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"Ohne den Wolf haben wir besser gelebt"

Vor fast 30 Jahren ist Liliane von der Küste in die Berge gezogen. Aus Liebe zu Schäfer Francis. Gemeinsam kümmern sie sich um die Tiere. Doch seitdem ein Wolf das erste Lamm gerissen hat, ist nichts mehr so vie vorher: Nachts werden die Schafe eingesperrt, tagsüber müssen die Schäfer aufpassen, dass kein Wolf angreift.

Von Simonetta Dibbern |
    Francis Loques ruft seinen Hund. Der alte Schäfer hat seine Herde heute nacht aus dem TineeTal heraufgebracht, zusammen mit seiner Frau Liliane. Die Bergweiden, die sie für den Sommer gepachtet haben, liegen direkt am Parc National de Mercantours. Einige sogar innerhalb des Nationalparks. Das Gras am Ufer des kleinen Bächleins ist saftig, es duftet nach Thymian, manchmal schreit ein Murmeltier. Die Sonne scheint. Schäfer-Idylle.

    "Das sagen alle, die hierher kommen in ihren schönen Autos : was für ein schöner Beruf. Aber die müssten mal ein paar Monate hierbleiben, zum Beispiel, wenn wir die Schafe im Frühjahr raufbringen aus der Provence in die Berge, 4 Monate waren wir unterwegs, bei Regen und Nebel, den ganzen Tag feuchte Klamotten, abends eine Suppe und man legt sich schlafen auf Stroh. Dies hier, das ist die hübsche Ansichtskarte, den Rest sieht man nicht."

    Liliane echauffiert sich, wenn es um ihre Berufsehre geht. Und um die Schäferwirklichkeit. Sie ist Ende fünfzig, eine runde humorvolle Frau, in schmutzig-weißem T-Shirt und dunkelblauen Leggings. Bergstiefel an den Füßen, einen Stock in der Hand. Vor 26 Jahren ist sie von der Küste hierher in die Berge gezogen - aus Liebe. Zu Francis.

    Die Liebe zu den Schafen ist erst später gekommen. Auf den Wolf sind beide nicht gut zu sprechen. Und auf die Naturschützer des Nationalparks schon gar nicht, sagt Francis.

    "Sie haben sie hier ausgesetzt, 1992. Das jedenfalls behaupte ich, und da bin ich nicht der einzige. Die sind nicht über die Autobahn gekommen. Ich hatte nie sehr viele Schafe. Und ich bin immer gern in die Berge gegangen mit ihnen. Aber seitdem ich mein erstes Lamm gesehen habe, gerissen von einem Wolf – er hat es getötet am Hals. Und dann nicht mal gefressen, nur eine Schulter! Seitdem ist es vorbei mit der Freiheit."

    Francis nimmt einen Schluck Wein aus der Flasche. Er redet nicht gerne über das Thema. Eigentlich redet er überhaupt nicht gern. Seine selbstgedrehte Zigarette ist schon wieder ausgegangen.

    Liliane dagegen erzählt um so lieber. Sie raucht nicht, sie trinkt nicht, Gesundheit, sagt sie, ist das allerwichtigste in diesem Beruf. Seit sie mit Francis verheiratet ist, ist sie mit Leib und Seele Schäferin. Die Tiere, sagt sind, sind ihr fast genauso wichtig wie Mann und Sohn. Schon eins zu verkaufen, fällt ihr schwer. Aber das muss sein sagt sie, das gehört dazu.

    "Der Wolf ist für uns ein großes Problem, ohne ihn haben wir besser gelebt. Früher konnten wir unsere Schafe rauf in die Berge zur Sommerfrische schicken, sie konnten fressen, was sie wollten. Das geht nicht mehr. Nachts müssen wir sie einsperren – und tagsüber müssen wir auch immerfort hinter ihnen herlaufen und aufpassen, daß kein Wolf kommt. Wir haben immer noch schöne Lämmer, aber sie sind nicht mehr soviel wert: weil sie nicht mehr dasselbe fressen können wie früher. Und für uns hat sich natürlich auch vieles geändert: ich mache meine Arbeit wirklich gerne, aber irgendwann ist Schluss. Tag und Nacht bei den Schafen zu sein, das kann doch keiner von mir verlangen. Niemand schläft in seinem Büro! Man muss doch auch noch ein Leben haben!"

    Sie lehnt sich auf ihren Schäferstock. Das Hüten, sagt sie, ist ja längst nicht alles. Sie muss sich um den Haushalt kümmern, einkaufen gehen, die Finanzen verwalten – und wenn die Schafe lammen, ist sie die ganze Nacht auf. Beklagen tut sie nicht über die Arbeit, schon gar nicht an einem Sommertag wie diesem. Und prinzipiell hat sie auch nichts gegen Wölfe.

    "Wenn sie den Kinder den Wolf zeigen wollen, dann sollen sie doch ein schönes Gehege bauen und ihn reinsetzen. Dann muss er nicht unsere Schafe fressen. Natürlich ist der Wolf ein Teil der Natur. Aber ich denke, unsere Großeltern und unsere Urgroßeltern waren nicht dümmer als wir heute. Und sie hatten ihre Gründe, warum sie die Wölfe ausgerottet haben. Meiner Meinung nach jedenfalls gibt es keinen Grund, sie wieder hierher zurückzubringen!"

    Voiou ist einer der drei Hütehunde der Loques, ein flinker schwarzweißer Bordercollie, der eifrig um die Herde herumrennt und sie immer wieder zusammentreibt. Einen großen Schutzhund, wie ihn sich viele Schäfer angeschafft haben, als Schutz vor dem Wolf, den haben sie nicht. Weil sie ihn nicht mögen.

    "Ich habe Angst vor den Patous. Sie sind riesengroß, wachsen auf wie ein Schaf, mitten in der Herde und sind so gezüchtet, daß sie die Schafe gegen jeden Angreifer verteidigen. An Menschen sind sie eigentlich gar nicht gewöhnt. Sie hören nicht, sie arbeiten nicht – das ist mir unheimlich."

    Francis stößt einen hohen Ruf aus. Und noch einen. Das Zeichen für die Schafe zum Aufbruch: vor der Mittagshitze sollen sie oben sein.

    "Jeder Schäfer hat seinen ganz persönliche Art, die Schafe zu rufen. Und die Schafe kennen seine Stimme. Genau wie wir die Schafe erkennen, am Klang ihrer Glocke."

    Liliane nimmt noch einen Schluck aus der Wasserflasche, setzt sich den Rucksack auf den Rücken und folgt Mann, Hunden und Herde. Hinauf, auf den Berg.