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"Ohne die Hilfe der Älteren haben wir Jungen keine Chance"

Die Alten lassen zu, dass die Jungen die Folgekosten der 68er-Befreiung tragen müssen, klagt die französische Aktivistin Ophélia Latil in ihrer Antwort auf Karl-Markus Gauß. Heute sei das Individuum frei - so frei, dass jeder Einzelne alles hinter sich lassen könne. Sogar die Verantwortung für andere.

05.08.2011
    Lieber Karl-Markus,

    Sie haben Recht: Wir haben heute unglaublich weitreichende kulturelle Freiheiten. Aber wir leben unter so großen wirtschaftlichen und sozialen Zwängen, dass wir heute ganz andere Forderungen stellen als Sie früher.

    Die Revolution der 68er, unserer Eltern, zielte darauf ab, Tabus zu brechen und Verbote auszuhebeln: Denn das Individuum ist frei! So frei, dass jeder Einzelne alles hinterfragen und hinter sich lassen kann - sogar die Verantwortung für andere. Was zählt, ist allein die Freiheit.

    Von dieser Freiheit habt Ihr in Eurer Jugend profitiert. Heute scheint Euch das Renteneintrittsalter wichtiger zu sein als die Zukunft Eurer Kinder. Und selbst, wenn wir Euch leid tun, lasst Ihr doch zu, dass wir, die Jungen, die Folgekosten Eurer großen 68-Befreiung tragen müssen. Stimmt: Wir sind keine Revolutionäre. Und ich werde Sie schockieren: Unsere Forderungen sind materialistisch!

    Ich gehöre dem Kollektiv "Jeudi Noir" an, das gegen die schreiende Wohnungsnot von Studenten und jungen Erwachsenen kämpft. Unser Slogan lautet: "Um träumen zu können, muss man wissen, wo man schläft."

    Also noch einmal: Ohne die Hilfe der Älteren haben wir Jungen keine Chance. Mittlerweile droht auch der gesamten Mittelschicht der soziale Abstieg. Die Angst vor der Armut ist ziemlich konkret geworden und hat weite Teile der Gesellschaft erfasst. Aber wem sollen wir unsere Forderungen eigentlich stellen?

    Unseren Volksvertretern? Wir respektieren sie nicht mehr, weil sie korrumpiert sind und sich nicht für uns interessieren.

    Dem Staat? Er ist doch gar nicht mehr legitimiert, weil er sich so weit von den Sorgen und Nöten so vieler Menschen entfernt hat.

    Unseren Familien? Sie sind doch schon längst auseinandergebrochen und dem Individualismus geopfert worden.

    Der Religion? Sie ist keine Zuflucht mehr! Kann uns also nur noch Harry Potter zum Träumen bringen? Wir haben das Vertrauen in die Zukunft verloren!

    Vor lauter Angst merken wir gar nicht, wie die kulturellen Freiheiten immer weiter untergraben werden. Wir haben Angst vor wirtschaftlicher Abhängigkeit und Arbeitslosigkeit. Vor der Macht der Wirtschaft und der Staatsgewalt: Mit Tränengas vertreibt sie uns, die Jungen, die sich empören, wenn wir auf dem Platz der Bastille demonstrieren.

    Tatsächlich rühren wir uns viel zu wenig, weil wir Angst haben, auch noch das Wenige, das wir erreicht haben, zu verlieren. Wir gleichen dem Frosch, der sich im warmen Wasser tummelt und viel zu spät merkt, dass er im Kochtopf sitzt.

    Was wir brauchen, ist eine Reform, die diesen Namen wirklich verdient. Eine Gesellschaftsreform. Für die Alten. Und für die Jungen. Und für die, die Verantwortung tragen. Wir fordern Gerechtigkeit. Wir fordern ethische Maßstäbe, die für alle gleichermaßen gelten. Nicht nur für die da unten, denen ohnehin nichts anderes übrig bleibt. Sondern auch für da oben, die die Macht und die Mittel haben, wirklich etwas zu verändern. Den Wandel müssen alle mittragen, auch wir Jungen. Aber jetzt seid zuallererst Ihr in der Pflicht!

    Ich grüße Sie herzlich

    Ihre Ophélie Latil

    Serie "Liebe Ophélie - lieber Karl-Markus"
    Jugendprotest in Europa. Ein Briefwechsel


    Zu hören wochentäglich vom 1. bis 10. August 2011 im Deutschlandfunk in der Sendung "Europa heute" ab 9:10 Uhr und die Wiederholung um 14:35 Uhr in "Campus & Karriere".