bleibt es einen Moment länger."
Die Folie, auf der "Offene Blende" von dieser Stadt erzählt, ist die geborstene Mauer und damit in einem gewissem biblischen Sinne stets auch Jericho. Und so zeigt uns die Autorin die berühmte Silhouette nicht zufällig immer wieder vom Hudson und vom East River aus, über deren Wassern New York schließlich schwebt wie das himmlischen Jerusalem. Gern stellen wir es uns in dem "berühmten, blassen Licht" vor, von dem Antje Strubel ganz am Schluss spricht, und das die Stadt mindestens ebenso umfängt wie dieses Buch.
Jo, die eigentlich Christiane heißt, vor dem Fall der Mauer aus der DDR geflohen ist und sich immer wieder an einen Eselsritt auf die Wartburg erinnert, mag keine Bilder. Gemeinsam mit Jeff leitet sie im Village - 254 Barrow Ecke West Street - ein Theater und als erstes hat sie seinerzeit den Probenraum zugemauert, um das störende Licht und die Stadt auszusperren. So lässt Antje Strubel die Geschichte ihrer Heldin, ohne sie dabei zu denunzieren, doch erkennbar mit einer Versündigung gegen die Natur beginnen, die nicht zufällig an das trauende Unglück in Goethes "Wahlverwandtschaften" gemahnt. Wo bei Goethe die naturwidrige Verbindung zweiter Seen das Schicksal herausfordert, hat hier das Unheil in der Abwendung von der Stadt seinen Anfang. Wie dort ist auch hier Leitmotivik und Metaphorisierung so zurückhaltend und kunstvoll gesetzt, dass die Symbolisierungen den Plot nicht ersticken, sondern im ganz Gegenteil seine Wirklichkeitsanmutung noch potensieren und aufladen.
Diese Fokussierung lässt die Begegnung Christianes mit der jüngeren Leah in der für beide fremden Stadt und inmitten jener internationalen community aus Journalisten, Touristen und entwurzelten Eigenbrötlern fast von selbst zu einer seltsam verhaltenen amourfou werden. Leah ist Photographin, stammt aus Marburg, und hat erst nach dem Fall der Mauer eine Weile am Prenzlauer Berg gewohnt, bevor sie nach New York kam. Für sie ist New York ein Erkenntnisgegenstand ihrer Exerzitien des Lichts:
"Die Haute Couture unter den Bildern sind nämlich die, auf denen man nichts Bewegliches mehr sieht. Absolut nichts. Keine Bewegung, obwohl sich während der Aufnahme alles bewegt hat. Du siehst nichts außer statischen Linien; Gebäude, Plätze, von denen die Menschen wie weggewaschen sind. Da muß man mit Dauerbelichtung arbeiten; fünfzig, sechzig Minuten, solange, bis schließlich alles, was sich währenddessen vor der Kamera bewegt hat, verschwunden ist. Damit könnte man die Straßen hier fotografieren und hätte am Ende keinen Menschen mehr auf dem Bild."
Mit langen Belichtungszeiten und großer Tiefenschärfe spiegelreflektiert die Autorin New York in ihren Roman hinein und tut in aller Gelassenheit dabei so, als ließe sich all das noch einmal erzählen: der chinesische Waschsalon und das Off-Off-Theaters in Brooklyn mit den Backsteinmauem und dem kalten Wind vom Hudson herauf, die Lederschwulen der Christopher-Street und das europäisierte Cafe im Village mit dem echten Espresso und der tuntigen Bedienung, wobei sie sich der Gefahren wohlbewusst ist: "Du hast wohl zuviel Auster gelesen" mosert die eine ihrer Heldinnen einmal über die andere. Antje Strubel gliedert dabei die Liebesgeschichte der beiden so unterschiedlichen Frauen in zwölf Kapitel, deren Titel wiederum andere Titel zitieren. Von Johnsons "Jahrestagen", über Maxi Wanders "Guten Morgen, du Schöne" und Michail Solochovs berühmtem Donkosaken-Roman "Neuland unterm Pflug", bis zu Christa Wolfs "Was bleibt" werden ostdeutsche Literaturkennmarken einerseits, mit Benjamins "Passagen", Antonionis "Blow up" und Roland Barthes "Die helle Kammer" westliche Bild-Ikonen andererseits aufgerufen und die Heldinnen so mit möglichen intellektuellen Biographien versehen. Diese Verankerung der Figuren ist notwendig, weil Antje Strubel so beiläufig wie möglich zeigen will, dass die Projektionen eigener Identität in Deutschland noch immer an jener dead line des Mauerfalls umgelenkt werden. "Offene Blende" erzählt eine Liebesgeschichte, die von den entsprechenden Brechungen bestimmt wird, und die Autorin verrügt über eine so lichtempfindliche Sprache, dass es ihr gelingt, auch winzigste Abschattungen abzubilden. Ihre Sprachkraft trägt nicht nur souverän durch die Geschichte, sondern durch feine Sprachkorrekturen setzt sie dieser auch immer wieder ganz besondere Glanzlichter der Genauigkeit auf. Da ist dann davon die Rede, wie jemand "die Tür zuklinkte", es wird eine Kassiererin im Supermarkt beschrieben, die "mit den Fingernägeln Zahlen in die Kasse geschnäbelt" habe, und "im Schlaf", heißt es, "halten sich die Ängste wie Gefrorenes". Diese Sprache speist sich unverkennbar aus Sehnsucht und kann nicht anders, als wundervoll von Liebe zu sprechen:
"Eine, die langsam und aufrecht näherkam, zwischen den beiden Bäumen hindurch und die Bluse verschwenderisch bis zum Brustansatz aufgeknöpft. Die Haut darunter eine schmale Orchidee. Sie griff der Frau in den Nacken, hastig vor Sehnsucht nach Berührung, umfasste mit beiden Händen ihre Gelenke, die Rippen, eine Gradwanderung: die Rippen der Nacht waren durchsichtig. Die Frau beugte den Nacken kaum merklich, im Einverständnis sich zu küssen; auf die Schulterblätter unter dem Satin der Bluse, auf die Nackenwurzel, unters Haar. Sie träumte vom langsam Aufknöpfen der Bluse, wie der Zeigefinger über die Haut ging. Sie waren beide ernst, zwei Schritte voneinander entfernt, mit geschminkten Lippen und konzentriert, als unternähmen sie eine Reiseplanung. Die Reise ging durch die kleine Kuppe des Zeigefingers. Sie träumte die Fährten der Frau, den Druck ihrer Lippen, das Risiko ihres blauen Satins, während sie Knopf für Knopf die Bluse löste, Liebhaberinnen der Langsamkeit. Einer endlosen Langsamkeit."
