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Ohne Atomstrom geht es nicht

Vergangene Woche hat die Europäische Kommision in Brüssel einen Gesetzesvorschlag zur Stilllegung von Atomkraftwerken präsentiert. Von einem Ausstieg aus der Atomenergie kann in Finnland hingegen nicht die Rede sein. Im Gegenteil: An der dortigen Westküste entsteht derzeit mit Olkiluoto 3 der erste Kernreaktor-Neubau in einem westlichen Industrieland seit der Katastrophe in Tschernobyl. Ein Beitrag von Stefan Tschirpke aus Helsinki.

31.10.2006
    Energiewirtschaftsmesse im südfinnischen Tampere. 250 Aussteller, Fachseminare, Meinungsaustausch. Ein besonders gefragter Gast ist Matti Purasjoki, der frühere Chef des finnischen Kartellamtes. Kürzlich hatte Purasjoki mit einem Gutachten über die Lage des nordeuropäischen und finnischen Strommarkts für Diskussionen gesorgt. Stromknappheit und Mangel an Wettbewerb, so der ehemalige Kartellamts-Chef, würden den Strompreis künstlich zum Nachteil der Verbraucher in die Höhe treiben. Zur Verbesserung der Situation sei es in erster Linie notwendig, unverzüglich die Weichen für mehr Atomenergie zu stellen.

    " "Was sind die Alternativen? Unsere Wasserkraftressourcen sind begrenzt. Auch Bioenergie hat ihre natürlichen Grenzen. Fossile Brennstoffe sind ein Umweltproblem. Atomstrom ist nicht unbedingt billig, aber es können mit einem Reaktor große Strommengen produziert werden und Atomenergie ist eine saubere Alternative.” "

    In Finnland entsteht bereits heute an der Westküste des Bottnischen Meerbusens Olkiluoto 3, ein neuartiger Druckwasserreaktor mit einer Leistung von 1600 Megawatt. Ursprünglich sollte Finnlands fünfter Reaktor, der von einem deutsch-französischen Konsortium gebaut wird, bereits 2009 ans Netz gehen. Doch wegen Qualitätsmängeln bei der Bauausführung und nicht eingehaltener Sicherheitsauflagen des Strahlenschutzamtes ist das Vorhaben um rund ein Jahr in Verzug geraten. Nach Auffassung von Greenpeace ist die Lage auf der Baustelle nicht unter Kontrolle. Energie-Experte Harri Lammi in Helsinki:

    ""Der Rückstand resultiert aus Qualitätsmängeln beim Gießen der Grundplatte. Erst kürzlich haben wir gehört, das Rohre des Primärkreislaufs neu gegossen werden müssen, weil nicht beachtet wurde, dass sie in den nächsten Jahrzehnten auch gewartet werden müssen. Was ist zu erwarten, wenn der Reaktor gebaut wird?”"

    Lammi fasst die Probleme des neuen Druckwasserreaktors in Olkiluoto so zusammen:

    " "Wir nennen dies einen in Finnland stattfindenden französischen Atomtest nach dem Motto: Schauen wir mal, ob es funktioniert und ob dieser neue Reaktortyp in der heutigen Marktsituation rentabel gebaut werden kann.” "

    Doch die Finnen lassen sich von den Schwierigkeiten in Olkiluoto nicht beeindrucken. Eine deutliche Mehrheit ist für den Ausbau der Kernenergie. Vor 10 Jahren ist die Ablehnung noch groß gewesen, aber das Blatt hat sich gewendet, sagt Purasjoki.

    " "Die Finnen sind sehr pragmatisch. Unsere Erfahrungen mit Atomstrom sind positiv. Mit der heutigen Technologie produziert, sind die damit verbundenen Risiken so minimal, dass es sich lohnt, sie einzugehen. Das entscheidende Argument ist die Sorge um den Klimawandel.” "

    In der Tat beruft sich die Industrie auch auf die Erfüllung der Vorgaben des Kyoto-Protokolls zur Eindämmung der Treibhausgase. Der neue Reaktor Olkiluoto 3 spielt bei der Kalkulation der Emissionsrechte für den Zeitraum 2008 bis 2012 eine wichtige Rolle.

    Aber vor allem braucht Finnland dringend zusätzlichen Strom. Seit Jahren wachsen Wirtschaft und privater Konsum. In den Wintermonaten werden Engpässe in der Stromversorgung befürchtet. Sämtliche Experten gehen von einem kräftigen Wachstum des Strombedarfs in den nächsten Jahren aus. Die Stromimporte, heute bereits 20 Prozent des Gesamtstrombedarfs, will die Regierung keinesfalls weiter erhöhen. Jukka Leskelä vom Verband der finnischen Energiewirtschaft:

    " "Der Stromverbrauch wird in Finnland jährlich um zwei Prozent ansteigen, bis zum Jahre 2020 auf rund 120 Terawattstunden. Wir brauchen mehr Kapazität.” "

    So verwundert es nicht, dass in Kreisen der Wirtschaft bereits für den Bau weiterer Reaktoren geworben wird. Matti Putkonen, Sprecher der einflussreichen Gewerkschaft Metall, macht kein Hehl aus seiner postiven Haltung zu mehr Atomstrom:

    " "Wenn wir auf Kohle und Öl verzichten wollen, wenn wir mehr Eigenversorgung anstreben, und nicht vor Russland in die Knie gehen wollen, dann brauchen wir - neben dem im Bau befindlichen Reaktor - noch zwei Reaktoren, um den prognostizierten Bedarf im Jahre 2020 decken zu können.” "

    Die Forderungen nach einem sechsten oder siebenten Reaktor haben die finnische Politik noch nicht erreicht. Zunächst muss die Industrie einen offiziellen Bauantrag beim Parlament stellen. Doch der Zeitpunkt für einen solchen Antrag ist noch nicht gegeben, denn im kommenden März wird erst einmal ein neues Parlament gewählt. Insider sind sich indess einig, dass sich das neu gewählte Parlament mit der Reaktorfrage beschäftigen wird. Jukka Leskelä vom Verband der Energiewirtschaft:

    " "Ich glaube, dass ein neuer Antrag gestellt wird. Interessant ist nur, welche Firmen dabei sein werden. Der finnische Energiemarkt ist offen. Hier kann jeder investieren, der es für sinnvoll hält.” "