Nun ließe sich einwenden, dass - bei entsprechender Langsamkeit - alles schließlich endlos wird. Doch im Kontext der Photographie, und damit für die verliebte Leah, bedeutet dies: Bei einer endlos offenen Blende wird auch die Tiefenschärfe unendlich und damit die Kontur, die alles von allem abgrenzt, zum unüberwindlichen Todesstreifen. Nicht umsonst heißt selbst das Bier, das Leah trinkt, Corona. Ihr gehasstes Ideal der Helligkeit ist das Funktionieren der Welt im Sinne einer universalen Austauschbarkeit:
"Es war die Schattenlosigkeit der Dinge, die das Einfügen nahtlos möglich machte."
Ein Verlust jener klaren Konturen in der Dämmerung ist ihre größte Angst und Sehnsucht zugleich. Und so führt der Roman Leah zielgenau in jene twilight zone, in der endlich unentscheidbar ist, wo die eigene Haut endet und das fremde Leben beginnt.
"Der Mond, dachte Leah, immer war es der Mond, der die Sätze im Ungewissen enden ließ, nie die Sonne. Deshalb wurden Fotos, die nachts gemacht wurden, nie gut. Man mußte mit geborgtem Licht arbeiten wie der Mond, un die Bilder sahen alles gestellt aus und falsch. Man durfte sich selbst nicht trauen im Mond. Sich nicht und den Sätzen nicht, die gesagt wurden gegen die Wärme, gegen die Linien der Haut, die nur im Mond so ununterbrochen schienen."
Am Ende der Lektüre weiß man, dass die Ruhe dieses Erzählens sich aus der vollendeten Vergangenheit seiner Geschichte speist und aus einem Verhängnis, das nur abgewendet werden könnte, wenn es tatsächlich möglich wäre, ein Leben in ein anderes zu übersetzen. Denn natürlich ist es "Offene Blende" in vielfältiger Weise um "Übersetzung" zu tun. Um die unsichtbare zunächst, die sich hinter der Tatsache verbirgt, dass der Roman zwei Frauen deutsch sprechen läßt, die eigentlich englisch miteinander sprechen, weil sie ihre Herkunft voreinander verbergen. Dann um die Übersetzung von Bildern, und zwar nicht nur derjenigen, die Leah photographiert, sondern auch der, die die Schauspieler inszenieren, und schließlich um jene Bilder des Radarschirms, die Leahs Mutter als Fluglotin "liest". Und wieder scheinen die "Wahlverwandtschaften" im Hintergrund dieses Romanes aufzuleuchten, denn auch bei Goethes geht es darum, Bilder der Kunst richtig zu deuten und von Schauspielern inszenierte "lebende Bilder", und wie in jenem Roman fällt auch in diesem der Glanz auf die Dinge von jenseits des Todes. Und ein Glanz ist es in der Tat - ein manichäischer Licht-Glaube geradezu -, der diesen Roman bis zu seinem Schluß im wahrsten Sinn des Wortes erhellt.
"Sie steht eine Weile einfach nur da, hoch über dem Fluss und sieht den Möwen zu, die sich überall auf den glänzenden Bänken breitmachen. Der East River treibt Papierfetzen in Richtung der Südspitze Manhattans, wo sie ins offenen Meer gespült werden. In der Feme hebt sich die Brooklyn Bridge aus dem Dunst. Leah macht ihre Jacke zu, weil der Wind kalt ist, wenn er so direkt kommt. Hier, über der freien Wasserfläche hat er noch den Winter in sich, den Geruch nach Teer und Smog. Unter der Jacke spürt sie noch die Wärme der letzten Nacht, Umarmungen, die nichts mehr versprechen müssen. Sie sind ein Nachhall, wie das blaue Licht in der Straße; leicht und unfassbar. Das sich durch die Menschen atmet, und manchmal, wenn man Glück hat, bleibt es einen Moment länger."
Die Folie, auf der "Offene Blende" von dieser Stadt erzählt, ist die geborstene Mauer und damit in einem gewissem biblischen Sinne stets auch Jericho. Und so zeigt uns die Autorin die berühmte Silhouette nicht zufällig immer wieder vom Hudson und vom East River aus, über deren Wassern New York schließlich schwebt wie das himmlischen Jerusalem. Gern stellen wir es uns in dem "berühmten, blassen Licht" vor, von dem Antje Strubel ganz am Schluss spricht, und das die Stadt mindestens ebenso umfängt wie dieses Buch.